Alexander Dumas d. Ä.
Der Graf von Monte Christo. Fünfter Band.
Alexander Dumas d. Ä.

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Das Urteil.

Um acht Uhr morgens traf Albert bei Beauchamp wie der Blitz ein. Der Kammerdiener war unterrichtet; er führte Morcerf in das Zimmer seines Herrn.

Nun! sagte Albert zu ihm.

Armer Freund, ich erwarte Sie, erwiderte Beauchamp.

Hier bin ich. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, Beauchamp, daß ich Sie für zu rechtschaffen und zu gut halte, um mit irgend jemand hierüber gesprochen zu haben; nein, mein Freund. Überdies ist mir der Bote, den Sie mir schickten, ein Bürge für Ihre Zuneigung, Verlieren wir also keine Zeit mit Umschweifen! Haben Sie eine Ahnung, von welcher Seite dieser Schlag kommt?

Ich werde Ihnen sogleich zwei Worte sagen.

Doch vorher, Freund, müssen Sie mir alle Einzelheiten dieses abscheulichen Verrates mitteilen.

Beauchamp berichtete hierauf dem vor Scham und Schmerz niedergebeugten jungen Mann kurz folgendes.

Zwei Tage vorher war der Artikel in einer Zeitung erschienen, die unter dem Einfluß der Regierung stand, was der Sache noch mehr Gewicht verlieh. Beauchamp frühstückte, als ihm die Nachricht zu Gesicht kam; er eilte, ohne sein Mahl zu vollenden, in das Bureau der Zeitung. Obgleich der Redakteur eine andere politische Richtung vertrat wie Beauchamp, war er doch dessen vertrauter Freund.

Als er zu ihm kam, las der Redakteur sein eigenes Blatt.

Ah, bei Gott! rief Beauchamp, da Sie Ihre Zeitung in der Hand haben, mein lieber ***, so brauche ich Ihnen nicht zu sagen, was mich hierher führt.

Ich wüßte nicht; doch warum kommen Sie?

Wegen des Artikels über Morcerf.

Ah! ja; nicht wahr, das ist seltsam?

So seltsam, daß Sie sich der Gefahr aussetzen, einen sehr zweifelhaften Verleumdungsprozeß an den Hals zu bekommen.

Keineswegs; wir haben mit der Zuschrift alle Beweisstücke empfangen und sind fest überzeugt, daß Herr von Morcerf sich ruhig verhalten wird. Überdies heißt es dem Lande einen Dienst leisten, wenn man die Elenden bloßstellt, die der Ehre unwürdig sind, die man ihnen erweist.

Beauchamp war verblüfft.

Aber wer hat Sie denn so gut unterrichtet? fragte er, denn meine Zeitung, welche die Sache zuerst angeregt hatte, mußte sie in Ermangelung von Beweisen fallen lassen, und wir sind doch mehr dabei interessiert, als Sie, Herrn von Morcerf an den Pranger zu stellen, da er Pair von Frankreich ist und wir die Regierung angreifen.

Lieber Freund, wir sind dem Skandal nicht nachgelaufen, er hat uns aufgesucht. Es kam gestern ein Mensch von Janina an, der den ganzen Aktenstoß mitbrachte, und als wir Anstand nahmen, die Anklage gegen den Grafen zu erheben, bemerkte er, er werde sich an eine andere Zeitung wenden. Sie wissen, Beauchamp, was eine wichtige Nachricht ist; wir wollten uns diese nicht entgehen lassen. Nun ist der Schlag getan; er ist furchtbar und wird bis an das Ende Europas widerhallen.

Beauchamp entfernte sich in Verzweiflung, um einen Kurier an Morcerf abzuschicken.

Was er aber Albert nicht hatte schreiben können, – denn es geschah nach der Abreise seines Kuriers, – war, was an demselben Tage in der Kammer der Pairs vor sich ging. Fast alle Pairs waren früher erschienen und unterhielten sich über das unselige Ereignis, das die öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen und auf eines der bekanntesten Mitglieder des erhabenen Körpers lenken sollte.

