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» Nehmen Sie meinen Arm, Belinda, der Weg ist steil!«
Der Weg war steil und tief einsam. Nach der einen Seite hin dehnte sich der weite Ocean aus, der jetzt still und regungslos dalag, wie ein kleiner Gebirgssee; an der andern Seite erhoben sich wilde Bergketten und die Eingänge des Felsenpasses von Behobia. Hinter ihnen flimmerten die zerstreuten Lichter von etwa einem halben Dutzend Dörfern, und dort, wo sie durch die Dunkelheit aufblitzten, lag Spanien – Spanien das Land der Träume, das Land, von welchem sich selbst gereiftere, prosaische Menschen nicht ohne einen Seufzer trennen.
»Die Alhambra haben wir nun doch nicht gesehen!« sagte Roger nach einer Weile.
Belinda hatte seinen Arm genommen, als er ihn ihr geboten; ihre Hand lag in der seinen, ohne daß man recht wußte, wie es gekommen war, und sie zog sie nicht zurück. Vorsicht, das Resultat der Schwäche, und die Prüderie, welche aus dem Wissen hervorgeht, waren der Seele der kleinen Zigeunerin vollständig fremd. Sie war auch jetzt nur ehrlich.
»Nein, wir haben die Alhambra nicht gesehen; und es ist wohl auch nicht wahrscheinlich, daß wir sie sehen – jedenfalls nicht miteinander;« entgegnete sie mit bewegter Stimme.
»Sechs kurze Stunden in Spanien und vier noch dazu in Gesellschaft von Miß Burke! Wenn man nur wüßte, wozu solche Leute wie Miß Burke auf der Welt sind?« philosophirte Roger. »Ich glaube, man muß sie hinnehmen, ohne zu fragen, wie man Hitze oder Gewitterluft oder sonst etwas Unabwendbares hinnimmt. Sie sind da, und das ist Alles, was sich von ihnen sagen läßt.«
»Ich fürchte, daß ich noch genug von Miß Burke zu sagen haben werde, ehe ich von ihr loskomme;« entgegnete Belinda.
»Sie – Sie werden nicht länger bei Miß Burke bleiben,« sagte Roger eifrig, ohne zu bedenken, welcher Unvorsichtigkeit er sich schuldig machte.
»Ich sehe nicht ein, was ich gewinnen könnte, wenn ich mich von ihr trennte;« sagte Belinda. »Wir haben uns daran gewöhnt, einander zu hassen! Bei Fremden könnte ich leicht schlimmer daran sein.«
»Belinda, was sollen solche Reden?« rief Roger stehen bleibend. »Als ob wir vergessen könnten, was geschehen ist! Sie sollten Ihre besten Jugendjahre mit Miß Burke zubringen, und ich? – guter Gott, die Sache wäre ja das reine Possenspiel! Aber es ist noch nicht zu spät, Geliebte, es ist noch nicht zu spät. Noch können wir zurück.«
Es ist nur wenigen Menschen gegeben, wahre und aufrichtige Liebe in beredten Worten auszusprechen. Glühende Leidenschaft und gerundeter Periodenbau gehen selten Hand in Hand außer etwa in den höheren Regionen des Melodramas. Aber eine Sprache, die sich schwarz auf weiß sehr alltäglich ausnehmen würde, kann in einer schönen Sommernacht, in einer Gebirgslandschaft, unter einem glänzenden Sternenhimmel und gegenüber einem siebenzehnjährigen gläubigen Herzen, das jedem Worte entgegenschlägt, recht wohl für Poesie gehalten werden.
»Ich will nichts zurücknehmen,« sagte Belinda, die Roger falsch verstand. »Alles ist über mich gekommen, ohne daß ich es wünschte, oder nicht wünschte – aber wenn ich es auch könnte, ich möchte es nicht ungeschehen machen, denn ich bin glücklich gewesen.«
Roger zog sie in seine Arme.
