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101 Am nächsten Tage klopfte während der Unterrichtsstunde ein kleiner Finger ganz leise an der Tür des »Bubenzimmers«. Die arme Kleine war da und bat um Einlaß. Sie erhielt ihn unter der Bedingung, daß sie nicht mucksen werde, sondern ganz still sitzen in der Ecke des Alkoven, hinter dem Rücken der Brüder. Dort stellte Heideschmied einen hölzernen Sessel hin, auf den er Bilderbücher, ein Blatt Papier und einen Bleistift für die Kleine legte.
»Das ist dein Schreibtisch,« sagte er, und auf einen Schemel deutend, den er vorschob, »das dein Stühlchen, setze dich und sei fleißig und störe deine Brüder nicht. Und Sie, wenn sich einer von Ihnen nach ihr umsieht, muß sie fort!«
»Sofort fort,« murmelte Leopold, und Josef wiederholte: »Sofort fort!«
Von Stunde an hieß es: »Herr Heideschmied ist so spaßig, er sagt immer: ›Sofort fort‹.« Die zwei jüngeren waren bald überzeugt, daß es so sei, und hätten darauf geschworen, und ihnen wollte Heideschmied die Freude an der geistreichen Erfindung nicht verderben. Zu Josef aber sprach er nach einiger Zeit:
102 »Sehen Sie, so entstehen Gerüchte. Es ist merkwürdig, wie man im kleinsten einen Bezug aufs größte finden kann. Viel wichtigere Dinge werden mit nicht mehr Grund von viel vernünftigeren Leuten geglaubt und verbreitet und endlich zur Überzeugung vieler, ganzer Klassen, ganzer Völker. Verstehen Sie?«
Josef verstand ihn vortrefflich, aber er hatte für Heideschmied keine andre Antwort als ein geringschätziges Lächeln. Daß der Mann noch da war, daß er ihn trotz der Versicherung, die er Bornholm gegeben, noch nicht weggebracht hatte, empörte und beschämte ihn. Was klebte sich der Mensch im Hause fest? Zeigten seine Zöglinge ihm nicht deutlich genug, daß er ihnen tödlich zuwider war? Er ließ sich alles gefallen – ums Geld. Er war ein fürchterlich armer Teufel, die elende Handtasche, die er bei seiner Ankunft mitgebracht hatte, enthielt sein Hab und Gut. Er sagte es den Knaben unbefangen, als sie ihn fragten, wann denn sein Gepäck ankommen würde.
Josef und Leopold wollten es so weit treiben, daß er endlich werde nachgeben und sich heben 103 müssen. Ein hartnäckiger Kampf entspann sich, den die Kinder mit gedankenloser blinder Grausamkeit führten, den der alte Mann heldenmütig bestand.
Einmal betraten sie das Schulzimmer mit der Versicherung: »Sie können tun, was Sie wollen, wir lernen heute nicht,« und Heideschmied sperrte die Türen ab, steckte die Schlüssel in seine Tasche und erklärte, die jungen Herren würden nicht in Freiheit gesetzt, bevor der Unterricht genommen sei. Und was er sagte, geschah, und jede seiner Drohungen erfüllte er, und mit Gewalt war bei ihm nichts auszurichten; das alte Gerippe war stärker als sie alle drei zusammen. Noch ein Versuch wurde gewagt; sie fanden sich zum Unterricht gar nicht ein, liefen am Morgen fort und kamen erst zu Tische heim. Damals war Herr Heideschmied furchtbar gewesen. Eine ganze Woche hindurch hatte er alles sequestriert, was die Jünglinge freute und womit sie sich am liebsten unterhielten. Kein Behelf zu irgend welchem Spiel war für sie vorhanden, jeder Verkehr mit ihren Lieblingstieren, Tauben, Hunden, Pferden, abgeschnitten. Acht Tage der Entbehrung 104 für einige Stunden der Freiheit, das war ein schlechter Handel, das sahen sogar so elende Rechner, wie die jungen Herren waren, ein. So blieben sie denn nie wieder aus der Schulstube fort. Sie kamen regelmäßig, mit Herzen voll Groll, und von den nichtsnutzigsten Vorsätzen beseelt. Und immer fanden sie einen impassiblen Heideschmied, der sie sehr ernst und ohne den geringsten Anflug von Spott bedauerte, wenn sie ihre Schuldigkeit nicht getan hatten, und sich durch keinen noch so tückisch ausgedachten, noch so überraschend ausgeführten Streich um seinen Gleichmut bringen ließ. Eine ihm persönlich angetane Unbill bestrafte er nie, und ganz im geheimen vertraute Josef seinem Bruder Leopold an, daß ihm das eigentlich gefalle, und ebenso geheim gestand Leopold, daß er sich bei den Unterrichtsstunden gut unterhalte. Das alte Gerippe erzähle hübsch und bringe einem die verfluchten Lernsachen recht angenehm bei.