Man las mit leiser Stimme den Artikel, man kommentierte ihn und tauschte Erinnerungen aus. Der Graf von Morcerf war unter seinen Standesgenossen nicht beliebt. Wie alle Emporkömmlinge zeigte er sich übermäßig hochmütig. Als er am andern Morgen zu seiner gewöhnlichen Stunde, ohne Ahnung von der Zeitungsnachricht – denn er hielt und las das Blatt nicht – vor der Kammer ankam, stieg er aus dem Wagen, schritt mit erhobenem Kopfe, herausforderndem Auge und stolzem Gange durch die Räume und trat in den Saal, ohne das Zögern des Saaldieners und die gezwungenen Grüße seiner Kollegen zu bemerken.

Seine Miene und sein Gang erschienen allen hochmütiger als gewöhnlich, und seine Gegenwart schien unter den Umständen so beleidigend für die auf ihre Ehre eifersüchtige Versammlung, daß alle dadurch noch mehr erbittert wurden. Die Kammer brannte offenbar vor Begierde, den Kampf zu beginnen. Man sah das anklagende Journal in allen Händen, doch wie gewöhnlich zögerte jeder, die Verantwortlichkeit des Angriffs auf sich zu nehmen. Endlich stieg einer von den ehrenwerten Pairs, ein erklärter Feind des Grafen von Morcerf, feierlich auf die Rednerbühne.

Es herrschte ein furchtbares Stillschweigen; Morcerf allein wußte nichts von der Ursache der ernsten Aufmerksamkeit, die man diesmal einem Redner schenkte, dem man gewöhnlich nicht so gefällig zuhörte. Den Grafen ließ auch die Einleitung ruhig, in der der Redner äußerte, er habe von einer so heiligen, so ernsten Sache, von einer für die Kammer so bedeutungsvollen Frage zu sprechen, daß er die ganze Aufmerksamkeit seiner Kollegen in Anspruch nehme. Jedoch bei dem ersten Wort von Janina und vom Obersten Fernand erbleichte der Graf von Morcerf so, daß eine Bewegung durch die Versammlung ging, deren Blicke insgesamt auf den Grafen gerichtet waren.

Die moralischen Wunden haben das Eigentümliche, daß sie sich verbergen, aber nicht wieder schließen; stets schmerzhaft, stets bereit, zu bluten, wenn man sie berührt, bleiben sie frisch und klaffend im Herzen.

Als der Artikel bis zum Schlusse gelesen war, setzte der Ankläger seine Bedenken auseinander und machte einige Bemerkungen über die Schwierigkeit seiner Aufgabe. Es sei die Ehre des Herrn von Morcerf, es sei die Ehre der ganzen Kammer, die er verteidige, indem er eine Debatte über so heikle persönliche Fragen hervorrufe. Endlich schloß er mit dem Antrage auf eine Untersuchung, die schnell genug eingeleitet werden sollte, um die Verleumdung zu Schanden zu machen, ehe sie Zeit gehabt hätte zu wachsen, und um Herrn von Morcerf in der Stellung, die ihm die öffentliche Meinung längst eingeräumt, wiederherzustellen.

Morcerf war so niedergebeugt, er bebte dermaßen bei dem plötzlichen Hereinbrechen dieses ungeheuren und unerwarteten Ungemachs, daß er kaum mit irrem Auge ein paar Worte zu stammeln vermochte. Diese Verzagtheit, die man ebensogut dem Erstaunen des Unschuldigen, wie der Scham des Schuldigen zuschreiben konnte, erwarb ihm wieder einige Sympathien. Wahrhaft edle Menschen sind stets geneigt, mitleidig zu werden, wenn das Unglück ihres Feindes die Grenzen ihres Hasses überschreitet. Der Präsident ließ abstimmen, und es wurde eine Untersuchung beschlossen.

Man fragte den Grafen, wieviel Zeit er brauche, um seine Rechtfertigung vorzubereiten. Dieser hatte seinen Mut wiedergewonnen, sobald er nach diesem furchtbaren Schlage noch Leben in sich fühlte.

