Marie von Ebner-Eschenbach
Die arme Kleine
Marie von Ebner-Eschenbach

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Felix Kosel war ein vorzüglicher Reiter, der sich nicht leicht durch die Laune eines Pferdes überraschen, nicht leicht aus dem Sattel bringen ließ. Im Hof von Valahora wäre er aber bei einem Haar auf das elende, aus spitzen und eckigen Steinen bestehende Pflaster niedergesaust. Die großen und die kleinen Hunde sprangen Meta von allen Seiten an, und die sanfte, vernünftige Stute stieg und schlug aus, daß die Funken stoben. Kosel, der wie gewöhnlich vergessen hatte, seine Reitpeitsche mitzunehmen, konnte dem Hundevolk gegenüber keine andere Waffe gebrauchen als beschwichtigende Worte und Winke. Das Geheul der vierbeinigen Burgwächter rief endlich den zweibeinigen herbei. Bartolomäus trat aus der Tür seiner ebenerdigen Wohnung, pfiff dem Hundevolk, kam auf Kosel zu 255 und beantwortete seine Frage, ob Herr Bornholm zu sprechen sei, verneinend.

»Nicht zu sprechen? Ja so,« murmelte Kosel und versank in Gedanken. Nach einer Weile raffte er sich auf, wiederholte: »Nicht zu sprechen,« und ritt heim und konnte kein Ende finden mit der Beschreibung seines merkwürdigen Erlebnisses. Er war in Valahora gewesen, ja drüben in Valahora, hatte Herrn Bornholm besuchen wollen, ja er, und Herr Bornholm hatte sagen lassen. daß er nicht zu sprechen sei. Das ist doch keine Manier. Wie?

Alle mußten zugeben, daß es keine Manier sei.

Dafür aber am nächsten Vormittage, welche Überraschung! Bornholm ließ sich bei Herrn von Kosel melden, wurde – vor lauter Überraschung – empfangen und sogar ziemlich freundlich. Er fand den Herrn von Velice umkreist von Rauchwolken, die seinem Tschibuk entstiegen, inmitten eines Ringgebirges von Zeitungen. Kosel stand auf und reichte ihm die Hand.

»Sie sehen, daß ich da Zeitungen ordne,« sprach er.

»Ja,« erwiderte Bornholm. »Und ich komme, 256 um Ihnen zu sagen, daß ich sehr bedaure, Ihren Besuch versäumt zu haben. Ich war nicht zu Hause.«

»Sie waren nicht zu Hause? Ja das, das ist etwas andres. Das ist ja etwas andres.« Und nun stieg er über das Gebirge, an der Stelle, wo es am niedersten war, und lud Bornholm ein, auf einem der großen Fauteuils Platz zu nehmen: »Ich ordne da einige Zeitungen, heute kommt der Buchbinder. Also. Sie sind gestern nicht zu Hause gewesen. Ich habe Sie besuchen wollen.«

»Sie wünschten Nachrichten von Ihrem Sohn zu erhalten,« sagte Bornholm; »ich kann Ihnen die besten geben. Er verträgt das Klima, die Strapazen, ist der Leiter der Station. Ich bin nur noch ein Bummler.«

Kosel trug ihm eine Zigarre an, er wies sie fast mit Ekel zurück, er rauche nicht mehr.

»Nicht mehr? wieso, wie kommt das?«

»Wahrscheinlich habe ich mich überraucht.«

»Überraucht; ein gutes Wort, ich habe es noch nie gehört und auch noch nicht gelesen, und man liest in Zeitschriften doch oft neue Worte. 257 Halten Sie Freemanns Journal? Es ist berühmt.«

»Josef liest es.«

»Ja, der Josef! Er wird doch auch einmal ans Nachhausekommen denken müssen. Ewig geht das nicht so! Eine große Reise hat er jetzt auch gemacht. Wo waren Sie also mit ihm?«

