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I.

Antwerpen ist eine liebenswürdige Stadt, die Antwerpner sind fast durchgängig höchst angenehme Leute, aber unausstehlich sind die Antwerpner Vigilantenkutscher.

Für's Erste prellen sie wirklich mehr als es erlaubt ist. Es kommt fast nie vor, daß einer von ihnen nicht mehr verlangte, als er zu verlangen hätte, und zwar von Einheimischen ebenso gut, wie von Fremden. Dann kennen sie die Stadt schlecht, wissen höchst selten, wo Jemand wohnt, verstehen sehr wenig Französisch und sprechen ein so unglaublich schlechtes Patois Patois, ein linguistisch nicht formal definierter Begriff, bezieht sich im umgangssprachlichen Gebrauch des Französischen auf jeden Soziolekt, der mit ungebildeten ländlichen Klassen verbunden ist, im Gegensatz zu dem von der Mittel- und Oberschicht der Städte gesprochenen Standardfranzösisch., daß man sich selbst auf Vlämisch nur äußerst mühsam mit ihnen verständigen kann.

Die Hofräthin Herrmann, welche nebst ihrer Tochter an einem schönen Aprilnachmittag 1858 mit dem Zuge von drei Uhr fünfunddreißig Minuten zum ersten Male nach Antwerpen gekommen war, machte sogleich diese unangenehme Erfahrung.

Sie wollte nach einem gewissen Hause in einer gewissen Straße, bewohnt von einem gewissen deutschen Kaufmann, an welchen ein Freund in Dresden ihr einen Brief mitgegeben hatte. In der Meinung, daß in Belgien überall Französisch gesprochen werde, versuchte sie ihr Französisch an dem Kutscher – er verstand sie nicht. Ihr Französisch war nicht besonders gut, vor so und so viel Jahren in wer weiß welcher Schule erlernt, denn die Hofräthin war zwischen Vierzig und Fünfzig. Aber die Tochter, die nur zwanzig Jahr alt war und folglich ein moderneres Französisch sprach, versuchte mit ebenso wenig Erfolg dem Kutscher begreiflich zu machen, wohin sie wollten. Er schüttelte fortwährend den dicken Kopf unter dem flachen, schlaffen Hut, und die Vigilante stand unverrückt auf dem grünen Kirchhof unfern von dem Hôtel St. Antoine. Endlich wandte das junge Mädchen sich an die Mutter und fragte ruhig: »ob wir nicht lieber zuerst in einem Hôtel absteigen, Mutter?«

»Aber Du weißt's ja, wir wollten eben deßwegen zuerst zu dem Herrn, damit er uns ein gutes Hôtel empfehle, welches zugleich nicht zu theuer sei. Hier am grünen Platz – denn das muß der grüne Platz sein – soll es einem die Augen aus dem Kopfe kosten.«

»Für eine Nacht,« wandte die Tochter ein. »Und dann wird der Kutscher uns leichter begreifen, wenn wir ihn nach einem Hôtel fragen.«

Während sie so rathschlagten, ging ein junger Mann vorüber, den der Kutscher von Ansehen kannte. Er rief ihn an und bat ihn dringend, doch einmal zu fragen, was die beiden Engländerinnen wollten, mit denen er durchaus nicht zurecht kommen könne. Der junge Mann näherte sich dem Schlage und sich auf Englisch an die Mutter wendend, stellte er sich den Frauen auf das Artigste zur Verfügung.

Die Hofräthin sah ihre Tochter an. Diese nahm das Wort. »Meine Mutter versteht kein Englisch,« sagte sie, »wir sind Deutsche.« – »Desto besser,« antwortete mit einem muntern Lächeln der junge Mann.

Das junge Mädchen konnte sich nicht enthalten, ebenfalls zu lächeln. Dann theilte sie ihm mit, in welcher Verlegenheit sie sich befänden.

»Ich kenne den Herrn nicht, aber ich weiß das Haus,« sagte er, nichts leichter, als es zu finden.« Er wandte sich auf Vlämisch an den Kutscher und beschrieb ihm ganz genau wie er fahren sollte. Der Kutscher hörte mit der größten Aufmerksamkeit und mit dem besten Willen zu, aber er konnte es doch nicht begreifen, wo das Haus wäre. Lustig ungeduldig sagte der junge Mann: »Da bleibt mir nichts übrig, als Euch den Weg zu zeigen.« Er ging mit raschen, leichten Schritten voraus, der Kutscher fuhr, zufrieden mit sich selbst, hinterdrein. Man muß gestehen, daß der Kutscher leicht mit sich zufrieden war.

Binnen zehn Minuten kam die Vigilante vor dem Hause an, welches so schwer zu finden gewesen war. Der Kutscher stieg ab und schellte, die Hofräthin stattete ihrem artigen Führer eine etwas zu wortreiche Danksagung ab, die Tochter begnügte sich mit einer zierlichen Neigung des Kopfes. Der junge Mann blieb noch stehen, er dachte, die Frauen könnten seiner noch bedürfen. Und in der That war es so. Als das Haus endlich geöffnet wurde, was ziemlich lange währte, da fand es sich, daß der Herr in England und die Frau leidend, kurz, ein Mal mehr ein Empfehlungsbrief nutzlos war. Das Mädchen machte die Hausthür wieder zu, der Kutscher wartete phlegmatisch der Dinge, die da kommen sollten, und der junge Antwerpner näherte sich von Neuem und bot abermals seine Dienste an.