»Tut nichts, fort muß er doch!« rief Josef. »Ich geb ihm keine Ruh. Heute sollen ihm die Knochen scheppern, wenn er sich an den Lehrtisch setzt.«
105 »So? Was hast getan?«
Das war nun ein Hauptspaß. Josef hatte die vorderen Beine von Heideschmieds Sessel angesägt. Der Lehrer erschien, wie immer zur Stunde, lebhaft und freundlich und leitete den Unterricht mit den Worten ein:
»Wir beginnen heute ein hochinteressantes Kapitel unserer Geschichte. Die Thronbesteigung Karls des Fünften, meine Herren!« Er setzte sich und brach mit schrecklichem Gepolter nieder.
Aus drei jungen Kehlen erscholl ein triumphierendes Gelächter: »Thronbesteigung! schöne Thronbesteigung . . .«
Im nächsten Augenblick aber schon verstummten die Kinder.
Herr Heideschmied war mit der ganzen Wucht seines großen, schweren Körpers, den Kopf voraus, auf die scharfe Kante eines Tischfußes gestürzt und hatte sich die Oberlippe buchstäblich durchgeschnitten. Die Wunde blutete reichlich und sah ganz abscheulich aus. Die Knaben waren betreten; Josef geriet in Versuchung, eine Entschuldigung wenigstens anzudeuten, aber er genierte sich vor seinen Brüdern. Heideschmied stand auf, preßte das 106 Taschentuch an den Mund, und Josef fühlte mit quälender Scham, daß der Alte ihn mit einem Blick durchschaute.
»Wie gut, daß die Kleine noch nicht da ist,« sagte Heideschmied. »Sie wäre gewiß erschrocken. Ich werde heute nicht vortragen; nehmen Sie das Buch, Josef, und lesen Sie.«
Der Verwundete blieb eine Zeitlang auf flüssige Nahrung angewiesen und wurde noch magerer.
In seinen Zöglingen aber regte sich ein der Reue sehr verwandtes Gefühl. Der »Hauptspaß« war bei weitem nicht so lustig ausgefallen, als sie erwartet hatten, und überdies folgte ihm ein für sie beschämendes Nachspiel.
Als Heideschmied zum ersten Male mit seiner vom Arzt zusammengenähten Lippe bei Tisch erschien und die Tanten voll Teilnahme fragten, was ihm geschehen sei, antwortete er einfach: »Ich bin gestürzt.«
Die Gesichter der zwei Jüngeren erglühten, Josef wurde blaß und stierte auf seinen Teller nieder.
»Ich war schuld, daß . . .« stieß er hervor, 107 wurde aber durch Heideschmied unterbrochen, der ihm die Hand auf die Schulter legte und sprach: »Kein Wort, Josef, ich bitte Sie.«
Die Tanten merkten, daß es sich um eine interne Angelegenheit des Schuldepartements handelte und schwiegen aus Diskretion.
Herr von Kosel merkte nichts.
Nach Tische waren Josef und Franz im Garten mit der Herstellung eines riesigen Drachen beschäftigt, den die Spätherbststürme wie einen Adler in die Wolken tragen sollten. Elika sah ihnen bewundernd zu, Leopold lief hin und her, von einem quälenden Gedanken besessen. Auf einmal blieb er vor den andern stehen und schrie:
»Sehr unangenehm! Sehr unangenehm!«
Seine Brüder fragten nicht »Was?«, hoben die Köpfe nicht. Josef murmelte: »Anständig war er. Verflucht anständig!«
»Das ist wahr, er klatscht nicht,« sagte Franz, der im achten Jahre endlich gelernt hatte, das R deutlich auszusprechen.
Eines Abends nach dem Souper lud Herr Heideschmied Josef zu einer kleinen Unterredung ein. Der Alte hatte die feierliche Miene eines 108 Menschen, der im Begriff steht, einen ernsten, lange überlegten Entschluß auszuführen. Josef folgte seiner Aufforderung mehr noch aus Neugier als aus Gehorsam.
