Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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Johannes ging nicht fort und der Tag der gefürchteten Gesellschaft kam. Allmählich ein wenig freimütiger geworden, hatte er seine Not geklagt, und da war der Wagen vorgefahren, und in dem nahe gelegenen Städtchen hatte man für ihn die passende Kleidung zum Fest eingekauft. Allein damit war seine Unruhe noch nicht gewichen.

»Wollen Sie dann auch bitte sagen, liebe Frau Gräfin«, bat Johannes an jenem Nachmittage, als er mit den Kindern und ihrer Mutter zusammen war, »daß ich wirklich kein Instrument spielen kann. Sorgen Sie doch bitte dafür, daß ich mich still verhalten darf, bitte!«

»Aber, Johannes«, sagte die Gräfin, »das würde doch wirklich sehr unangenehm für mich sein, nach allem, was ich von dir erzählt habe. Man erwartet etwas von dir.«

»Ich kann aber nichts«, sagte Johannes bedrückt.

»Er lügt, Mammi!« rief Olga, »er kann mit Kastagnetten klappern und Tiere nachmachen.«

»O ja, allerlei Tiere, so furchtbar nett!« rief Frieda dazwischen.

»Ist das wahr, Johannes? Na, also!«

Es war allerdings wahr, daß Johannes zur Belustigung seiner beiden kleinen Freundinnen während ihres gemeinsamen Spazierganges den Laut von allerlei Tieren wie Pferd, Esel, Kuh, Hund, Katze, Schwein, Schaf und Ziege nachgemacht hatte. Auch den Pfiff der Vögel konnte er geschickt genug nachahmen, um den beiden Mädchen die größte Bewunderung abzuzwingen. Und in der Tat spielte er auch ein einziges Instrument in sehr verdienstlicher Weise und zwar die echten Klopfer, die jeder Schul- und Gassenjunge in Holland während einiger Monate des Jahres in der Tasche trägt. An manchem Herbsttage hatte er sich, von der Schule heimwärts schlendernd, den Weg gekürzt durch ein scharfes und klares ununterbrochenes ricketick! ricketick! ricketick tack!

Jetzt bettelten die Mädchen, daß er es ihrem Mütterchen auch mal vormachen solle. So holte er denn seine Klopfer, die er selbst verfertigt hatte, und rasselte lustig drauf los.

»Schön!« sagte die Gräfin. »Jetzt müßtest du eigentlich noch dazu tanzen und singen wie die Spanier.«

Tanzen, das ginge nicht, meinte Johannes, wohl aber singen.

So sang er denn allerhand Gassenhauer zu der Begleitung der schrillen klappernden Musik. Die Kinder fanden es wundervoll.

Durch ihre Begeisterung angeregt, begann er lauter Unsinn zu improvisieren. Die Mädchen klatschten in die Hände und wurden immer lustiger und lustiger. Johannes stellte sich in Positur und kündigte seinen Vortrag an, gleich als stände er vor einem Publikum. Die Gräfin setzte sich mit ihren Töchterchen in eine Reihe, und die kleinen Mädchen waren vor Freude ganz ausgelassen.

»Skizzen aus dem Tierleben«, verkündete Johannes, und dann begann er unter beständiger Klapperbegleitung nach der bekannten Melodie des »Karneval von Venedig« zu singen:

»Ne Henne, die aus Japan kam,
beschwor ein Frosch, der dick und lahm,
sie möcht' ihn doch zum Manne nehmen,
dazu wollt' sie sich nicht bequemen.«

Die Mädchen jauchzten und trampelten vor Freude. »Noch mehr, Johannes, noch mehr! noch mehr!« »Köstlich!« rief die Gräfin, jetzt ebenfalls holländisch sprechend.