Meine Herren Pairs, antwortete er, nicht mit der Zeit schlägt man einen Angriff zurück, wie der, den in diesem Augenblicke unbekannte und im Dunkel sich bergende Feinde gegen mich richten; auf der Stelle, mit einem Donnerschlag muß ich den Blitz erwidern, der mich einen Augenblick geblendet hat. Warum wird es mir nicht vergönnt, statt einer solchen Rechtfertigung, mein Blut zu vergießen, um meinen edlen Kollegen zu beweisen, daß ich würdig bin, als ihresgleichen einherzuschreiten!

Diese Worte machten einen günstigen Eindruck.

Ich verlange also, rief er, daß die Untersuchung so bald als möglich stattfinde, und ich werde der Kammer alle erforderlichen Beweisstücke liefern.

Welchen Tag bestimmen Sie? fragte der Präsident.

Ich stelle mich von heute an zur Verfügung der Kammer.

Der Präsident rührte seine Glocke und fragte: Ist die Kammer der Ansicht, daß diese Untersuchung noch heute statthaben soll?

Ja! lautete die einstimmige Antwort der Versammlung.

Man ernannte eine Kommission von zwölf Mitgliedern, welche die von Morcerf zu liefernden Beweisstücke untersuchen sollte. Die Stunde der ersten Sitzung dieser Kommission wurde auf acht Uhr abends in den Büros der Kammer festgesetzt. Als diese Entscheidung gefaßt war, bat Morcerf um Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen; er mußte die Beweisstücke zusammenfassen, die er seit langer Zeit aufgehäuft, um einem unvorhergesehenen Sturme Trotz zu bieten.

Dies alles erzählte Beauchamp dem jungen Manne.

Albert hörte ihm zu, bald vor Hoffnung, bald vor Zorn, bald vor Scham zitternd, denn er fragte sich, wie es dem Schuldigen gelingen könne, seine Unschuld zu beweisen.

Als Beauchamp schwieg, fragte Albert: Und dann?

Mein Freund, dieses Wort versetzt mich in eine furchtbare Notwendigkeit. Fassen Sie Mut, Albert, nie haben Sie dessen mehr bedurft.

Albert fuhr mit der Hand über seine Stirn, als wollte er sich seiner eigenen Kraft versichern, wie ein Mensch, der sein Leben zu verteidigen sich anschickt, seinen Panzer versucht und seine Degenklinge biegt. Er fühlte sich stark, denn er hielt sein Fieber für Energie. Reden Sie, sagte er.

Es kam der Abend, fuhr Beauchamp fort, ganz Paris wartete auf den Ausgang der Sache. Viele behaupteten, Ihr Vater habe sich nur zu zeigen, um die Anklage zu Boden zu schlagen; viele sagten, er werde sich nicht einfinden, andere versicherten, sie hätten ihn nach Brüssel abreisen sehen, manche gingen sogar zur Polizei und fragten, ob es wahr sei, daß der Graf seine Pässe genommen habe.

Ich muß Ihnen gestehen, daß ich alles tat, um von einem der Mitglieder der Kommission, einem mir befreundeten jungen Pair, in die Kammer geführt zu werden. Um sieben Uhr holte er mich ab und empfahl mich, ehe jemand gekommen war, einem Saaldiener, der mich in eine Loge einschloß. Ich war durch eine Säule gedeckt und in völliger Dunkelheit und konnte hoffen, die furchtbare Szene, die sich entwickeln sollte, vom Anfang bis zum Ende zu hören und zu sehen.

Herr von Morcerf trat bei dem letzten Schlage der achten Stunde ein. Er hatte einige Papiere in der Hand, und seine Haltung schien ruhig. Gegen seine Gewohnheit war sein Gang einfach, sein Anzug würdig, und er trug nach Art alter Offiziere seinen Rock von oben bis unten zugeknöpft. Seine Erscheinung brachte die beste Wirkung hervor; die Kommission war durchaus nicht übelgesinnt, und mehrere Mitglieder gingen dem Grafen entgegen und reichten ihm die Hand.