Das geräumige, hellgetünchte Zimmer, das der Erzieher in der Nähe seiner Zöglinge bewohnte, war äußerst einfach eingerichtet. Zufällig schienen die kleinsten 109 Möbel sich in den größten Raum verirrt zu haben. Unter anderm stand da ein altmodisches, mit schwarzem Leder überzogenes Etablissement und nahm sich in dem reitschulartigen Gelaß wie eine Fliegenfamilie aus.
Heideschmied zündete eine Kerze an, stellte sie auf den Tisch und ließ sich auf das untere Ende des Ruhebettes nieder.
Josef bereute schon, daß er gekommen war. – Der wird noch übermütig, der! Bildet sich noch ein, daß man sein Hund ist und gelaufen kommt, wenn er ruft.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« sagte Heideschmied.
»Nein.«
»Nach Belieben. Sie werden aber lang stehen müssen, denn ich habe Sie zu einer Unterredung geladen, die nicht so bald zu Ende sein wird.«
»Wenn es sich um eine ›Explikation‹ handelt, muß ich Ihnen gestehen, daß ich die nicht liebe.«
»Auch ich nicht,« sprach Heideschmied mit seiner leisen, friedfertigen Stimme, »sie sind überflüssig zwischen Menschen, die einander 110 verstehen, und zwischen Menschen, die einander nicht verstehen, zwecklos. Aber es gibt zwingende Notwendigkeiten. Man wagt manchmal einen verzweifelten Versuch. Einen solchen will ich – bitte, lassen Sie mich ausreden! – will ich unternehmen. Bitte!« wiederholte er sanft, da Josef ihm abermals ins Wort fallen wollte.
»Ohne Einleitung! ich werde Sie nicht langweilen, ich komme gleich auf den Hauptpunkt. Sie verachten mich, Josef, weil ich um Geld diene. Nun, wer ist schuld, daß ich einem höheren Zweck nicht dienen kann? Aber, lassen wir das jetzt . . . Wir befinden uns im Kampfe. Sie wollen mich aus dem Hause hinausfoltern, ich will mich drin behaupten. Sie denken: wir werden sehen, wer der Stärkere ist. Ich weiß, daß ich es bin. Meine Schultern vermögen mehr zu tragen, als Sie ihnen aufzubürden vermögen.«
»Oho«, sagte Josef.
»Diese Stärke verdanke ich der Übung im Kampfe und dem einen, von dem ich wünsche, daß Sie es nicht zu früh kennen lernen – dem Leiden.«
Josef fuhr auf: »Jeder Mensch hat seine 111 Leiden. Was wissen Sie von dem, was in mir vorgeht?«
»Vielleicht kann ich es mir denken,« erwiderte Heideschmied. »Ihre Leiden sind aber anderer Art, als die meinen waren.« Er lächelte trotz der Schmerzen, die seine Lippe ihm dabei verursachte. »Sie haben Beobachtungsgabe und kennen so ungefähr etwas vom Elend Ihrer Landbevölkerung . . .«
»Ungefähr etwas,« wiederholte Josef mit hochmütigem Achselzucken.
»Nur das, denn ernstlich – was Männer ernstlich nennen – kümmern Sie sich nicht darum. So arg es aber auch sein mag, das Elend in den niederen Schichten der Stadtbevölkerung ist ärger, weil es Tür an Tür, oft sogar Ellbogen an Ellbogen mit dem Auswurf wohnt. In diesem Elend bin ich vor fünfundfünfzig Jahren geboren worden.«
Unwillkürlich wich Josef zurück: »Deshalb also« . . . Er vollendete nicht, es war überflüssig; Heideschmied hatte ihn schon verstanden.
»Deshalb, meinen Sie, Ihre instinktive Abneigung gegen mich, und tun sich was zu gute 112 auf Ihren Instinkt. Nun, auch ich durfte mich auf den meinen verlassen. Mit kaum erschlossenen Augen sah ich mehr des Schlechten, als Sie sich träumen lassen können, Josef . . . und Beispiele wurden mir gegeben – ein für dergleichen nur halbwegs empfänglicher Boden, und überwuchert wäre er gewesen vom Unkraut des Lasters. Ich blieb verschont, dank meinem Instinkt und einem andern guten Ding – Ekel vor dem Niedrigen. Nicht viele von uns waren damit begnadet. Das Elend hat eines mit der tätigen Barmherzigkeit gemeinsam, es kennt den Ekel nicht. Mich hat er vor manchem bewahrt, wovor meine Eltern mich nicht hätten bewahren können. Wie sollten sie? Sie arbeiteten tags über, der Vater in der, die Mutter in jener Fabrik; er warf sich erschöpft hin, wenn er heim kam, und schlief. Er hatte unterwegs schon gegessen.«
Und getrunken, dachte Josef.