»Und wir werden uns nie mehr trennen, Kind;« flüsterte er ihr zu. »Es wäre zu widernatürlich, unser ganzes Lebensglück, unser Aller Lebensglück zu opfern, weil uns der Muth fehlte, aufrichtig zu sein. Nein, wir trennen uns nicht mehr!«
Roger war einer der ritterlichsten, ehrenhaftesten Männer, die es je gegeben hat. Aber gerade ritterliche, ehrenhafte Menschen bringen sich häufig in schwierigere Lagen, als andere weniger verfeinerte Naturen, welche sich von ihrem einfachen gesunden Menschenverstand leiten lassen. Wie mancher Mann, der sich mit einer hübschen Wittwe von vierzig Jahren auf dem Wege zum Altar befindet, mag in Versuchung gerathen, im Vorübergehen einen Kuß von jüngeren, süßeren Lippen zu rauben. Aber Roger wußte, daß er nicht nur einen Kuß, sondern ein Herz geraubt hatte, das Herz des armen, kleinen Mädchens, das er mit seinen Armen umschlossen hielt und sein Gewissen trieb ihn zu einer Buße, die gefährlicher war, als das Vergehen. Belinda's Liebe zurückzuweisen, an Rose zum Verräther zu werden – beide Alternativen würden ihm bei kaltem Blute unerträglich erschienen sein. Doch sein Blut war in diesem Augenblicke nichts weniger als kalt; er hörte Belinda's Herzschlag – und Rose, die arme thörichte, ältliche, künstlich aufgeputzte Rose verwandelt sich in einen abstracten Begriff.
»Wir trennen uns nicht mehr?« rief Belinda halb ungeduldig. »Wir werden uns für immer trennen, das wissen Sie so gut wie ich. Wir werden tausendmal weiter von einander geschieden sein, als wenn Sie eine ganz Fremde heirateten.«
»Ich heiraten! Sprechen Sie nicht davon. Ich kann nie eine Andere heiraten, als –«
Roger hatte die Worte beinahe athemlos und tonlos gesprochen, aber sie drangen mit voller Klarheit zu Belinda's Ohr. Sie wurde todtenbleich – so bleich, daß Roger trotz der Dunkelheit den Wechsel der Farbe bemerken konnte – und machte sich aus seiner Umarmung frei.
»Sagen Sie mir, was Sie damit meinen, Capitän Tempel!« rief sie. »Sprechen Sie, was Sie sagen wollen, ohne Rückhalt aus. Halten Sie sich nicht verpflichtet, Rose zu heiraten?«
Da lag das Dilemma klar vor ihm. Es war so leicht, seufzend und flüsternd auf eine mögliche Lösung der Verhältnisse hinzudeuten, aber er fand es entsetzlich schwer, während die ehrlichsten Kinderaugen der Welt bis in die Tiefe seiner schwachen, schwankenden Seele hinabschauten, mit klaren Worten einzugestehen: »Ich bin in einem unerhörten Irrthum befangen gewesen.« Schließlich blieb ihm freilich nichts übrig, als eine Antwort in diesem Sinne zu geben.
›Er hatte während der letzten zwölf Jahre ein Gefühl, das diesen Namen nicht verdient, für Liebe gehalten, und Rose – die arme Rose, hatte es ebenfalls dafür genommen. Aber man mußte Rose anrufen – mußte das Glück Aller in ihre Hände legen. Sie war ja die großherzigste, edelmüthigste der Frauen –‹
»Wer – Rose?« unterbrach ihn Belinda scharf. »Nun, Edelmuth und Großherzigkeit wären die letzten Eigenschaften gewesen, die ich meiner Stiefmama zugetraut hätte. Aber Sie müssen das am besten wissen, Capitän Tempel, Sie müssen es ja wissen.«
Der Ton, in dem sie sprach, das harte, spöttische Lachen, mit dem sie die Worte begleitete, verriethen die alte Belinda, Belinda, wie sie war, ehe sich unter dem Einflusse der Liebe die unedleren Metalle ihrer Natur in Gold verwandelten. Aber Roger's Leidenschaft wurde durch diesen Ausbruch eher angefeuert als gebändigt. Jeder Mann hätte sich im Geheimen geschmeichelt gefühlt durch dieses zärtliche Ungestüm, diesen reizenden Groll einer hübschen Frau gegen die andere, wenn er sich selbst als die Ursache zu betrachten hatte!