Albert fühlte, wie sein Herz bei diesem Bericht beinahe brach, und dennoch regte sich unter seinem Schmerze ein Gefühl der Dankbarkeit; gern hätte er alle diese Menschen umarmen mögen, die seinem Vater während einer so großen Gefährdung seiner Ehre die Hand reichten.

In diesem Augenblick trat ein Diener ein und übergab dem Präsidenten einen Brief. – Sie haben das Wort, Herr von Morcerf, sagte der Präsident, den Brief entsiegelnd.

Der Graf begann seine Verteidigungsrede, und ich versichere Ihnen, Albert, fuhr Beauchamp fort, er entwickelte eine außerordentliche Beredsamkeit und Geschicklichkeit; er brachte Papiere vor, die bewiesen, daß ihn der Wesir von Janina bis zur letzten Stunde mit seinem ganzen Vertrauen beehrt und besonders mit einer Unterhandlung bei dem Sultan selbst beauftragt hatte, wobei es sich um Leben oder Tod gehandelt. Er wies den Ring vor, ein Zeichen des Oberbefehls, mit dem Ali selbst gewöhnlich seine Briefe siegelte und den er ihm gegeben, damit er bei seiner Rückkehr, zu welcher Stunde des Tages oder der Nacht es auch sei, und wäre er sogar in seinem Harem, zu ihm dringen könnte. Unglücklicherweise, sagte er, scheiterte seine Unterhandlung, und als er zurückkam, um seinen Wohltäter zu verteidigen, war er bereits tot. Doch sterbend, behauptete der Graf, habe ihm Ali Pascha, so groß sei sein Vertrauen gewesen, seine erste Favoritin und seine Tochter anvertraut.

Albert bebte bei diesen Worten; denn während Beauchamp sprach, trat ihm Haydees Erzählung vor sein geistiges Auge, und er erinnerte sich dessen, was die schöne Griechin von dieser Botschaft, von diesem Ringe und von der Art und Weise, wie sie verkauft und in die Sklaverei geführt worden war, gesagt hatte.

Und was war die Wirkung der Rede des Grafen?

Ich gestehe, daß sie mich erschütterte, und ebenso, wie mich, auch die ganze Kommission, sagte Beauchamp. Der Präsident warf die Augen kaum auf den Brief, den man ihm gebracht hatte; doch bei den ersten Zeilen wurde seine Aufmerksamkeit rege, er las das Schreiben, las es abermals, und sagte, seine Blicke auf Herrn von Morcerf heftend: Herr Graf, Sie sagen uns, der Wesir von Janina habe Ihnen seine Frau und seine Tochter anvertraut? – Ja, mein Herr, antwortete Morcerf; doch hierin, wie im übrigen, verfolgte mich das Unglück. Bei meiner Rückkehr waren Wasiliki und ihre Tochter Haydee verschwunden. – Sie kennen die beiden? – Mein vertrauter Umgang mit dem Pascha und der feste Glaube, den er zu meiner Treue hatte, erlaubten mir, sie mehr als zwanzigmal zu sehen. – Haben Sie irgend eine Ahnung, was aus ihnen geworden ist? – Ja, mein Herr, ich habe sagen hören, sie seien ihrem Kummer und vielleicht ihrer Armut unterlegen. Ich war nicht reich, ich sah mein Leben großen Gefahren preisgegeben und konnte zu meinem Bedauern keine Nachforschungen anstellen.

Der Präsident runzelte unmerklich die Stirn und sagte: Meine Herren, Sie haben den Herrn Grafen gehört. Herr Graf, können Sie zur Unterstützung Ihrer Angaben einige Zeugen liefern? – Nein, antwortete der Graf, alle die, welche den Wesir umgaben und mich an seinem Hofe kannten, sind tot oder zerstreut; soviel ich weiß, habe ich diesen furchtbaren Krieg allein überlebt. Ich besitze nur die Briefe von Ali Tependelini, die vor Ihren Augen liegen; ich besitze nur den Ring, das Pfand seines Willens, das Sie hier sehen; ich habe endlich den überzeugendsten Beweis, den ich liefern kann, nämlich die Anonymität des Angriffs, den Mangel jedes Zeugen gegenüber meinem Wort als dem eines ehrlichen Mannes und gegenüber der Unbeflecktheit meines militärischen Lebens.