»Die Mutter fütterte uns, besorgte die Kleinen und wachte dann noch einen Teil der Nacht, nähte, flickte. Ich leistete ihr Gesellschaft. Mir als dem Ältesten kam es zu, mich nützlich zu machen; ich verfertigte kleine Windmühlen 113 und bunte Kreisel und eröffnete ein Geschäft. Ja – staunen Sie! Ein Kompagnon trug meine Waren aus, während ich mich in der Schule befand oder zu Hause die Kleinen hütete.
Im Anfang ging das Geschäft gut, dann kam es ins Stocken; vielleicht war der Kompagnon nicht sehr reell. Meine Mutter kränkelte, wurde immer schwächer, wurde entlassen. Nun übernahm sie es, unsere Waren auszutragen; sie schleppte noch den schweren Korb – ich machte jetzt außer Spielzeug auch Sachen für den Hausgebrauch, Bürsten und dergleichen – als sie sich selbst kaum mehr schleppen konnte . . . Aber die vielen Kinder, die warteten, die essen wollten . . . die vielen Kinder und nur zwei Erwerbende . . .«
»Drei, mein ich doch,« unterbrach ihn Josef, »es war doch auch Ihr Vater da.«
Heideschmied schien plötzlich befangen: »Der Vater – ja . . . o, er war ein Erwerbender, aber mehr sporadisch.«
Eine kleine Pause entstand.
»Summa Summarum, ich hatte allerlei Mühsal in meiner Kindheit,« fuhr Heideschmied 114 nachdenklich fort. »Mein höchstes Bestreben aber war: nur die Schule nicht zu versäumen, nur zu lernen! Wenn ich etwas gelernt haben werde, wird alles gut, und alle die Meinen werden versorgt sein. Wieso? wußte ich freilich nicht, ich glaubte es und war stark durch diesen Glauben . . . Lauter Gnaden . . . Wenn ich den Glauben nicht gehabt hätte, was würde ich angefangen haben während des langen Siechtums meiner Mutter, das ihrem Tode voranging? Und nachher . . . als die Güte und Hilfsbereitschaft eines edlen Menschen mir zum Unheil ausschlug? – Einer meiner Professoren hatte mich lieb gewonnen, sich über meine häuslichen Verhältnisse unterrichten lassen und war unser Wohltäter geworden. Der Vater erhielt durch seine Vermittlung eine gut besoldete Stelle. Leider war sie auch eine verantwortliche und setzte ihn mancher Versuchung aus. Er bestand sie nicht. Da triumphierte der Neid der vielen, die sich einer Bevorzugung – wohl mit Recht – würdiger gefühlt hatten, und wir waren niedergebrochen und sollten nicht mehr aufkommen. Der Neid und in seinem Gefolge die Verleumdung sorgten dafür. Bis dahin 115 meinte ich nur, gekämpft zu haben, mein wahrer Kampf begann erst jetzt. Man muß unter der Last der schlechten Meinung geseufzt haben, um die dunkle Seite des Lebens und seine Grausamkeit zu kennen. Ich sage absichtlich ›des Lebens‹ und nicht ›der Menschen‹. Den Menschen im allgemeinen und gar im besonderen geschieht unrecht, wenn wir sie für die Urheber unseres Schicksals halten; sie sind nur sein Motor. Ich ahnte das damals schon und haßte die Nachbarn nicht, die mir ›Diebssohn‹ nachriefen, und auch nicht die Schulkameraden, die sich die Taschen zuhielten, wenn ich ihnen in die Nähe kam.