Levin hatte mehr Geduld mit seinem nicht sehr aufmerksamen Zuhörer, als er mit Elika gehabt hatte, die gar zu gern eine aufmerksame Zuhörerin gewesen wäre. Er beantwortete Kosels Fragen ziemlich ausführlich und sprach dann von seiner Absicht, den Winter in Valahora zuzubringen, und von der Notwendigkeit, sich in seinem Raubneste ein wenig einzurichten. Auch ein Pferd mußte er haben und hatte erfahren, daß Herr von Kosel eines der seinen verkaufen wolle. – Verkaufen, ein Pferd? Das war Herrn von Kosel neu. Soviel er wußte, dachte er nicht daran, ein Pferd zu verkaufen. Wirklich dachte er in dem Augenblick an nichts anderes als an Freemanns Journal. Levin betrachtete ihn mit Geringschätzung. Was für ein Hohlkopf; und was für vage Augen er hat! In die kommt 258 wohl niemals ein Ausdruck. Nun – das war ein Irrtum, der, kaum entstanden, widerlegt wurde.

Aus den »vagen« Augen Kosels, der Levin gegenüber saß, mit dem Gesichte der Tür zugekehrt, leuchtete plötzlich etwas Liebes, Gutes. Es verflog bald wieder, aber es war doch da gewesen, hatte diese schönen, nichtssagenden Züge belebt.

»Aha, oho, die Kleine!« sagte er.

Levin wendete sich: auf der Schwelle, unter der zurückgeschlagenen Portiere, stand Elika.

Sie machte einen kurzen Knicks, ging auf ihren Vater zu, umarmte ihn und sprach: »Ich bin schon einige Minuten da, und jetzt erst siehst du mich. Herr Bornholm meint den Hansl.«

»Wie – was – den Hansl?«

»Herr Bornholm wird gehört haben, daß du ihn weggeben willst.«

»Ja so, den Hansl, ja den! Aber Herr Bornholm braucht ein Reitpferd, und der Hansl läßt sich nicht reiten; du weißt ja.«

»Warum?« fragte Levin, und Elika erwiderte:

»Er ist zu bös.«

259 »Kein Tier ist bös, kein vernunftloses Wesen ist bös.«

»Dann tut der Hansl nur dergleichen, aber so schrecklich natürlich, daß es ihm jeder glaubt.« Sie lachte, geriet aber sogleich in Verlegenheit darüber, daß sie gelacht hatte, umarmte ihren Vater noch einmal und nahm Platz auf der breiten Lehne seines Fauteuils, wie auf einem Damensattel. Einer ihrer Füße kam in seinem hellbraunen Schuh unter dem Saume des weißen Kleides zum Vorschein, fein gefesselt, fast lächerlich schmal, und ungemein zart waren auch ihre Hände, die sie nachlässig um das hinaufgezogene Knie schlang. Ihr einfaches Matrosenhütchen hatte sie in den Nacken geschoben, ihre Stirn war ganz frei, ihre feinen Haare, sehr dicht geworden, ringelten sich nicht mehr. Sie wurden zurückgekämmt und in einen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken hing. Wunderhübsch angewachsen waren diese feinen, an den Wurzeln fast weißen Haare und bildeten da, wie sich aufbäumend, einen schimmernden Bogen um die Stirn und die Schläfen. Elika fing an, ihrer schönen Mutter ähnlich zu sehen, und doch konnte man sie nicht 260 einmal hübsch nennen, mit ihrem blassen Gesichtchen und ihren blassen Augen. Was anzog, was gefiel, das war ihre Anmut, ihr um Liebe werbendes Wesen.

Das Gespräch drehte sich noch immer um Hansl, der den Reitknecht, einen jungen, verwegenen Burschen und vorzüglichen Reiter, so oft abgeworfen hatte . . .

»Vierzehnmal,« fiel Elika ihrem Vater ins Wort, »bis der Papa ihm verboten hat, wieder aufzusteigen. Und jetzt soll der Hansl eingespannt werden, aber der Kutscher Vincenz sagt, das geht auch nicht. Und das ist so schade, denn der Hansl ist schön und jung und fehlerfrei.«

Sie seufzte, und jeder andere hätte ihre Wichtigtuerei drollig gefunden, Bornholm fand sie aber unausstehlich und dachte: Jetzt spielt sie sich gar auf die Pferdekennerin.

»Ist Hansl wirklich fehlerfrei?« fragte er Herrn von Kosel über die Kleine hinweg, und der Blick, mit dem er sie dabei streifte, war alles eher als wohlwollend.

