Fjodor Dostojewski
Der lebenslängliche Ehemann
Fjodor Dostojewski

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III

Pawel Pawlowitsch Trussozki

Dieser blieb sprachlos an seinem Fleck stehen. Beide standen einander an der Schwelle gegenüber, und beide blickten einander, ohne sich zu rühren, in die Augen. So vergingen mehrere Sekunden, und auf einmal erkannte Weltschaninow seinen Gast!

Gleichzeitig merkte offenbar auch der Gast, daß Weltschaninow ihn vollständig wiedererkannt hatte: Das sah man an dem Aufleuchten seines Blickes. In einem einzigen Momente zerschmolz gleichsam sein ganzes Gesicht zu einem überaus süßen Lächeln.

»Ich habe wohl das Vergnügen, mit Alexej Iwanowitsch zu sprechen?« sagte er in einem singenden, einschmeichelnden Tone, der zu der ganzen Situation in einem geradezu komischen Widerspruche stand.

»Sind Sie wirklich Pawel Pawlowitsch Trussozki?« sagte endlich auch Weltschaninow mit verdutztem Gesichte.

»Wir waren vor neun Jahren in T. miteinander bekannt und, wenn anders Sie mir gestatten, Sie daran zu erinnern, sogar befreundet.«

»Jawohl . . . freilich . . . aber jetzt ist es drei Uhr in der Nacht, und Sie haben ganze zehn Minuten lang herumprobiert, ob bei mir zugeschlossen sei oder nicht . . .«

»Drei Uhr!« rief der Gast, indem er die Uhr herauszog, 33 erstaunt und sogar ordentlich betrübt. »Wahrhaftig: drei Uhr! Verzeihen Sie mir, Alexej Iwanowitsch; ich hätte mir das, bevor ich hereinkam, überlegen sollen; ich schäme mich geradezu. Ich werde nächster Tage einmal herankommen, um dieses und jenes mit Ihnen zu besprechen; aber jetzt . . .«

»O, nicht doch; wenn Sie schon etwas mit mir zu reden haben, dann möchte ich Sie bitten, es jetzt gleich zu tun!« fiel ihm Weltschaninow ins Wort. »Bitte, treten Sie näher, kommen Sie ins Zimmer! Sie beabsichtigten ja doch gewiß selbst, ins Zimmer hereinzukommen, und werden sich nicht bloß deswegen bei Nacht herbegeben haben, um das Türschloß zu probieren . . .«

Er war aufgeregt und zugleich gewissermaßen verblüfft; er fühlte, daß er mit sich nicht zurecht kommen konnte. Er schämte sich sogar: Es lag gar kein Geheimnis und gar keine Gefahr vor; nichts war von dem ganzen Zauberspuk übriggeblieben; nur die dumme Gestalt so eines Pawel Pawlowitsch stand vor ihm. Indessen glaubte er keineswegs, daß die Sache so einfach liege; er war von einem undeutlichen ängstlichen Vorgefühl erfüllt. Nachdem er den Gast auf einem Lehnstuhl hatte Platz nehmen lassen, setzte er sich ungeduldig auf sein Bett, einen Schritt von dem Lehnstuhl entfernt, beugte er sich ein wenig vor, stützte sich mit den Handflächen auf die Knie und wartete in gereizter Stimmung, wann der andere anfangen würde zu reden. Er betrachtete ihn eifrig und suchte seine Erinnerungen zu beleben. Aber seltsam: Jener schwieg und schien gar kein Verständnis dafür zu haben, daß es »seine Pflicht« war, das Gespräch zu beginnen; vielmehr sah er seinen Wirt seinerseits mit einem Blicke an, als erwarte er von diesem etwas. Vielleicht war er einfach schüchtern und fühlte sich zunächst gewissermaßen unbehaglich wie die Maus in der Falle; aber Weltschaninow wurde ärgerlich:

»Was wollen Sie denn nun eigentlich?« rief er. »Sie sind ja doch, möchte ich meinen, kein Produkt meiner Phantasie und kein Traumgebilde! Sind Sie etwa hergekommen, um hier eine Leiche zu spielen? Sprechen Sie, Verehrtester!« 34

Der Gast bewegte sich hin und her, lächelte und begann vorsichtig:

»Soviel ich sehe, befremdet es Sie vor allem, daß ich zu solcher Stunde . . . und unter solchen besonderen Umständen gekommen bin . . . Aber in Erinnerung an alles Vergangene und an die Art unseres Abschiedes voneinander . . . Übrigens hatte ich gar nicht die Absicht, zu Ihnen heranzukommen, und wenn es doch geschehen ist, so hat es sich nur zufällig so gemacht . . .«

»Wie können Sie sagen, es hätte sich nur zufällig so gemacht? Und dabei habe ich doch durchs Fenster gesehen, wie Sie auf den Zehen über die Straße herüberliefen!«

»Ah, das haben Sie gesehen! Nun, dann wissen Sie am Ende jetzt von alledem mehr als ich selbst! Aber ich bringe Sie nur auf . . . Also die Sache ist die: Ich bin schon vor drei Wochen in einer persönlichen Angelegenheit hierhergereist . . . Ich bin ja Pawel Pawlowitsch Trussozki; Sie haben mich ja selbst erkannt. Meine Angelegenheit besteht darin, daß ich mich um meine Versetzung in ein anderes Gouvernement und in ein anderes Ressort und in eine Stelle mit erheblich höherem Gehalte bemühe . . . Indessen, von alledem wollte ich eigentlich nicht reden! . . . Die Hauptsache, wenn Sie es wissen wollen, ist, daß ich mich hier nun schon seit drei Wochen herumtreibe und, wie es scheint, meine Angelegenheit, das heißt die Sache mit meiner Versetzung, selbst absichtlich in die Länge ziehe. Und wirklich, wenn meine Versetzung erfolgen sollte, so werde ich womöglich selbst vergessen, daß sie erfolgt ist, und werde Ihr Petersburg nicht verlassen . . . in der Gemütsverfassung, in der ich mich befmde! . . .«

»Was ist denn das für eine Gemütsverfassung?« fragte Weltschaninow verdrießlich.

Der Gast blickte zu ihm auf, hob den Hut in die Höhe und wies auf den Trauerflor; sein Gesicht trug in diesem Augenblicke den Ausdruck eines würdigen Ernstes.

»Da sehen Sie, in was für einer Gemütsverfassung ich mich befinde!«

Weltschaninow blickte verständnislos bald auf den 35 Trauerflor, bald in das Gesicht seines Gastes. Auf einmal ergoß sich eine schnelle Röte über seine Wangen, und er fragte in starker Aufregung:

»Doch nicht etwa Natalja Wassiljewna?«

»Allerdings, Natalja Wassiljewna! Im März dieses Jahres . . . Sie hatte die Schwindsucht, und es kam fast plötzlich, in zwei, drei Monaten! Und ich bin zurückgeblieben – wie Sie sehen!«

Nach diesen Worten breitete der Gast in starkem Affekte die Arme nach beiden Seiten auseinander, wobei er seinen Hut mit dem Trauerflor frei in der linken Hand hielt und seinen Kopf mit der Glatze tief herabhängen ließ; in dieser Haltung verharrte er mindestens zehn Sekunden lang.

Der Anblick dieser Geste wirkte auf Weltschaninow gewissermaßen abkühlend; ein spöttisches, ja höhnisches Lächeln glitt über seine Lippen, aber allerdings nur für einen Augenblick: Die Nachricht von dem Tode dieser Dame, mit der er vor so langer Zeit bekannt gewesen war, und die er schon seit so langer Zeit vergessen gehabt hatte, brachte auf ihn jetzt einen außerordentlich erschütternden Eindruck hervor.