Übrigens hatte ich eine Stütze an meinem alten Gönner, der nicht aufhörte, sich meiner anzunehmen, mir Lektionen und Stipendien verschaffte und nicht fragte, wohin denn mein Geld kam, wenn ich wieder in defekter Kleidung vor ihm erschien. Mein armer Vater hatte oft versucht, sich aus seinem Elend aufzuraffen, sank aber immer und jedesmal tiefer, bis er sich endlich nicht mehr erhob . . . Von den Kindern starben einige weg, einige konnte ich versorgen. 116 Sie leben und verdienen ihr Brot. Eine ist mir verloren gegangen, eine Schwester. Das Ringen mit der Not wurde ihr zu schwer, und der Anblick unseres armen Vaters erbitterte sie. Sie war jung, sie war schön . . . ›Damit läßt sich Reichtum und Wohlleben gewinnen,‹ bekam sie öfter zu hören als ihr gut war, und wenn ich ihr Vorstellungen machte, sagte sie: ›Laß mich, zu Ehren bringst du uns doch nimmer‹ . . . Einmal kam ich heim und fand sie nicht . . . Die Tage, an denen ich sie suchen ging, ihr nachspürte wie ein Hund, Verzweiflung im Herzen, das waren böse Tage . . . Sie können mich nicht ganz verstehen, Josef, aber Sie lieben Ihre Geschwister, vorstellen können Sie sich, wie mir zu Mute gewesen ist, als ich damals meine Schwester . . .«
Die Stimme Heideschmieds wurde immer leiser und verschleierter und verlosch völlig bei den letzten Worten.
»Ich verstehe alles,« sprach Josef selbstbewußt. »Ich bin kein Kind mehr.« Er vermied den Alten anzusehen, setzte sich und sagte: »Und dann?«
117 »Und dann?« Er warf einen dankbaren Blick auf den Jüngling: »Dann machte ich die Erfahrung, daß man ganz ordentlich gelernt und die Seinen dadurch doch nicht erlöst haben kann. Und dann kam die Zeit des militärischen Dienstes, und die Heimkehr, bei der ich alles noch schlimmer fand, als ich ohnedies gefürchtet hatte. Endlich der Tod meines Vaters und das Wiedererwachen des alten Grolls gegen uns. Weil . . . man muß auch für die moralischen Begriffe der Armen und Elenden ein schonendes Verständnis haben – weil ihrer Meinung nach unsere Schwester ein Glück gemacht hatte. Das käme uns zu gute, waren sie überzeugt. Und auch diese Schmach stählte mich, und statt unter ihr zu erliegen, bäumte ich mich auf und dachte: Ich werd euch schon zeigen!« . . .
Der Alte blinzelte Josef mit einem fast schelmischen Ausdruck an, der seine verwitterten Züge plötzlich erhellte: »Wie ich mir jetzt Ihnen und Ihren Brüdern gegenüber fortwährend denke: Ich werd euch schon zeigen! – Nun also! – Ich will Sie mit Details nicht langweilen, nur sagen . . . es klingt hoffärtig, ist 118 aber nicht so empfunden: Das Leben hat für den aufwärts Strebenden, der noch andere mit sich ziehen möchte, keine Klippe und keinen Dornstrauch, an dem nicht etwas von meiner Haut und etwas von meinem Blut hängen geblieben wäre . . . .
Ich stand in mehr als reifen Jahren, als mir die Stelle eines Erziehers in einem guten Hause angeboten wurde. Das Haus gut, o ja! sogar vortrefflich – die Kinder schwierig.«
»Wie bei uns?«
»Ärger. Sie und Ihre Brüder sind gegen mich nicht liebenswürdig, Sie können es aber gegen andere sein. Das konnten meine früheren Zöglinge nicht. Sie waren aus altadligem Geschlecht, aber« – er beugte sich über den Tisch und flüsterte Josef geheimnisvoll zu: »gemeine Seelen. ›Nicht drei Wochen,‹ prophezeite mir mein Vorgänger, ›halten Sie es dort aus.‹ Ich blieb zwölf Jahre und habe wieder für eine Gnade zu danken. Die Existenz in diesem Hause war schlecht, aber mein Glück hab ich in ihm gefunden.
Gerade um die Zeit, in der mein Mut zu 119 sinken begann und ich oft dachte: Es ist genug, lieber Karrenschieber sein! kam mir Trost in Gestalt einer Leidensgefährtin. Die Schwestern meiner Zöglinge erhielten eine Gouvernante, eine Französin, Mademoiselle Eugénie Villette. Fein, verständig, wacker. Sie hatte es um kein Haar besser als ich und klagte nie. Vier Jahre liebte ich sie im stillen, vier Jahre war sie meine Braut. Dann hatten wir unsere Aufgabe gelöst; ich trat in den Genuß meiner Pension, Eugénie besaß kleine Ersparnisse, wir konnten heiraten.«
»Verheiratet sind Sie auch?« rief Josef mit ernstem Bedauern.