»Mein geliebtes, theures Kind!« begann er sanft; indem er ihre Hand wieder in die seinige nahm.
Aber Belinda stieß ihn heftig zurück.
»Lassen Sie uns aufrichtig sein, Capitän Tempel!« rief sie, indem sie ihre Augen ernst und durchdringend auf die seinigen richtete. »Es scheint, daß Sie Rose, nachdem Sie ihr zwölf Jahre lang die Treue gehalten, nicht mehr lieben und geneigt sind, sie um meinetwillen zu verlassen. Gut, wenn das Ihr Ernst ist, nicht blos Schmeichelei, so führen Sie es auch ohne Aufschub aus. Wenn wir eine unehrenhafte Handlung begehen wollen, so lassen Sie es uns gleich und ohne mattherzige Bemäntelung thun. Aber an den Edelmuth der armen Rose appelliren, unser Aller Glück in die Hände der armen Rose legen – pah! Ich wenigstens bin nicht aus so schwächlichem Stoffe gemacht!«
»Belinda, Kind! – Großer Gott – wenn Du wüßtest –«
»Lassen Sie das, Capitän Tempel. Keine zwei Stunden von hier befindet sich die spanische Grenze. Ich kenne jeden Pfad, jeden Richteweg durch die Berge. Was hindert Sie und mich, nach der Alhambra zu gehen? Miß Burke wird berichten, wo und wie sie uns verließ und das Uebrige wird Rose errathen. Sind Sie bereit?«
»Bereit?« wiederholte Roger Tempel, dessen Blut sich unter dem Erstaunen über die Kühnheit des Mädchens wunderbar abgekühlt hatte. »Sie wissen nicht, was Sie von mir verlangen, Belinda. Aber ich bin schuld daran – ich ganz allein. Wir werden die Sache nicht, wie Sie sagen, mattherzig bemänteln, sondern ich werde noch diese Nacht offen und ehrlich mit Rose sprechen, und –«
»Und was Rose auch immer erwidern mag, was Sie auch von ihr erreichen, ich, das sollen Sie wissen, bin mit Ihnen fertig!« rief Belinda mit leidenschaftlich erregter Stimme. »Sie glauben mich zu kennen, weil Sie sich das Vergnügen gemacht haben, ein halbes Dutzend Tage mit mir schön zu thun, Sir – weil Sie einige Mondscheinscenen auf dem Balkon gespielt und mich dazu gebracht haben, zu sagen, was ich diesen Nachmittag gesagt habe. Aber deshalb kennen Sie mich doch nicht besser, als der erste beste Fremde, der mir auf der Straße begegnet. Wie! Sie glauben, ich sei so tief gesunken, um Sie zu heiraten – Sie, Rose's Bräutigam?«
»Und doch ließen Sie sich, glaube ich, so weit herab, mich ein wenig zu lieben,« entgegnete Roger.
»Jetzt schämen Sie sich Ihrer Thorheit, und das ist kein Wunder.«
Belinda blieb eine Weile stumm.
»Und wenn ich noch fünfzig Jahre oder länger lebte, und wenn ich eine alte, alte Frau würde, so könnte ich mich doch nimmermehr der Empfindung schämen, die Sie ›meine Thorheit‹ nennen,« rief sie endlich aus. »Wenn dies Gefühl ein solches wäre, dessen ich mich zu schämen hätte, wie wäre es mir in's Herz gekommen? Ich habe nie versucht oder gewünscht, Sie zu lieben, Ich ahnte auch nichts davon, ahnte nichts von alledem, bis ich endlich heute zum Bewußtsein erwachte. Und da war es zu spät!«
»Zu spät, in der That,« wiederholte Roger so reuevoll und zerknirscht, wie sich nur ein Mensch fühlen kann, der durch ein Zusammentreffen von Zufälligkeiten dazu gekommen ist, ein Kind für das ganze Leben zu schädigen.