»Ist es möglich!« murmelte er, das erste, was ihm gerade auf die Zunge kam. »Warum sind Sie denn aber nicht ohne weiteres zu mir gekommen, um es mir mitzuteilen?«

»Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme; ich sehe und schätze diese, trotzdem . . .«

»Trotzdem?«

»Trotzdem so viele Jahre der Trennung dazwischenliegen, haben Sie soeben eine so aufrichtige Teilnahme für meinen Schmerz und sogar für meine Person bewiesen, daß ich selbstverständlich Dankbarkeit empfinde. Nur das ist es, war ich zum Ausdruck bringen wollte. Nicht etwa als ob ich an meinen Freunden zweifelte; ich kann auch hier, sogar auf der Stelle, sehr aufrichtige Freunde finden (ich nenne zum Beispiel nur Stepan Michailowitsch Bagautow); aber seit meiner Bekanntschaft mit Ihnen, Alexej Iwanowitsch (ich könnte vielleicht sogar sagen Freundschaft; denn ich gedenke unserer Beziehungen mit großer Erkenntlichkeit), sind ja 36 doch schon neun Jahre verflossen, und Sie sind nie wieder zu uns gekommen, und eine Korrespondenz zwischen uns hat auch nicht stattgefunden . . .«

Der Gast sprach in so singendem Tone, als ob er ein Notenblatt vor sich hätte, blickte aber die ganze Zeit über, während er redete, zu Boden, allerdings in der Weise, daß er dazwischen häufig kurz aufsah. Aber auch der Wirt hatte bereits einigermaßen seine Fassung wiedergewonnen.

Mit einer ganz eigentümlichen Empfindung, die sich immer mehr steigerte, betrachtete er Pawel Pawlowitsch und hörte ihm zu, und auf einmal kamen ihm, als dieser innehielt, die buntesten Gedanken unerwarteterweise in den Kopf.

»Wie ist es nur zugegangen, daß ich Sie bisher nicht erkannt habe?« rief er lebhaft. »Wir sind ja doch etwa fünfmal auf der Straße zusammengetroffen!«

»Ja, auch ich erinnere mich; Sie tauchten ein paarmal vor mir auf, zweimal oder vielleicht auch dreimal . . .«

»Das heißt, Sie waren es, der vor mir auftauchte, nicht ich vor Ihnen!«

Weltschaninow stand auf und fing auf einmal in überraschender Weise an laut zu lachen. Pawel Pawlowitsch schwieg ein Weilchen, sah den anderen aufmerksam an, fuhr dann aber sogleich wieder fort:

»Daß Sie mich nicht erkannten, ist ja ganz natürlich; erstens konnten Sie mein Gesicht in so langer Zeit sowieso vergessen, und dann habe ich auch seitdem die Pocken gehabt, und die haben einige Spuren in meinem Gesicht zurückgelassen.«

»Die Pocken? Hat er wahrhaftig auch noch die Pocken gehabt! Nein, wie Ihnen das . . .«

»In die Bude geregnet hat? Ja, was passiert nicht alles auf der Welt, Alexej Iwanowitsch! Manchmal regnet's einem auch in die Bude!«

»Es ist nur furchtbar komisch. Na, fahren Sie fort, fahren Sie fort, lieber Freund!«

»Obwohl ich Ihnen begegnet bin . . .« 37

»Warten Sie mal! Warum sagten Sie soeben: ›in die Bude regnen‹? Ich wollte mich weit höflicher ausdrücken. Na, fahren Sie fort, fahren Sie fort!«

Er wurde merkwürdigerweise immer heiterer. Der erschütternde Eindruck war von einem anderen Gefühle ganz und gar abgelöst worden.

Mit schnellen Schritten ging er im Zimmer auf und ab.