Die Hofräthin erschöpfte sich abermals in Danksagungen, indessen dabei erfuhr er nicht, was sie eigentlich nun wolle, die Tochter nahm mit einer frostigen Bestimmtheit, welche den jungen Mann unangenehm berührte, von Neuem das Wort und fragte nach einem Hôtel. Zurückhaltender als bisher nannte er das Hôtel Rubens. Die Mutter gerieth in Entzücken, daß sie in ein Hôtel kommen solle, welches nach dem »unsterblichen Meister« genannt sei. Zugleich lud sie den jungen Antwerpner ein, mit ihnen zurückzufahren. »Wenn der Weg nach Hôtel Rubens der des Herrn ist,« warf die Tochter dazwischen. – »Das ist so,« sagte er und stieg ein. Es war ihm, als müsse er diesem jungen Mädchen trotzen, welches ihm zuerst so freundlich zugelächelt hatte und ihn jetzt auf ein Mal so kalt ansah. »Ich möchte nur wissen, was ich ihr gethan habe,« dachte er, »eigentlich habe ich noch keine Zeit gehabt, ihr etwas zu thun. Denkt sie, ich habe mich auf der Straße ohne Weiteres in sie verliebt und wolle mich ihr sogleich aufdrängen? Davor ist sie sicher.« Und um ihr das zu beweisen, wandte er sich mit den gewöhnlichen Fragen, welche die Einheimischen an die Fremden thun, zu der Mutter.

Die Hofräthin hatte keine Geheimnisse. »Ich bin Wittwe,« sagte sie, »folglich, leider, unabhängig – Künstlerin und deßhalb hier. Einer unserer geistreichsten Schriftsteller, den Sie vermuthlich kennen,« (sie nannte ihn) »ein genauer Freund von mir, hat mir öfter gesagt, nur von Rubens könnte ich lernen, was Farbe sei. Ich habe in Düsseldorf studirt, aber man lernt nie aus – ich komme nach Antwerpen, um Rubens' Schülerin zu werden. Und auch um von Ihren jetzt lebenden großen Meistern zu lernen. Wappers, Gallait –«

»Gallait ist in Brüssel, Wappers in Paris,« sagte der junge Mann, aber wir haben Leys und De Keyser.«

»Und Sie kennen diese Herren?«

»Ich kenne so ziemlich alle Welt,« antwortete er, »wohlverstanden die artistische und die literarische. Was die große Welt betrifft, so kenne ich sie nicht,« setzte er heiter hinzu, »also –«

»O,« unterbrach die Hofräthin ihn lächelnd, »ich bin für den Augenblick nur Künstlerin.«

Das klang ein wenig wie Herablassung, auch war der junge Mann etwas betroffen, er wußte nicht recht, wie er diesen Ton aufnehmen sollte. Bevor er noch mit sich darüber in's Reine kommen konnte, fing die Tochter an, sich nach der Literatur in Antwerpen zu erkundigen. Um ihr zu antworten, wandte der junge Mann sich zu ihr und sah mit Befremden, daß sie jetzt ebenso glühend roth war, wie sie vorher blaß ausgesehen hatte. Diese Farbe verschwand jedoch bald wieder, und das regelmäßige Gesicht des jungen Mädchens erschien wie vorhin, bleich und rein. Sie sprach übrigens so ruhig, als hätte sie gar nicht die Farbe gewechselt. Ihre Fragen waren bestimmt und zeugten von viel Verstand, wurden jedoch mit so großer Kälte gethan, daß man nicht hätte entscheiden können, ob sie aus Interesse oder nur der Form wegen fragte. So viel ist gewiß, daß sie die Unterhaltung nicht eher fallen ließ, als bis der junge Mann sagte: »hier ist das Hôtel Rubens.« Es waren Zimmer zu bekommen, was in Antwerpen nicht immer der Fall ist. Der junge Mann half den Frauen heraus, die Mutter fragte ihn, ob sie ihn wiedersehen würden. »Gewiß,« antwortete er, »ich stehe ganz zu Ihren Diensten. Wann darf ich kommen?« – »Es ist so herrlich heute, daß wir gegen Abend noch ausgehen werden,« sagte die Hofräthin. – »Ich nicht, Mama,« sprach das junge Mädchen kalt und nachdrücklich. – »Ich bedaure sehr – für diesen Abend bin ich nicht frei,« beeilte sich der junge Mann zu sagen, »und da ich Redacteur bin, so habe ich außer an Sonntagen immer nur den Nachmittag zu meiner Verfügung. Wenn Sie mir morgen um fünf Uhr erlauben wollen –« Es wurde so verabredet; er überreichte der Mutter noch seine Karte; Hendrik Van Loon hieß er. Die Hofräthin wiederholte nochmals ihre Danksagungen, die Tochter grüßte artig, aber gehalten. Van Loon empfahl sich.


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