Marie von Ebner-Eschenbach
Die arme Kleine
Marie von Ebner-Eschenbach

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Elika fuhr nach Hause in ihrem eleganten Kutschierphaethon. Sie lenkte ein schönes, frommes Gespann. Neben ihr saß, eingewickelt in einen Mantel und in eine Wagendecke, die verkörperte, anbetende Liebe, Frau Heideschmied, und hinter ihr, auf dem Rücksitz, die Treue – Hanusch, der in den Dienst ihres Bruders Franz getreten und sich immer mehr zur Vertrauensperson qualifizierte. Wenn Hanusch dabei war, durfte Elika reiten und kutschieren, welche Pferde sie wollte. – Wie bevorzugt schien sie vor den Mühseligen, die sie einholte, die ihr begegneten. Einigen, die freundlich grüßend auswichen, anderen, die mißgünstig und grollend zu ihr hinaufsahen und denen sie ausweichen mußte. Weiber, tiefgebeugt unter der Last schwerer, feuchter Gras- oder Reisigbündel, Bettler, Vagabunden, die alte Dorfbotin, die ihre Butte in Leinwandfetzen gehüllt hatte und sich mühsam schleppte . . .

O ja, ja! Elika, so rasch und sanft dahingetragen, so gut behütet, schien nicht nur, sie war bevorzugt vor ihnen allen und fühlte sich dennoch entsetzlich arm und verlassen. Was hatte sie diesem Bornholm getan, daß er ihr allmählich den Mut, ihn anzusprechen, raubte? Nie war ihr Ähnliches begegnet, immer waren alle Menschen gut gegen sie gewesen . . . Die Schulkinder höchstens ausgenommen. Aber die, die zählten nicht. – Wenn sie sich feindlich gezeigt hatten, waren sie verleitet worden von Schlimmeren als sie. Auch ihnen galt das göttlich schöne, die Anklage in Verzeihung wandelnde Wort: »Sie wissen nicht, was sie tun« . . . Und was man bedenken muß, und was ihr jetzt zum ersten Male so recht ergreifend aufs Herz fiel: die meisten von ihnen leiden, sind elend.– »Durch ihre eigene Schuld, es müßte nicht sein,« hatte neulich der Herr Direktor gesagt, und Tante Renate hatte erwidert: »Ist es darum weniger ein Elend, nicht vielmehr das ärgste?« Im Augenblick, in dem Elika das gehört hatte, war es an ihr vorbeigeflogen, ohne ihr einen Eindruck zu machen, und nun kam es wieder und haftete 315 und beschäftigte sie. Zugleich besann sie sich auch, daß die Tanten, daß Apollonia das Gespräch immer abbrachen, wenn sie ins Zimmer trat während einer Konferenz, die mit dem Herrn Pfarrer und dem Doktor über Armenpflege abgehalten wurde. Man fand sie wohl zu jung, um ihr ein Urteil in solchen Dingen zuzutrauen, wollte sie schonen, ihr nicht weh tun durch den Einblick in das Leiden, von dem sie umgeben und bisher doch unberührt geblieben war . . . Bisher! Plötzlich begriff sie, was man ihr verbergen wollte, das Verständnis dafür kam wie durch ein Wunder. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie sprach zu Frau Heideschmied:

»Wenn man ein wundes Herz hat, das ist gut . . . Das ist, wie wenn einem die Augen aufgehen würden, begreifen Sie? man ist blind gewesen und wird auf einmal sehend . . . Das Herz hat eine dicke Haut gehabt, und jetzt hat es eine feine! so feine!«

»Sie werden doch nicht ein wundes Herz haben, chère petite,« erwiderte Frau Heideschmied, die sich an den einzigen ihr klaren Satz in dieser 316 Rede hielt, und war sehr beunruhigt, als Elika versicherte:

»Ich habe es.«

»Das vergeht, ich hoffe, daß es bald vergeht . . . Sie haben nur eine unangenehme Impression empfangen. Fort damit, denken Sie an etwas andres! Es gibt so viel Liebes, an das man denken kann!« Par exemple mon mari bien-aimé, klammerte sie in Gedanken ein.

»Wenn jemand ungezogen ist – traurig für ihn. Ich möchte nicht Herr Bornholm sein . . . So deplorablen Manieren begegnet man nur bei einem mit sich selbst zerfallenen Menschen; einem Menschen, der keine Religion hat.«

»Keine Religion?« stammelte Elika voll Entsetzen. »Wie ist das? . . . Betet man da nicht? Kann man da nicht beten, wenn man keine Religion hat?«

»Gewiß nicht. Zu wem soll man denn beten? Man glaubt ja nicht an Gott . . . Das heißt,« milderte Frau Heideschmied ihren Ausspruch, als sie bemerkte, wie schmerzlich weh er getan hatte, »das heißt, mein armes Kind, mir scheint es so – mir . . . vielleicht nur mir.«

317 Elika schwieg. Gedanken zogen ihr durch den Kopf, schwere Gedanken, kaum zu bewältigen . . . Es gibt Menschen, die glauben nicht an Gott . . . Wie kann man leben, ohne an Gott zu glauben? . . . Ein hilfloses Menschenkind sein und keinen allmächtigen Vater haben, den wir anrufen, zu dem wir schreien! der hilft aus Erbarmen, oder Hilfe versagt aus Liebe, weil sein Kind des Leidens bedarf zur Stählung und Läuterung . . . Der armen Kleinen schauderte vor der Trostlosigkeit eines solchen Daseins.

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