»Obwohl ich Ihnen begegnet bin und sogar bei meiner Reise hierher, nach Petersburg, die Absicht hatte, Sie jedenfalls hier aufzusuchen, so befinde ich mich doch, wie ich wiederhole, jetzt in einer solchen Gemütsverfassung . . . und bin seit dem März seelisch so zerschlagen . . .«

»Ach ja! Sie sind seit dem März seelisch zerschlagen . . . Warten Sie mal, rauchen Sie nicht?«

»Sie wissen ja, daß ich zu Natalja Wassiljewnas Lebzeiten . . .«

»Na ja, na ja; aber seit dem März?«

»Höchstens eine Zigarette.«

»Da ist eine Zigarette; zünden Sie sie sich an, und . . . fahren Sie fort! Fahren Sie fort; Ihre Mitteilungen interessieren mich außerordentlich!«

Weltschaninow zündete sich eine Zigarette an und setzte sich schnell wieder auf das Bett. Pawel Pawlowitsch schwieg eine kleine Weile,.

»Aber in was für einer Aufregung befinden Sie sich denn selbst? Sind Sie auch nicht krank?« fragte er.

»Ach, was schert uns hier meine Gesundheit!« rief Weltschaninow ärgerlich. »Fahren Sie fort!«

Seinerseits wurde der Gast, als er die Aufregung des Wirtes wahrnahm, immer zufriedener und selbstbewußter.

»Ja, was soll ich noch weiter erzählen?« begann er von neuem. »Stellen Sie sich, Alexej Iwanowitsch, erstens einen niedergeschlagenen Menschen vor, das heißt nicht so im gewöhnlichen Sinne niedergeschlagen, sondern sozusagen vollständig niedergeschmettert; einen Menschen, der nach zwanzigjähriger Ehe seine ganze Lebensweise ändert und sich auf den staubigen Straßen ohne rechtes Ziel umhertreibt, wie wenn er sich in der öden Steppe befände, beinah 38 selbstvergessen und in dieser Selbstvergessenheit sogar einen gewissen Genuß findend. Unter diesen Umständen ist es nur natürlich, daß, wenn ich manchmal einem Bekannten oder selbst einem aufrichtigen Freunde begegne, ich ihn absichtlich vermeide, um nicht in einem solchen Augenblicke mit ihm ins Gespräch zu kommen, ich meine in einem Augenblicke der Selbstvergessenheit. Aber dann hat man wieder andere Augenblicke, in denen man sich so lebhaft an alles erinnert und so danach dürstet, wenigstens einen Zeugen und Teilnehmer der noch nicht so weit zurückliegenden, aber unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit zu sehen, und das Herz klopft einem dabei so heftig, daß man nicht nur bei Tage, sondern auch bei Nacht sich in die Arme eines Freundes werfen möchte, müßte man ihn auch zu diesem Zwecke expreß um drei Uhr nachts aufwecken. Ich habe mich nur in der Zeit geirrt, sehen Sie, aber nicht in der Freundschaft; denn in diesem Augenblicke bin ich völlig belohnt worden. Was aber die Zeit anlangt, so habe ich wirklich gedacht, es wäre noch nicht zwölf, eine Folge meiner Gemütsverfassung. Man trinkt seinen eigenen Gram und betrinkt sich gleichsam an ihm. Und was mich quält, ist nicht einmal der Kummer, sondern eigentlich der neue Zustand . . .«

»Wie Sie sich nur ausdrücken!« bemerkte Weltschaninow düster; er war auf einmal wieder sehr ernst geworden.

»Ja, ich drücke mich wirklich sonderbar aus . . .«

»Und Sie . . . treiben keinen Scherz?«

»Scherz treiben!« rief Pawel Pawlowitsch trübe und erstaunt. »Und in demselben Augenblicke, in dem ich Ihnen mitteile . . .«

»Ach, schweigen Sie doch davon; ich bitte Sie!«

Weltschaninow stand auf und begann wieder im Zimmer umherzugehen.

So vergingen etwa fünf Minuten. Der Gast machte Miene, sich ebenfalls zu erheben; aber Weltschaninow rief:

»Bleiben Sie sitzen, bleiben Sie sitzen!« und dieser sank sofort wieder gehorsam in den Sessel zurück.