Ein Gemurmel des Beifalls durchlief die ganze Versammlung; Albert, wäre nichts Neues dazwischen getreten, so hätte Ihr Vater die Sache gewonnen gehabt. Da nahm der Präsident das Wort und sagte: Meine Herren und Sie, Herr Graf, ich denke, es wird Ihnen nicht unangenehm sein, einen sehr wichtigen Zeugen zu hören, der sich von selbst einfindet; dieser Zeuge, wir zweifeln nicht daran, ist nach allem, was uns der Graf gesagt hat, berufen, die vollkommene Unschuld unseres Kollegen darzutun. Hier ist ein Brief, den ich soeben empfangen habe; soll er verlesen werden, oder entscheiden Sie, daß wir darüber weggehen und uns bei diesem Zwischenfalle nicht aufhalten?

Herr von Morcerf erbleichte und preßte krampfhaft die Papiere zusammen, die er in der Hand hielt. Die Kommission entschied sich für die Verlesung. Der Brief lautete:

Herr Präsident,

Ich kann der Untersuchungskommission, die mit der Prüfung des Benehmens des Herrn Grafen von Morcerf in Epirus und Macedonien beauftragt ist, die bestimmteste und sicherste Auskunft geben.

Ich war beim Tode Ali Paschas an Ort und Stelle; ich wohnte seinen letzten Augenblicken bei; ich weiß, was aus Wasiliki und Haydee geworden ist; ich stelle mich zur Verfügung der Kommission und fordere sogar die Ehre, gehört zu werden. Ich werde in dem Augenblick, wo man Ihnen dieses Billett übergibt, im Vorsaale der Kammer sein.

Und wer ist dieser Zeuge oder vielmehr dieser Feind? fragte der Graf mit einer Stimme, in der eine tiefe Erschütterung nicht zu verkennen war. – Wir werden es erfahren, antwortete der Präsident. Ist die Kommission der Ansicht, daß der Zeuge gehört werden soll? – Ja! ja! sprachen gleichzeitig alle Stimmen. Man rief den Saaldiener, und der Präsident fragte ihn, ob jemand im Vorsaale warte. – Ja, Herr Präsident, erwiderte der Diener, eine Frau, begleitet von einem Diener. – Alle schauten sich an. Lassen Sie die Frau eintreten, sagte der Präsident.

Fünf Minuten nachher erschien der Diener wieder. Aller Augen waren auf die Tür gerichtet, und ich selbst, sagte Beauchamp, teilte die allgemeine Spannung. Hinter dem Diener ging eine Frau, in einen großen Schleier gehüllt, der sie völlig verbarg.

Der Präsident bat die Unbekannte, den Schleier zurückzuschlagen, und nun sah man, daß die Frau griechische Kleidung trug, und daß sie jung und außerordentlich schön war.

Ah! rief Morcerf, Haydee!

Wer hat Ihnen das gesagt?

Ach! ich errate es. Doch fahren sie fort, Beauchamp, ich bitte Sie, Sie sehen, ich bin ruhig und stark.

Herr von Morcerf, fuhr Beauchamp fort, schaute diese Frau mit einer Mischung von Angst und Erstaunen an. Für ihn sollte Leben oder Tod aus diesem reizenden Munde kommen.

Der Präsident bot der jungen Frau mit der Hand einen Stuhl an; doch sie deutete durch ein Zeichen mit dem Kopfe an, sie wolle stehen bleiben.