»Ein Nashorn einer Laus zurief,
es würde platt sie treten;
die Laus gar schnell nach Hause lief,
so kam sie nicht in Nöten.«

»Herr Heuschreck. der im Grase saß,
sprach zum Schimpansen: »He!
erlaubt mir euren Rock zum Spaß,
ich will zum Bal masqué!«

»Ein Hecht, der auf der Schwelle stand,
fragt' seinen Freund beim Mahl,
ob Haar' er in der Suppe fand,
das sei ein Mordsskandal.«

»Die Krabbe, jedem Witze hold,
gibt der Mama 'nen Stoß,
so daß sie von der Treppe rollt,
die Krabbe lacht: »Famos!«

»O pfui!« schrieen die Mädchen. »Wie ungezogen! Noch mehr, Johannes, noch mehr!«

»Ein stumm geborener Stockfisch sprach
einst Fräulein Bückling an:
Ich weiß, daß mir der Kopf fehlt, ach!
und das hast du getan!«

»Der Bandwurm eines Landgendarm,
sprach: Lieber Brigadier!
Wie ist's in deinem Darm so warm,
nie geh' ich mehr von dir!« »Halt! halt! fi donc!« rief die Gräfin, »jetzt wirst du ordinär.«

»Aber nein, Mammi, das ist ja gerade spaßig!« riefen Frieda und Olga aus einem Munde. Weiter, weiter, es ist so furchtbar komisch, bitte, bitte, Mama!«

Johannes aber war durch diese Ermahnung ein wenig in Verwirrung geraten, und die Skizzen aus dem Tierleben wurden nicht weiter fortgesetzt.

Des Abends fuhren die Gräfin und Johannes in der Staatskarosse zu Lady Crimmetart.

Diese bewohnte ein großes Haus, das in einem schönen Park gelegen war. Johannes sah schon von weitem die vielen hellerleuchteten Fenster und die unzähligen Wagen, die am Eingang warteten.

Man hatte eine Art Baldachin ausgespannt und einen langen hellroten Läufer gelegt, damit die Gäste gut beschützt aus ihren Wagen in die prächtige Vorhalle gelangen könnten. Zu beiden Seiten standen die Lakaien in einer Reihe, wohl zwanzig an jeder Seite. Sie sahen sehr imposant aus, alle groß und breitschultrig, und trugen Beinkleider aus gelbem Sammet und gallonierte rote Fracks. Johannes wunderte sich darüber, daß sie alle schon so alt zu sein schienen, denn ihre pomadisierten Haare waren schneeweiß. Das kam indessen nur von dem Puder und gehörte sich so, der Vornehmheit wegen. Wie fühlte Johannes sich klein und erbärmlich, während er diese Reihe von Livreen durchschritt!

Drinnen erstrahlte blendendes Licht. Verlegen erstieg Johannes die breiten Stufen einer hochgewölbten Treppe aus vielfarbigem Marmor. Er sah mit halbem Auge Blumen, elektrische Lampen, bunte Teppiche, breite glänzend weiße Herrenoberhemden unter schwarzen Fracks, entblößte Frauennacken, mit Juwelen und weißem Pelz geschmückt. Und er hörte ein gedämpftes Stimmengewirr, das Rauschen seidener Gewänder und das regelmäßige Abrufen unzähliger Namen.

Oben an der Treppe sah man das aufgedunsene Gesicht der Lady Crimmetart leuchten, wie ein unsicheres Signal auf einem gefährlichen Bahntrajekt. Sämtliche Gäste kamen auf sie zu: dann wurden ihre Namen abgerufen, und sie bekamen eine Hand und verneigten sich.

»Ihr Name, mein Herr?« fragte ein Riesenlakai, während er sich seitlings zu ihm herüberbeugte. Johannes stammelte etwas, das die Gräfin indessen anders wiederholte.

»Professor Johannes aus Holland!« hörte er rufen. Er verneigte sich, bekam einen Händedruck und sah das gepuderte Gesicht, zu einem süßlich grinsenden Lächeln verzerrt. Lady Crimmetarts Hals und Arme waren so entsetzlich dick und nackt, daß Johannes erschrak und kaum hinzusehen wagte. Eine ungeheure Menge von Edelsteinen funkelte darauf. Große flache, gleichmäßig viereckige Diamanten wechselten mit birnenförmigen Perlen ab. In ihrer Haartour schwankten drei weiße Straußenfedern. Sie hatte keine Tiere bei sich, wohl aber ihren Fächer und ihren Krückstock mit dem goldenen Griff.