»Aber wie Sie sich verändert haben!« begann wieder 39 Weltschaninow, indem er, wie wenn er von diesem Gedanken plötzlich überrascht worden wäre, unerwartet vor ihm stehen blieb. »Ganz gewaltig haben Sie sich verändert! Außerordentlich! Sie sind ein ganz anderer Mensch geworden!«

»Kein Wunder: die neun Jahre!«

»Nein, nein, nein, die Jahre haben das nicht gemacht! Äußerlich haben Sie sich noch nicht einmal so übermäßig verändert; die Veränderung steckt in etwas anderem!«

»Auch das haben vielleicht die neun Jahre bewirkt.«

»Oder die Veränderung schreibt sich vielleicht vom März her!«

»He-he!« lächelte Pawel Pawlowitsch schlau; »Sie haben dabei irgendeinen scherzhaften Hintergedanken . . . Aber wenn ich mir die Frage erlauben darf: Worin besteht denn eigentlich die Veränderung?«

»Ja, was soll ich da sagen? Früher war da so ein gesetzter, anständiger Pawel Pawlowitsch, so ein netter, artiger Pawel Pawlowitsch; aber jetzt ist dieser Pawel Pawlowitsch ein rechter vaurien

Seine Gereiztheit war bis zu jenem Grade gestiegen, bei dem sogar Leute, die für gewöhnlich sich gut zu beherrschen verstehen, manchmal anfangen Ungehörigkeiten zu reden.

»Ein vaurien! Finden Sie das? Und nicht mehr so nett und artig?« fragte Pawel Pawlowitsch, vor Vergnügen kichernd.

»Ach was, nett und artig! Jetzt scheinen Sie sehr klug und verständig geworden zu sein.« Und bei sich dachte Weltschaninow: »Ich bin unverschämt; aber diese Kanaille ist noch unverschämter! Was mag der Kerl nur im Schilde führen?«

»Ach, liebster Freund, ach, teuerster Alexej Iwanowitsch!« begann der Gast auf einmal in gefühlvollem Tone und drehte sich dabei auf seinem Sessel hin und her. »Was machen wir denn nur? Wir befinden uns ja doch jetzt nicht unter andern Leuten, nicht in einer vornehmen, glänzenden Gesellschaft! Wir sind zwei ehemalige aufrichtige, alte 40 Freunde und sind sozusagen in vollster Aufrichtigkeit zusammengekommen und gedenken beide jenes herrlichen Freundschaftsverhältnisses, in welchem die Verstorbene ein so wertvolles Bindeglied bildete!«

Er schien von seinen entzückten Empfindungen so hingerissen zu sein, daß er wieder wie vorher den Kopf neigte; das Gesicht verdeckte er diesmal mit dem Hute. Weltschaninow betrachtete ihn voller Widerwillen und Unruhe.

»Ob er nicht am Ende einfach ein Narr ist?« ging es ihm durch den Kopf. »Aber n‑nein, n‑nein! Betrunken scheint er nicht zu sein – übrigens ist er vielleicht auch betrunken: Er hat ein rotes Gesicht. Aber mag er auch betrunken sein, das kommt alles auf eins heraus. Worauf steuert er nur hin? Was will diese Kanaille?«

»Denken Sie wohl noch, denken Sie wohl noch«, rief Pawel Pawlowitsch, der allmählich den Hut vom Gesichte fortzog und anscheinend immer mehr in den Bann seiner Erinnerungen geriet, »denken Sie wohl noch an unsere Landpartien, an unsere größeren und kleineren Abendgesellschaften mit Tanz und unschuldigen Spielen bei Seiner Exzellenz dem gastfreundlichen Semjon Semjonowitsch? Und an unsere Leseabende zu dreien? Und an meine erste Bekanntschaft mit Ihnen, wie Sie eines Morgens zu mir kamen, um in Ihrer Prozeßangelegenheit Erkundigungen einzuziehen, und sogar ordentlich heftig wurden und auf einmal Natalja Wassiljewna hereintrat und Sie in Zeit von zehn Minuten bereits unser intimster Hausfreund für ein ganzes Jahr wurden – genau so wie in Herrn Turgenjews Lustspiel ›Die Provinzlerin‹? . . .«

Weltschaninow ging langsam auf und ab, blickte auf den Fußboden und hörte voller Ungeduld und Widerwillen, aber sehr aufmerksam zu.