Die sonst so leicht Verletzte zeigte nicht eine Spur von Empfindlichkeit. Nur eine leise 261 Traurigkeit dämmerte in ihren Augen, und der kluge, ausdrucksreiche Mund, der Klang ihrer Stimme, jede ihrer Bewegungen verrieten stille Ergebung ins Unvermeidliche, und ein Versichern, ein inniges Beteuern: Kränke mich so viel du willst – ich verzeihe.

»Fehlerfrei – also gekauft,« lautete das letzte Wort, das Bornholm am Ende der Beratung, die sich nun entsponnen hatte, sprach: »Ich lasse das Pferd morgen abholen.« Er stand auf, und auch Kosel erhob sich.

»Oho! Sehen müssen Sie es früher doch.« Er war ganz aufgekratzt und ungewöhnlich geistig beisammen, die Gegenwart des Australiers wirkte außerordentlich belebend auf ihn. »Die Katz im Sack darf man nicht kaufen.«

»Kommt auf den Verkäufer an,« erwiderte Levin, und Elika traute ihren Ohren nicht – das war ja eine Art Kompliment, zum mindesten eine Höflichkeit. – »Aber wenn Sie wollen, sehen wir ihn an.«

Auf dem Wege durch den Garten zu den Stallungen trafen sie die ganze Familie in Begleitung des Herrn Pfarrers. Luise kam ihrem 262 Vetter entgegen, und ihr Anblick machte ihm das Vergnügen, das man empfindet, wenn einem ein Licht aufgeht:

»Ja so, du bist da, ich habe nicht gewußt, wieso sie hergekommen ist, die Kleine.«

Bornholm wurde den Alten, die Jungen wurden ihm vorgestellt, und die Gesellschaft machte sich auf zum Besuche Hansls.

*

Die Pferde in Velice führten ein beneidenswertes Dasein. Sie waren vortrefflich untergebracht, genährt, gewartet. Sie verdienten aber auch ihr Glück, alle ohne Ausnahme, die Wagen- und die Reitpferde, die Siebzehnfäustigen und die Ponys, lauter edle, feurige und leutselige, menschenfreundliche Tiere. Ihr freudiges Gewieher und Gestampfe begrüßte die Eintretenden, besonders ihre junge Gebieterin und ihre jungen Gebieter, von denen sie mit Lob und Liebesbeteuerungen überschüttet wurden. Hansl blieb stumm und regungslos in seinem Ecke. Er war isoliert; links von ihm die Mauer, rechts drei leere Stände. Man schien zu fürchten, daß 263 seine Nähe der Bravheit seiner Kameraden Gefahr bringen könnte.

Kosel befahl, ihn herauszuführen auf den mit Lohe bestreuten Longierplatz vor den Stallungen. Dahin begab man sich, und der immer galante Leopold brachte Stühle für die Damen.

Schon unter der Tür leistete Hansl den ersten Widerstand, spreizte die Vorderbeine und schlug gewaltig aus.

»Wie ein gemeiner Wald- und Wiesenesel,« sagte Leopold; aber Bornholm erwiderte:

»Nein, er ist schön.«

Knallende Peitschenhiebe, die ein hinter dem Unband Stehender ihm versetzte, trieben ihn vorwärts. Da war er. Ein Kohlfuchs ohne Abzeichen, etwas hochbeinig, mit breiter Brust, prachtvollem Hals und Kreuz und ziemlich plumpem Kopf, den er in die Höhe hob, um mit Verachtung, mit heißem, ingrimmigen Haß auf die Menschen, die Peiniger, herabzuschauen. Er schüttelte sich, blies die Nüstern auf und stieß einen scharfen, bedrohlichen Laut, mehr ein Schreien als ein Wiehern, aus. Eines seiner großen, rotunterlaufenen Augen war geschwollen 264 und blutrünstig, die Haut mit Striemen getigert. Scharfe Sporen hatten ihm die Flanken zerwühlt; einmal ums andere durchlief ein kurzes, nervöses Zucken seinen mißhandelten Leib.