»Gott sei Lob und Dank! Glücklich verheiratet, durch die heiligste Pflicht unauflöslich mit dem Liebsten, das man hat, verbunden . . .«
»Schön verbunden! . . . . Sind ja weggegangen von Ihrer Frau.«
»Nicht gern. Aber – was sein muß, muß sein. Ein so einfaches Wort! und enthält die Fülle der Weisheit und macht stark . . . Meine Frau schenkte mir ein Kindchen und mit ihm ein neues, fremdartiges Glück. Die Kinder, die ich viele Jahre hindurch leitete, sahen in mir 120 ihren Feind und haßten mich. Dieses kleine Geschöpf liebte mich. Ich war ganz erstaunt, wenn es bei meinem wahrhaft nicht anmutigen Anblick lächelte, mir die Arme entgegenstreckte, wie damals Elika auf dem Turnplatz . . . ihr sah unser Kindlein ähnlich . . . ich wage kaum es auszusprechen, das Kind des Alters und der Dürftigkeit dem Kind eines blühenden Elternpaares . . .«
»Es ist gestorben,« fiel Josef ein, – »hat Elika ähnlich gesehen und ist gestorben . . .«
»Ganz jäh, ganz unerwartet. Der Arzt sagte, ihn überrasche es nicht. Wir hatten unsere kleine Mili für gesund gehalten und von einem sorgenfreieren Leben, als das unsere war, für sie geträumt. – Bald nachdem sie uns genommen wurde, klopfte eine alte Bekannte wieder bei uns an – die Armut. Die Familie, der wir unsere Dienste gewidmet hatten, erlitt große Verluste, alle Zahlungen wurden eingestellt. Ich konnte mich schwer entschließen, es meiner Frau mitzuteilen, und erschrak über die Kaltblütigkeit, mit der sie die Nachricht aufnahm.
121 ›Sollen wir wieder von vorn anfangen?‹ sagte sie; ›wir waren am Ziel angelangt und sind müde Leute.‹
Ich verstand sie, wußte aber auch, daß meine tapfere Frau die schwächliche Regung, die ihr da gekommen war, in der nächsten Stunde bereuen würde.
So stellte ich ihr vor, daß das, was wir für ein Ziel gehalten hatten, nur eine Etappe gewesen war, auf der ein barmherziges Schicksal uns gegönnt hatte, zu rasten, bevor wir unsere Wanderung fortsetzten. Sie fügte sich. Die Erlaubnis, mich Herrn von Kosel vorzustellen, traf ein. Wir gingen vor meiner Abreise noch einmal an das Grab unseres Kindes, versprachen einander dort, daß wir ausharren wollen in unserem Kampf um eine bescheidene Häuslichkeit, und nahmen Abschied.«
Heideschmied richtete die kleinen, matten und doch scharfsichtigen Augen mit festem Blick auf Josef: »Glauben Sie noch, daß Sie mich hindern werden, diesen Kampf zu bestehen?«
Josef brummte etwas Unverständliches.
»Sie glauben es nicht. Sie wissen jetzt, daß 122 Sie einem Gepanzerten gegenüberstehen. Ich bin nicht zu besiegen, weil meine Zuversicht unbesiegbar ist, daß alles noch gut werden muß. Ich halte aus, und meine liebe, brave Frau hat ihre Tätigkeit auch wieder aufgenommen.«
»Was tut sie?«
»Sie gibt Lektionen. War so glücklich, schon zwei zu finden. Dreimal wöchentlich werden sie von ihr erteilt und in einem Hause mit einem Mittagsessen, in dem andern mit einem Nachmittagskaffee honoriert. Es hat sich gefügt, daß beide auf denselben Tag fallen. Das macht wohl meinen Mangel an Appetit erklärlich, den Ihre verehrten und gütigen Tanten oft beklagen. Ich kann nicht essen am Hungertag meiner Frau.«
»Schicken Sie ihr denn nichts?« fragte Josef, und der Alte erwiderte ausweichend, er habe noch nicht Gelegenheit dazu gehabt.