»Ich habe nie an die ›Provinzlerin‹ gedacht«, unterbrach er ihn etwas verlegen, »und Sie haben früher nie in einem so weinerlichen Tone und in einem so . . . gekünstelten Stile gesprochen. Wozu das alles?«

»Ich habe allerdings früher mehr geschwiegen, das heißt, ich war schweigsamer«, erwiderte Pawel Pawlowitsch 41 eilfertig. »Sie wissen, ich liebte es früher mehr, zuzuhören, wenn die Verstorbene sprach. Sie erinnern sich wohl noch, wie geistreich sie eine Unterhaltung zu führen verstand . . . Was aber die ›Provinzlerin‹ und speziell Stupendjew anlangt, so haben Sie auch darin recht; denn wir, die teure Entschlafene und ich, haben erst später, als Sie bereits abgereist waren, wenn wir uns in stillen Stunden Ihrer erinnerten, Ihr erstes Eintreten bei uns mit diesem Theaterstück verglichen . . . da ja die Ähnlichkeit wirklich eine recht große ist. Und was speziell Stupendjew betrifft . . .«

»Hol's der Teufel, was ist das für ein Stupendjew?« rief Weltschaninow und stampfte sogar mit dem Fuße; denn infolge einer beunruhigenden Erinnerung, die ihm bei dem Worte Stupendjew durch den Kopf ging, war er in starke Aufregung geraten.

»Stupendjew, das ist eine Rolle, eine Theaterrolle, die Rolle des Ehemannes in dem Lustspiele ›Die Provinzlerin‹«, erwiderte Pawel Pawlowitsch im süßesten singenden Tone. »Aber das gehört schon in eine andere Reihe unserer schönen, teuren Erinnerungen hinein, schon nach Ihrer Abreise, als Stepan Michailowitsch Bagautow uns mit seiner Freundschaft beehrte, ganz so wie Sie, und zwar ganze fünf Jahre lang.«

»Bagautow? Wer ist das? Was für ein Bagautow?« fragte Weltschaninow, indem er auf einmal wie angenagelt stehen blieb.

»Bagautow, Stepan Michailowitsch Bagautow, der uns gerade ein Jahr nach Ihnen mit seiner Freundschaft beehrte und . . . ebenso wie Sie.«

»Ach, mein Gott, den kenne ich ja!« rief Weltschaninow, der endlich seine Gedanken gesammelt hatte. »Bagautow! Ja, der ist ja in Ihrer Stadt angestellt gewesen . . .«

»Gewiß, gewiß! Beim Gouverneur! Aus Petersburg, ein sehr eleganter, der besten Gesellschaft angehöriger junger Mann!« rief Pawel Pawlowitsch geradezu entzückt.

»Ja, ja, ja! Wie konnte ich nur erst noch fragen! Also der auch . . .«

»Ja, der auch, der auch!« wiederholte Pawel Pawlowitsch 42 immer noch in demselben Tone des Entzückens, indem er das unvorsichtige Wort des Wirtes aufgriff; »der auch! Sehen Sie, wir führten die ›Provinzlerin‹ auf der Hausbühne bei Seiner Exzellenz dem gastfreundlichen Semjon Semjonowitsch auf; Stepan Michailowitsch spielte den Grafen, ich den Ehemann und die Verstorbene die Provinzlerin; nur wurde die Rolle des Ehemannes mir auf den dringenden Wunsch der Verstorbenen wieder abgenommen, weil ich dazu unfähig sei; so habe ich denn schließlich den Ehemann nicht gespielt . . .«

»Aber zum Teufel, Sie sind doch auch kein Stupendjew! Sie sind vor allen Dingen Pawel Pawlowitsch Trussozki, und nicht Stupendjew«, rief Weltschaninow grob und ungeniert; er zitterte beinahe vor Erregung. »Aber erlauben Sie: Dieser Bagautow ist doch hier, in Petersburg; ich habe ihn selbst gesehen, im Frühjahr habe ich ihn gesehen! Warum gehen Sie denn nicht auch zu ihm?«