Luise stand hinter dem Stuhle der Tante Renate, und einige Schritte weit von ihr, zwischen Kosel und Leopold, Levin Bornholm. Sie ahnte selbst nicht, warum sie gerade jetzt zu ihm hinsehen mußte; vielleicht weil auch seine Augen sich auf sie gerichtet hatten. Aus seinem Gesichte sprach eine so mühsam zurückgehaltene zornige Entrüstung, daß sie erschrak. Und doch schien ihr, als sei in seinem Blicke etwas gewesen, das ihr dankte. Sie hatten, jedes in seiner Weise, dieselbe Empfindung gehabt, und sie wußten es.

Dicht hinter Hansl war der Kutscher gekommen, zwei Stallpagen mit Bändigungswerkzeugen folgten ihm. Es war kein kleines Kunststück, das der Reitknecht zustande brachte, indem es ihm gelang, Hansl, der bockte, schlug und biß, festzuhalten, ohne von ihm verletzt zu werden.

»Hohla! oh – la!« schrie der Kutscher, 265 näherte sich und wollte den Kappzaum fester schnallen.

»Warum denn? Wozu Gewaltmaßregeln?« fragte Bornholm, trat herbei und griff nach den Zügeln. Hansl schnaubte; da war wieder einer, ein Mensch, also ein Feind, und der bekam seinen Willkommsgruß. Ehe Levin sich's versah, schnappte das Tier nach ihm und grub ihm die breiten Zähne in den Arm. Er fuhr auf, schmerzdurchzuckt, doch war ein ermahnendes: »Aber pfui!« alles, was er sagte. Die Zuseher hatten aufgeschrieen, die Männer stürzten herbei, drohend, Peitschen und Stöcke schwingend, und riefen durcheinander:

»Untier das!« »Gebissen!« »Die Schulter ist weg!« »Nein, der Ellbogen« . . .

Bornholm winkte eifrig ab: »'s ist nichts! Fortbleiben! . . . Ich bitte!« Die Stallleute aber fuhr er an: »Nicht anrühren! Das Pferd gehört mir!«

Ja so! Ja – da gratulierten sie zu dem Besitze, sie waren froh, ihn los zu sein.

Hansl hatte den neuen Bändiger, der den Blick scharf auf ihn gerichtet hielt, angestarrt, 266 als warte er auf die unausbleiblichen Folgen seiner Untat. Sie stellten sich nicht ein, und das überraschte, beängstigte ihn, machte ihn doppelt argwöhnisch. Je länger sie überlegen, die Menschen, um so Schlimmeres führen sie dann aus.

Ein langer Kampf begann, der Kampf zwischen Stützigkeit, Bosheit, Tücke und unermüdlicher Geduld. Das ordinäre Publikum lachte und freute sich über jeden gescheiterten Versuch Levins, dem scheuen Tier Zutrauen einzuflößen, das feine Publikum war voll Interesse und endlich voll Bewunderung. Heideschmied fühlte sich sogar begeistert.

»Sehen Hochwürden nur hin,« flüsterte er dem Herrn Pfarrer zu, »je schwieriger der Schüler, je langmütiger der Lehren; ich glaube, seine Liebe zu dem Wildling wächst mit jeder Unbill, die er von ihm erfährt.«

»Ich kann mir ungefähr denken, was in ihm vorgeht – er sieht vielleicht sich selbst in dem Verstoßenen und Verfemten da, dem man – es ist ja möglich – manchen Fehler – eingeprügelt hat,« erwiderte der geistliche Herr.

Mit seinem: »'s ist nichts«, hatte Levin 267 übrigens unrecht gehabt. Es war etwas, und sein Arm mußte ihm gewaltig weh tun. Man sah, wie sehr er litt. Schweißtropfen, vom Schmerz erpreßt, standen ihm auf der Stirn, gelblichweiße Ränder bildeten sich um seine sonnverbrannten Wangen.

Doch hatte er etwas erreicht. Hansl ließ sich ohne allzu heftigen Widerstand dreimal nacheinander um den Longierplatz führen. »Jetzt empfehlen wir uns,« sagte Bornholm. »Ich nehm ihn gleich mit.«

Weder Kosel noch seine Söhne wollten das zugeben. Er durfte ihn nicht selbst nach Hause führen mit seinem verletzten Arm, es ging durchaus nicht. Levin blieb allen Einwendungen gegenüber unerschütterlich, und die seine Geduld am meisten bewundert hatten, bedauerten auch am meisten seinen Eigensinn.