Gnädige Frau, sagte der Präsident, Sie haben der Kommission geschrieben und sich angeboten, ihr Auskunft über die Begebenheiten in Janina zu geben; Sie sind Ihrer Behauptung nach Augenzeugin gewesen. – Das war ich auch, sagte die Unbekannte mit einem Tone voll rührender Traurigkeit und mit jenem den Orientalen eigenen Wohlklang. – Erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie damals noch sehr jung waren, versetzte der Präsident. – Ich war vier Jahrs alt; doch da diese Ereignisse die höchste Bedeutung für mich hatten, so verlor sich kein Umstand aus meinem Geiste, entging keine Einzelheit meinem Gedächtnis. – Welche Bedeutung hatten für Sie diese Ereignisse, und wer sind Sie, daß diese große Katastrophe einen so tiefen Eindruck auf Sie hervorgebracht hat? – Es handelte sich um Leben oder Tod meines Vaters, antwortete das Mädchen; ich heiße Haydee und bin die Tochter von Ali Tependelini, Pascha von Janina, und von Wasiliki, seiner vielgeliebten Frau.

Die bescheidene und zugleich stolze Röte, die bei diesen Worten die junge Frau mit Purpur übergoß, das Feuer ihres Blickes, die Majestät ihrer Erscheinung brachten eine unaussprechliche Wirkung auf die Versammlung hervor. Der Graf aber konnte nicht entsetzter sein, wenn ein Blitz herabgefallen wäre und zu seinen Füßen einen Abgrund geöffnet hätte.

Gnädige Frau, sagte der Präsident, nachdem er sich ehrfurchtsvoll verbeugt hatte, erlauben Sie mir eine einfache Frage, die keinen Zweifel enthält und die letzte sein wird: Können Sie die Wahrheit Ihrer Behauptung erweisen?

Ich kann es, mein Herr, sagte Haydee, unter ihrem Schleier ein Säckchen von parfümiertem Atlas hervorziehend; denn hier ist mein Geburtsschein, von meinem Vater abgefaßt und von seinen obersten Offizieren unterzeichnet; und hier bei meinem Geburtsschein ist mein Taufschein; mein Vater hatte nämlich eingewilligt, daß ich in der Religion meiner Mutter erzogen würde, und der Archimandrit von Macedonien hat diesem Scheine sein Siegel aufgedrückt. Hier ist endlich die Urkunde über den Verkauf meiner Person und meiner Mutter an den armenischen Kaufmann El-Kobbir seitens des fränkischen Offiziers, der sich bei seinem schändlichen Handel mit der Pforte als seinen Beuteanteil Frau und Tochter seines Wohltäters vorbehalten hatte, die er für die Summe von 1000 Beuteln, d. h. für ungefähr 400 000 Franken, feil gab.

Bei diesen schrecklichen Anschuldigungen, welche die Versammlung mit finsterem Stillschweigen aufnahm, überzog sich das Gesicht des Grafen mit grünlicher Blässe, und seine Augen wurden von Blut unterlaufen.

Immer ruhig, aber viel drohender, als dies eine andere in ihrem Zorne gewesen wäre, überreichte Haydee dem Präsidenten die in arabischer Sprache abgefaßte Verkaufsurkunde.

Einer von den edlen Pairs, der die arabische Sprache während des Feldzuges in Ägypten erlernt hatte, las:

Ich, El-Kobbir, Sklavenhändler und Lieferant des Harems Seiner Hoheit, erkenne hiermit, daß ich von dem fränkischen Herrn Grafen von Monte Christo einen Smaragd im Werte von zweitausend Beuteln als Preis für eine christliche, elf Jahre alte Sklavin, namens Haydee, anerkannte Tochter des verstorbenen Ali Tependelini, Paschas von Janina, und von Wasiliki, seiner Favoritin, erhalten habe, welche an mich vor sieben Jahren mit ihrer bald darauf gestorbenen Mutter durch einen fränkischen Obersten, im Dienste des Wesire Ali Tependelini, namens Fernand Mondego, verkauft worden ist. Der erwähnte Verkauf ist für Rechnung unseres erhabenen Sultans geschehen, von dem ich den Auftrag hatte, den Smaragd zu erwerben.

Ausgefertigt in Konstantinopel mit Vollmacht
Seiner Hoheit im Jahre 1247 der Hedschra.    