»Alle Tage gehe ich hin, alle Tage, schon drei Wochen lang. Aber er empfängt mich nicht! Er ist krank und kann niemanden empfangen! Und denken Sie sich, ich habe aus bester Quelle erfahren, daß er wirklich sehr gefährlich krank ist! So ein guter Freund, mit dem man fünf Jahre lang zusammengelebt hat! Ach, Alexej Iwanowitsch, ich kann Ihnen nur wiederholen: Ich befinde mich manchmal in einer solchen Gemütsverfassung, daß ich in die Erde versinken möchte, wahrhaftig; und ein andermal möchte ich am liebsten ohne weiteres einen Menschen umarmen, und besonders einen jener früheren sozusagen Augenzeugen und Teilnehmer, einzig und allein, um mich auszuweinen, das heißt zu keinem andern Zwecke, als um mich auszuweinen! . . .«

»Na, aber für heute sind Sie ja wohl lange genug hier gewesen, nicht wahr?« fragte Weltschaninow in scharfem Tone.

»Sehr genug, sehr genug!« erwiderte Pawel Pawlowitsch und erhob sich sogleich von seinem Platze. »Es ist vier Uhr, und was die Hauptsache ist, ich habe Sie in so selbstischer Weise belästigt . . .« 43

»Hören Sie mal, ich werde selbst zu Ihnen kommen, ganz bestimmt, und dann hoffe ich . . . Sagen Sie mir offen und ehrlich: Sind Sie heute nicht betrunken?«

»Betrunken? Keine Spur . . .«

»Haben Sie nicht, bevor Sie herkamen, etwas getrunken, oder auch schon früher?«

»Wissen Sie, Alexej Iwanowitsch, Sie haben ein richtiges Fieber.«

»Gleich morgen werde ich zu Ihnen kommen, am Vormittag, jedenfalls vor ein Uhr . . .«

»Ich habe schon lange bemerkt, daß Sie wie im Fieber reden«, unterbrach ihn Pawel Pawlowitsch, der mit besonderem Genusse auf diesen Punkt zurückkam. »Ich schäme mich wirklich, daß ich durch meinen unschicklichen Besuch . . . aber ich gehe, ich gehe! Sie aber sollten sich hinlegen und sich ausschlafen!«

»Aber Sie haben mir ja gar nicht gesagt, wo Sie wohnen!« rief Weltschaninow, dem das plötzlich einfiel, ihm nach.

»Habe ich es nicht gesagt? In dem Gasthofe bei der Kirche zu Mariä Fürbitte.«

»Wo ist das?«

»Dicht bei der Kirche zu Mariä Fürbitte, da in einer Seitenstraße – ich habe vergessen, wie sie heißt, und auch die Nummer habe ich vergessen; aber es ist ganz nahe bei der Kirche . . .«

»Ich werde schon hinfinden.«

»Sie werden mir sehr willkommen sein.«

Er war schon auf die Treppe hinausgegangen.

»Halt!« rief Weltschaninow wieder. »Sie werden doch nicht ausreißen?«

»Wie meinen Sie das, ›ausreißen‹?« fragte Pawel Pawlowitsch. Er drehte sich von der dritten Treppenstufe noch einmal um, riß die Augen weit auf und lächelte.

Statt einer Antwort schlug Weltschaninow geräuschvoll die Tür zu, verschloß sie sorgfältig und legte den Haken in die Öse. In das Zimmer zurückgekehrt, spuckte er aus, wie wenn er sich an etwas beschmutzt hätte.

Etwa fünf Minuten lang stand er ohne sich zu rühren mitten 44 im Zimmer; dann warf er sich mit den Kleidern auf das Bett und war im nächsten Augenblick eingeschlafen. Die Kerze, die er vergessen hatte, brannte auf dem Tische vollständig herunter.

 


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