»Geduldig wie ein Heiliger und eigensinnig wie ein Bock,« sprach Charlotte zu ihrer Schwester und machte sich gleich darauf die größten Skrupel – Bornholm konnte ihre halblaut hervorgestoßenen Worte gehört haben. Wenigstens war ihr, als ob er sie spöttisch anlächle. Ein 268 kurzer Gruß, und er ging hin mit seinem Pferd an der Hand. Ein Verwundeter, der einen Gefolterten führte. So lange er noch in Sicht blieb, rührte sich niemand, als er aber das Parktor erreicht hatte, liefen Leopold und Franz, demselben Impulse folgend, ihm nach.

Bald darauf kehrten sie zurück und brachten die Nachricht, daß er glücklich in Valahora eingetroffen sei mit seiner zweifelhaften Akquisition.

Elika hatte die Zeit über lautlos in höchster Spannung dagesessen. Als Bornholm von Hansl gebissen wurde, war sie so blaß geworden, daß Frau Heideschmied ihren Angstschrei »Elle se meurt!« mit Mühe unterdrückte. Als aber Levin die ersten kleinen Siege über den Unbändigen errang, schwellte beseligender Stolz ihr Herz. Sie sah um sich, und ihre Blicke fragten: Was sagt ihr nun?

Nachdem Bornholm fort war, langweilte sie die guten Tanten, weil sie nur von ihm sprach, und sie wieder fand es unbegreiflich, daß man heute von jemand anderem sprechen könne. So gestaltete sich der Morgenbesuch in Velice recht unerquicklich. Zu Mittag ließ Kosel einspannen, und 269 Luise und Elika fuhren nach Hause. Es war früher noch bestimmt worden, daß der Urlaub der Kleinen in zwei Tagen aus sein solle. Sie mußte ihre Beschäftigungen wieder aufnehmen. Studien sagte man nicht. Für Renate hatte das Wort einen unweiblichen Beigeschmack, Charlotte fand es protzig. Mehr als vier Stunden täglich wurde Elika nicht am Lehrtisch festgehalten durch den Herrn Pfarrer und durch das Ehepaar Heideschmied. Guten soliden Musikunterricht erteilte ihr der neue Schullehrer; der alte war unter vielen Ehrungen zum Oberlehrer an eine andere größere Schule befördert worden, man sprach von seiner bevorstehenden Erwählung zum Landtagsabgeordneten.

Während der Rückfahrt bewahrte Elika anfangs tiefes Schweigen und brach es erst, als man an Valahora vorüberkam: »Dort ist der Arme und hat gewiß schreckliche Schmerzen und niemand kümmert sich um ihn.« Es erschien ihr wie eine Fügung des Himmels, daß sie unterwegs den Doktor einholten, der immer mit Vorliebe auf der breiten Straße blieb und die Feldpfade und -steige »wegen leichten 270 Ausrutschens« mied. Er ging langsam, der alte, kurze, dicke Herr. Die Brusttaschen seines dunklen Tuchrockes waren mit Medikamenten so vollgestopft, daß sie ein ansehnliches Vorgebirge bildeten.

»Halt, Vincenz, halt!« rief Elika. »Wohin, lieber Herr Doktor?«

Er hatte sich und seine Ladung vor den herantrabenden Pferden in den Straßengraben gerettet, grüßte, indem er den Zeigefinger der Rechten an die Krempe des umfangreichen Lodenhutes legte, und erwiderte: »Nach Vrobeck. Habe dort einige Kranke.«

O wie herrlich sich das traf! dann konnte ja der Herr Doktor jetzt mitfahren, den Wagen in Vrobek warten lassen und auch zur Rückfahrt benutzen. Elika setzte sich untenan aufs »Bänkchen« und überließ ihren Platz dem Doktor. Er stieg mit Vergnügen ein; seit einiger Zeit wurde das Gehen ihm schwer. Nur placierte er sich, um nicht indiskret viel Raum einzunehmen, ganz schief und ließ einen Fuß auf dem Tritte stehen. Von einem Wartenlassen der »herrschaftlichen Equipage« wollte er nichts hören, 271 das konnte er nicht verantworten, es würde zu lange dauern.