»Wie kann das sein . . . Haben Sie denn noch nichts . . . noch keinen . . .« Er kam nicht weiter. Das Wort »Lohn« wollte er nicht aussprechen, und ein anderes fiel ihm nicht gleich ein. Dagegen besann er sich, noch nicht die kleinste 123 Münze in den Händen Heideschmieds gesehen zu haben, und besann sich auch der Klagen einiger Hausleute über die Unpünktlichkeit, mit der ihre Gehalte ausgezahlt wurden. – Herr v. Kosel sei gar so zerstreut. – – –
»Der Papa ist so zerstreut,« sagte er laut, »man muß den Papa mahnen – haben Sie ihn nicht gemahnt?«
»Doch, doch! . . . mit schuldiger Rücksicht. Zudringlichkeit liegt außerhalb meiner Machtsphäre. Auch gibt es oder könnte es doch Häuser geben, in denen der Erzieher ein Jahresgehalt bezieht . . .«
»Ach nein – ach, der Papa!« Die Röte brennender Scham stieg Josef ins Gesicht. »Man muß ihn mahnen,« wiederholte er, und nun geriet der Hofmeister in Bestürzung:
»Lassen Sie das, ich bitte Sie! Ich komme zu dem Meinigen, bin ganz unbesorgt . . . Wenn ich noch nichts bekommen habe, habe ich auch noch nichts verdient. Noch keinen Erfolg zu verzeichnen, doch bleibt er nicht aus . . . Wenn alles so sicher wäre! Sie kommen mir vor, Josef, wie ein edles Instrument, das bisher nur 124 Mißtöne von sich gab, weil meine ungelenke Hand nicht versteht, es zu behandeln. Trifft sie's aber einmal, schlägt sie die richtige Taste an – ich weiß, dann gibt es einen schönen Klang.« Er stand auf, und Josef folgte seinem Beispiel.
»Gute Nacht, Josef.«
»Gute Nacht, Herr Heideschmied.« Ein letztes Widerstreben gegen ein warmes, liebevolles Gefühl, dann ein völliges Unterliegen. Er stürzte auf Heideschmied zu und fiel ihm um den Hals.
»Sie sind ein nobler, alter Mensch!« sagte er, wandte sich und ging mit großen, nachdrücklichen Schritten aus dem Zimmer.
Noch nicht zur Ruh, noch nicht zu diesen Kindern – den Brüdern. In den Garten, in die kalte Novembernacht!
Die freie Luft blies sehr bald über seine spontane Begeisterung kühlend hinweg.
Josef mußte sich schadlos halten für die Weichheit, die ihn einen Augenblick überkommen hatte, und vertraute den entlaubten Bäumen, den grauen Wolken und den matt glitzernden Sternen:
125 – »Nicht mahnen . . . was für Faxen . . . ein alter Esel ist er doch!«
Das war ein stolzer Tag, an dem Leopold entdeckte, daß Elika lesen könne. Fast ganz allein hatte sie es gelernt mit Hilfe des alten, außer Gebrauch gesetzten Lesespiels ihres Bruders Franz. Überraschend schnell drang sie auch in die Geheimnisse der Schreibkunst ein, und man kam um einen Genuß, als sie ihr Ziel erreicht hatte. Es war ergötzlich gewesen, sie zu sehen: an ihrem Tischlein sitzend, das linierte Blatt vor sich. Die Fingerchen so fest um den Federkiel gekrallt, daß ihre zarten Gelenke ganz weiß wurden, formte sie sorgsam und mühevoll große A mit dicken Bäuchen und eckige O und schraubenförmige I. Aber das war nur der erste Anfang, und bald erklärte Heideschmied, sie mache Fortsprünge, nicht Fortschritte. Wenn ihre Brüder zu ihr sagten: »Warum plagt sie sich? Sie muß ja nicht, sie braucht ja nicht,« erwiderte sie: »Aber ich will!«
»Und warum will sie?«
Ja, das sagte sie nicht, das mochten die Brüder nur erraten.
Sie rieten und rieten und errieten es nicht, 126 und erst als ihre allzu straff gespannte Neugier nachzulassen drohte, wurde sie befriedigt.
Elika lernte schreiben, damit sie ihnen Briefe schicken könne.
Sie lachten: »Uns will sie Briefe schicken? Über den Gang? Aus ihrem Zimmer in unseres?«
»O nein! von viel weiter her.« Und jetzt nahm sie die kluge und wehmütige Miene an, die jeden rührte und entzückte: »Ihr werdet im Garten sein und an gar nichts denken, und auf einmal werden zwei kleine, goldene Wolken sich auseinanderschieben und drei Briefe werden herunter fallen. Ein rosenfarbiger, ein grüner und ein lichtblauer, und die werden für euch sein, und ihr werdet gleich wissen von wem, und drin wird stehen, wie schön es im Himmel ist und wie gut es mir geht und alles.«
Da heimste sie für ihre liebreiche Absicht die größte Dankbarkeit ein. Josef gab ihr einen Zärtlichkeitsklaps auf den Kopf, Franz hatte Tränen in den Augen, und Leopold sagte, man müsse ihr wieder etwas schenken. Von all den Huldigungen war ihr der Klaps doch die liebste. Josef stand ihrem Herzen am nächsten. Von 127 ihm ließ sie sich nicht nur bedauern, sie bedauerte ihn wieder. Er lernte so schwer, unter so schrecklichen Qualen! und hatte schon heute vergessen, was ihm Heideschmied gestern mit Mühe eingetrichtert.