Unterzeichnet:    

El-Kobbir.

Die gegenwärtige Urkunde wird, um ihr volle Glaubwürdigkeit und Echtheit zu verleihen, mit dem kaiserlichen Siegel versehen werden, das der Verkäufer derselben beidrucken zu lassen sich verbindlich macht.

Neben der Unterschrift des Kaufmanns sah man das Siegel des Großherrn. Auf diese Vorlesung folgte ein furchtbares Stillschweigen; der Graf konnte seine Gedanken nur durch den Blick ausdrücken, und dieser unwillkürlich auf Haydee geheftete Blick schien von Flammen und Blut zu sein.

Gnädige Frau, sagte der Präsident, kann man nicht den Herrn Grafen von Monte Christo befragen, der sich, wie ich glaube, bei Ihnen in Paris findet?

Der Graf von Monte Christo, mein zweiter Vater, ist seit drei Tagen in der Normandie.

Doch wer hat Ihnen diesen Schritt geraten, für den Ihnen die Kammer dankbar ist, und der auch nach Ihren Leiden nur natürlich erscheinen kann.

Mein Herr, antwortete Haydee, dieser Schritt ist mir von meiner kindlichen Ehrfurcht und von meinem Schmerze eingegeben worden. Gott vergebe mir! Obgleich Christin, dachte ich stets daran, meinen erhabenen Vater zu rächen. Als ich den Fuß auf die Erde Frankreichs setzte, als ich erfuhr, der Verräter wohne in Paris, waren meine Augen und Ohren beständig offen. Ich lebe zurückgezogen in dem Hause meines edlen Beschützers, doch ich lebe so, weil ich den Schatten und die Stille liebe, die mir in meinen Gedanken und in der Sammlung meines Geistes zu leben gestatten. Aber der Graf von Monte Christo umgibt mich mit seiner väterlichen Sorge, und alles, was das Leben ausmacht, ist mir vertraut, wenn es auch nur wie aus der Ferne an mein Ohr schlägt. So lese ich alle Zeitungen, wie man mir alle illustrierten Blätter und alle Musikalien zukommen läßt; ich erfuhr daher, was heute morgen in der Kammer der Pairs vorgefallen war, und was heute abend geschehen sollte . . . dann schrieb ich.

Der Graf hatte während dieser ganzen Zeit keinen Teil an Ihrem Schritte?

Er weiß durchaus davon, und ich fürchte sogar, er mißbilligt ihn, wenn er ihn erfährt. Es ist indessen ein schöner Tag für mich, fuhr das Mädchen fort, einen flammenden Blick zum Himmel aufschlagend, dieser Tag, an dem ich endlich Gelegenheit finde, meinen Vater zu rächen!

Der Graf hatte während dieser ganzen Zeit nicht ein einziges Wort gesprochen; seine Kollegen schauten ihn an und beklagten ohne Zweifel den unter der Anklage einer Frau erfolgenden Zusammenbruch eines angesehenen Lebens: Sein Unglück prägte sich allmählich in den finsteren Zügen seines Antlitzes aus.

Herr von Morcerf, sagte der Präsident, erkennen Sie in dieser Frau die Tochter von Ali Tependelini, Pascha von Janina? – Nein, sagte Morcerf, indem er sich zu erheben versuchte, es ist dies ein von meinen Feinden angezetteltes Gewebe.

Haydee, die ihre Augen auf die Tür geheftet hatte, wandte sich ungestüm um, stieß, als sie den Grafen wieder aufrecht sah, einen furchtbaren Schrei aus und rief: Du erkennst mich nicht; wohl, aber ich erkenne dich! Du bist Fernand Mondego, der fränkische Offizier, der die Truppen meines edlen Vaters unterrichtete. Du bist es, der die Schlösser von Janina übergeben hat! Du hast, von ihm nach Konstantinopel geschickt, um mit dem Sultan über Leben oder Tod deines Wohltäters zu unterhandeln, einen falschen Ferman zurückgebracht, in dem ihm vollständige Begnadigung zugestanden war. Du bist es, der mit diesem Ferman den Ring des Paschas erhielt, der dir bei Selim, dem Feuerwächter, Gehorsam verschaffen sollte; du bist es, der Selim erdolchte und meine Mutter und mich verkaufte! Mörder! Mörder! Du hast noch auf deiner Stirn das Blut deines Herrn; schaut alle!