»Wie lange, Doktor?« fragte Elika.

»Eine Stunde gewiß.«

Sie seufzte tief: »Lange, sehr lange! Aber das Wetter ist schön, und Vincenz und die Pferde sind gern im Freien. Also, lieber Herr Doktor, lassen Sie« – abermals stieß Elika einen tiefen Seufzer aus – »lang warten, dann aber haben Sie die einzige, die große Güte – besuchen Sie auf dem Rückwege einen Patienten . . .«

»Keine Güte, liebes kleines Fräulein, Schuldigkeit! Wo befindet sich der Patient?«

»In Valahora. Es ist Herr Bornholm.«

Der Doktor war zusammengefahren, daß die Fläschchen und Büchsen in seinen Taschen schepperten: »Was denken Sie, kleines Fräulein? Zu Herrn Bornholm?« – –

»Der Hansl hat ihn gebissen, ganz schrecklich.«

»Habe davon gehört, bedaure, kann nicht helfen.«

»Doktor! . . . So arg ist's, daß man nicht mehr helfen kann?« In Bestürzung hatte sie 272 es ausgerufen und griff mit beiden Händen nach seiner Hand.

»Aber Elika! so ist's nicht gemeint.«

»Aber liebes kleines Fräulein, so mein ich's nicht!« riefen zugleich Luise und der Doktor. Das eintönig ziegelfarbige Gesicht des alten Mannes rötete sich dunkler, die braunen Äuglein blitzten durch die großen runden Brillengläser, der schmale, zahnlose Mund verschwand fast gänzlich im Schatten der scharf gebogenen Adlernase. Nie hatte der Doktor mehr Ähnlichkeit mit einer Eule gehabt. »Nur kann ich Herrn Bornholm nicht helfen,« fuhr er fort, »weil ich zu Herrn Bornholm nicht gerufen werde. Herr Bornholm verachtet die Medizin wie noch so manches andere Ehrwürdige, um nicht zu sagen alles.«

»Da tun Sie ihm vielleicht doch unrecht,« fiel Luise ein, und Elika wiederholte:

»Vielleicht? – Schweres Unrecht tut er ihm, abscheulich schweres!«

Der Doktor betrachtete sie mitleidig: »Die arme Kleine ist auch sehr in die Irre geführt. Der Rattenfänger, der!«

273 »Was hat er Ihnen getan?« fragte Elika und kämpfte mit Tränen des Zornes.

»Dasselbe, was er Ihnen getan hat, den Josef zur Flucht verleitet.«

»Lüge! Das ist eine Lüge, das ist Verleumdung!«

»Kann ihn gut brauchen auf seinen australischen Besitzungen als unbesoldeten Diener.« Der laute Protest der beiden jungen Damen störte ihn nicht, er überbot sich noch: »Geben Sie acht, rate ich, geben Sie sehr acht, sonst gehen Leopold und Franz denselben Weg.«

»Nicht Ihr Ernst, Herr Doktor,« sagte Luise. »Herr Bornholm ist an der Flucht Josefs ganz unschuldig. Das glaube ich.«

»Ich weiß es,« sprach Elika. »Sie haben ihm unrecht getan, Sie haben ihn verleumdet, Herr Doktor . . . Machen Sie das gut,« setzte sie mit einer plötzlichen Wendung hinzu, »gehen Sie zu ihm!« Sie bat liebenswürdig, schmeichelnd, inständig, und der Doktor wand sich in Seelenpein. Ihr Nein sagen, ihr etwas verweigern, ihr, der blassen armen Kleinen, der jeder – und er wahrlich nicht zuletzt – so gern 274 den Willen tat? Er sah den Augenblick herankommen, in dem die Kraft dazu ihm fehlen würde.

»Bitten Sie nicht! ich bitte Sie, nicht zu bitten, ich halte das nicht aus,« rief er und machte sich los von den beiden Händchen, die seine Hand wieder flehend umklammert hatten. »Bleiben Sie stehen, Vincenz; einen Augenblick. So.« Schwerfällig erhob er sich und klomm mühsam aus dem Wagen. »Ich danke, ich gehe lieber,« beantwortete er die Ausdrücke des Bedauerns, die Luise und Elika ihm nachriefen.

*


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