»Vor allem müssen Sie das Lernen erlernen,« sagte der Alte und gab ihm alle mögliche Anleitung und die besten Ratschläge, und Elika bekräftigte:
»Ja, so mußt du's machen.« Sie blieb bei ihm als Polizei und als Trösterin, und wenn er von seinem Buche aufblickte und durchs Fenster sah, hielt sie ihm ihre Hände vor die Augen, küßte ihn und flehte ihn an: »Ach, Josef, schau nicht!«
Manchmal wurde er sogar gegen sie ungeduldig und stieß sie weg. Ach, brennend sehnte er sich ins Freie! Was verstand sie, ein Mädchen, eine arme Kleine, von dem, was in ihm vorging? Sie ahnte nicht, wie es ihn hinauszog, immer! immer! Zur Sommerszeit, wenn alles wächst und atmet, sich in wehender, würziger Luft, im sonnigen Lichte des Lebens freut, und in den Stürmen des Herbstes bei fallendem Laub, 128 und im Winter, bei wirbelndem Schnee, immer! immer! Nie so sehr aber, als eben jetzt im rauhen, kernigen Vorfrühling seiner Heimat, der so herb scheint und so voll Wonne und Süße ist, so wenig verspricht und so viel hält . . . Ins Freie! Draußen im Freien, ob im Genuß der Natur, ob im Kampf mit ihr, war er ein König gewesen, im Gefühl seiner Jugend, seiner Kraft und Selbstherrlichkeit. Und jetzt fühlte er sich als Knecht im Frondienst, als Zugtier, eingespannt in ein verabscheutes Joch. Vor Büchern hockend, deren tote Buchstaben ihm nie und nie lebendig werden wollten!
Nein, sie konnte sich keinen Begriff von dem machen, was er litt, und sollte auch nicht! Er wollte sie ja davor bewahren, etwas Schreckliches kennen zu lernen in ihrem kurzen Leben. Wenn sie ihn gar zu kummervoll ansah, auf seine gefurchte Stirn deutete und auf seine zusammengezogenen Brauen und traurig sagte: »Solche Falten! solche Falten!«, schlug er ein wildes Lachen auf.
»Am End auch graue Haare? Pfui . . . Marsch und marsch und marsch!« Und er 129 schleuderte seine Bücher in die Ecken, gegen die Decke und das letzte auf den Boden und hüpfte mit einem Fuße so geschickt, so schnell, so unablässig drüber hin und her und lachte dazu so toll, daß die Kleine mitlachen mußte.
Sein Verhältnis zu Heideschmied hatte sich plötzlich geändert. Alle Hausleute bemerkten die Wandlung und freuten sich ihrer. Der gute, bescheidene Hofmeister, der einen so schweren Stand hatte mit den jungen Herren, war eine beim Hofstaate sehr beliebte Persönlichkeit und erfreute sich sogar der schwer zu erringenden Gunst Frau Apollonia Budiks. Die Tanten verehrten ihn geradezu, und es war für sie ein schwerer Schlag, als Josef ihnen, am Morgen nach seiner Unterredung mit dem Erzieher, seine Vermutung mitteilte, daß »der alte Heideschmied« noch kein Honorar bekommen habe.
»Wär's möglich? könnte Felix so etwas vergessen?« fragte Renate, als Josef das Zimmer verlassen hatte. Charlotte geriet gleich wieder in eines jener Extreme, in die sie so leicht verfiel, und erwiderte mit schmerzlicher Härte:
»Du solltest lieber fragen: Wär's möglich, 130 daß er nicht vergessen hätte? Woran denkt denn der? . . . Aber wir, Renate, wir zwei, daß wir uns nicht gedacht haben, daß er an nichts denkt! Daß wir ihn nicht erinnert haben! Es ist eine Schande für uns, für die ganze Familie und läßt sich nie wegputzen, bleibt auf uns sitzen!« Sie rang die Hände: »Diesem Manne gegenüber! dieser in Menschengestalt unter uns wandelnden Delikatesse! Heute noch wüßten wir nichts und hätten nie etwas davon erfahren, wenn Josef nicht gescheiter als wir – es erraten hätte!«