»Nun, für das, was ich empfinde, kann ich ebenso wenig, wie dafür, daß ich athme; nur die Handlungen – die Handlungen sind in meiner Macht!« fuhr Belinda fort. »Aber daß Sie denken, ich wollte Sie einer Andern rauben, könnte auf Kosten Rose's glücklich sein – ich, die ich nichts Gemeines thun würde, und wenn es sich darum handelte, mein Leben zu retten!«
»Belinda!«
»Ich mache gar keine Ansprüche darauf, gut oder tugendhaft zu sein, denn ich bin im Leben hin und her gestoßen worden, und habe so Vieles gesehen und gehört, daß ich vielleicht gar nicht recht weiß, was tugendhaft ist. Aber welches Spiel ich auch spiele – ich spiele es offen und ehrlich. Fragen Sie die Knaben in St. Jean de Luz, ob ich je versucht habe, mir auch nur einen Point zu viel anzurechnen, oder sonst einen schmutzigen Vortheil von ihnen zu gewinnen! Sie haben Rose versprochen, sie zu heiraten, und Sie müssen sie heiraten. Ob Sie sie noch lieben oder nicht, darauf kommt es nicht an. Ihre Ehre muß Ihnen zu hoch stehen, um an einen Rücktritt zu denken.«
Wenn der Leser fragt, wie Belinda O'Shea, die kleine heimatlose Zigeunerin, welche nicht einmal das A. B. C. mancher anderen Tugend kannte, zu diesem hohen Begriff von Ehre kam, so vermögen wir das ebensowenig zu sagen, wie wir erklären können, auf welche Weise die auf nackten Felsen sprossende Blume Farbe und Duft aus dem dürren Gestein zu sangen vermag. Vielleicht gedeihen manche Eigenschaften der menschlichen Seele besser, wenn sie den Unbilden des Lebens ausgesetzt sind, als hinter Schloß und Riegel – vielleicht hat die moralische Entwickelung die Tendenz, sich, wie die physische, den Schranken jedes Systems zu entziehen. Der beste Medoc wird ja, wie man weiß, auf einem Boden gewonnen, auf dem keine andere Pflanze gedeiht.
»Sie geben mir da eine sehr harte Lehre, und lassen mir meine Handlungsweise in einem furchtbar klaren Lichte erscheinen;« sagte Roger Tempel.
»Ihre Handlungsweise? O, Sie sind nicht im geringsten zu tadeln!« rief Belinda, die insofern ganz weiblich empfand, als sie lieber alle Schuld auf sich nahm, ehe sie den Mann beschuldigt, den sie liebte.
»Sie hatten anfänglich nur die Absicht, sich um Rose's Willen gütig gegen mich zu erweisen. Wie konnten Sie voraussehen, daß ich eine solche Thörin sein würde?«
Ihre Stimme bebte und brach; sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und noch einmal ließ sie sich ohne Widerstand von Roger's Armen umschlingen.
Roger begann zuerst wieder zu sprechen.
»Ehe wir weiter gehen – ehe jeder von uns Beiden wieder zu seinem eigenen Pfade und zu seinen Pflichten zurückkehrt, möchte ich noch ein Wort von Ihnen hören – die Versicherung, daß Sie mir verzeihen.«
»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen. Wenn ich jetzt die Wahl hätte, so würde ich die Zeit, seit ich Sie kennen lernte, bis zu dieser Minute, jedenfalls noch einmal durchleben.«
»Und werden wir in Zukunft Freunde oder Feinde sein?«
»Ich weiß es nicht – weiß nur, daß ich Sie lieb haben werde, so lange ich lebe, wie ich Sie jetzt lieb habe.«
»Und werden Sie mir zum Abschied einen Kuß geben – den letzten?«
Belinda schlang ohne ein Wort zu erwidern ihre Arme um seinen Nacken.
Diesmal verstand Roger sie nicht falsch. Er empfand in ihrer Hingebung und Inbrunst, daß sie Abschied von ihm nahm für immer.