Diese Worte wurden mit einer solchen Kraft und Begeisterung der Wahrheit gesprochen, daß aller Augen sich nach der Stirn des Grafen wandten und er selbst mit der Hand danach fuhr, als ob Alis Blut noch warm daran klebte.

Sie erkennen also ganz bestimmt in Herrn von Morcerf den Offizier Fernand Mondego?

Ob ich ihn erkenne! rief Haydee. Oh! meine Mutter! Sie sagte zu mir: Mein Kind! Du warst frei, du hattest einen Vater, der dich liebte, du warst bestimmt, beinahe eine Königin zu sein! Schau diesen Menschen wohl an, er hat dich zur Sklavin gemacht, er hat auf einem Spieße das Haupt deines Vaters fortgetragen, er hat uns verkauft! Schau genau seine rechte Hand an, sie hat eine breite Narbe; würdest du sein Gesicht vergessen, so müßtest du ihn an dieser Hand wiedererkennen, in die der Kaufmann El-Kobbir ein Goldstück nach dem andern hat fallen lassen! – Ob ich ihn wiedererkenne! Oh! er mag nur sagen, ob er mich nicht wiedererkennt!

Jede Silbe fiel wie ein Messer auf Morcerf und schnitt einen Teil seiner Energie ab; bei den letzten Worten verbarg er rasch und unwillkürlich seine in der Tat von einer Wunde verstümmelte Hand und fiel, in düstere Verzweiflung versunken, auf seinen Stuhl zurück.

Herr von Morcerf, sagte der Präsident, lassen Sie sich nicht niederbeugen, antworten Sie! Die Gerechtigkeit des Pairshofes ist erhaben und gleich für alle, wie die Gerechtigkeit Gottes; sie wird Sie nicht durch Ihre Feinde zu Boden treten lassen, ohne Ihnen die Mittel zu gönnen, sie zu bekämpfen. Wollen Sie neue Nachforschungen? Soll ich Befehle zu einer Reise von zwei Kammermitgliedern nach Janina geben?

Morcerf antwortete nicht. – Da schauten sich die Mitglieder der Kommission voll Schrecken an. Man kannte den energischen und heftigen Charakter des Grafen. Es bedurfte einer furchtbaren Niederschmetterung, um die Widerstandskraft dieses Mannes zu vernichten.

Die Tochter von Ali Tependelini, sagte der Präsident nach einer Pause, hat also wirklich die Wahrheit gesagt? Sie ist also wirklich der furchtbare Zeuge, dem der Schuldige kein Nein zu entgegnen wagt? Sie haben also wirklich dies alles begangen, dessen man Sie beschuldigt?

Der Graf warf einen Blick umher, dessen verzweifelter Ausdruck Tiger gerührt hätte, seine Richter aber nicht zu entwaffnen vermochte. Mit einer ungestümen Bewegung riß er seinen Rock auf, der ihn zu ersticken drohte, und stürzte wie ein Wahnwitziger aus dem Saal; einen Augenblick ertönte noch sein Tritt im Gange, dann erschütterte das Rollen des Wagens, der ihn im Galopp davonführte, den Palast.

Meine Herren, sagte der Präsident, als es wieder still geworden war, ist der Herr Graf von Morcerf der Untreue, des Verrates und der Unwürdigkeit überwiesen? – Ja, antworteten einstimmig alle Mitglieder der Kommission.

Haydee hatte der Sitzung bis zum Ende beigewohnt; sie hörte über den Grafen das Urteil fällen, ohne daß ein Zug ihres Gesichtes Freude oder Mitleid ausdrückte. Dann zog sie ihren Schleier wieder vor das Gesicht, grüßte majestätisch und ging hinweg.


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