»Wie geht es dir?« fragte die grobe Stimme. Aber um eine Antwort schien es ihr nicht zu tun zu sein, denn bevor Johannes noch hatte antworten können, daß er sich recht wohl fühle, grinste sie bereits dem nächsten entgegen. Neben ihr stand ein untersetzter dicker Herr mit einem glänzenden kahlen Schädel und rotem Gesicht mit scharfen Furchen und einer großen knochigen Nase; genau so wie die Köpfe, die man bisweilen an den Griffen von Spazierstöcken und Regenschirmen zu sehen pflegt. Das war Lord Crimmetart, und er verabfolgte Johannes einen derben Händedruck.

Mehrere Stunden irrte Johannes jetzt traurig und einsam durch die unruhig wogende Menge, bis er beinahe krank wurde von all dem gedämpften Geräusch, dem Geplauder, dem Kleiderrauschen, dem Funkeln von Licht und Edelsteinen, dem Schimmern von seidenen Gewändern, Livreen, entblößten Nacken und weißen Oberhemden, dem betäubenden Duft von Essenzen und Blumen. Es war so voll, daß er sich hin und wieder kaum zu rühren vermochte, und die Herren und Damen redeten alle ganz nahe an seinen Ohren. Wie sehnte er sich nach einem stillen Winkel und einem ganz alltäglichen Menschen! Ein jeder sagte etwas, nur er nicht, niemand ging so verlassen umher wie er. Aber er begriff nicht, was die andern sich wohl alle zu erzählen haben mochten. Denn wenn er hin und wieder ein paar Worte eines Gespräches auffing, dann hörte er, daß man sich über den Lärm in dem Saal und über die wundervolle Gesellschaft unterhielt. Aber die Menschen konnten doch unmöglich zusammengekommen sein, um sich das zu sagen.

Um wieviel reizender erschien Johannes jetzt das Elfenfest in dem Kaninchenbau in den Dünen!

Jetzt erklang die Musik eines Streichorchesters, das hinter grünen Lorbeersträuchern verborgen war. Die Klänge weckten in Johannes ein beinahe schmerzliches Verlangen, und unbemerkt setzte er sich ganz dicht in die Nähe und ließ die Menschen immerfort an sich vorüberziehen, während er träumend und feuchten Auges vor sich hinstarrte und der stillen Dünen gedachte und des rauschenden Meeres in mondheller Nacht.

»Professor Johannes, ich möchte Sie mit Professor von Pennewitz bekannt machen,« dröhnte es ihm plötzlich in den Ohren. Da stand Lady Crimmetart neben einem kleinen Männchen mit spärlichen grauen Locken, die ihm bis über den Kragen fielen. Dem Traumbild des kleinen Johannes glich er nicht im mindesten.

»Dies ist ein Wunderkind, Professor von Pennewitz, ein junger Dichter, der seine eigenen Kompositionen vorträgt, und außerdem ein berühmtes Medium. Sie werden sicherlich interessante Dinge mit ihm zu besprechen haben.«

Darauf eilte Lady Crimmetart wieder zu ihren übrigen Gästen und ließ die beiden zurück, die sich eifrig voreinander verneigten. Johannes, konfus und verlegen, während von Pennewitz sich die Hände rieb und lächelnd von einem Fuß auf den andern wippte.

Jetzt wird das Examen beginnen, dachte Johannes. Und er wartete geduldig, wie ein Schlachtopfer, durch was für gelehrte Fragen dieser große Mann ihn nun wohl in seiner ganzen Dummheit an den Pranger stellen würde.

»Äh ... kennen Sie die Familie hier schon lange?« fragte von Pennewitz, während er immerfort durch die gespitzten Lippen die Luft ausblies, mit gespreizten Fingern an seiner Brille herumrückte und darüber hinweg forschende Blicke auf Johannes richtete.

»Nein, gar nicht,« antwortete Johannes leise und kopfschüttelnd.

»Nicht?« antwortete von Pennewitz, während er sich vergnügt die Hände rieb und noch immer von einem Fuß auf den andern wippte.

Und dann fuhr er in schlechtem Englisch fort:

»So, so, das freut mich, ich auch nicht. Komische Menschen, finden Sie nicht auch, junger Mann?«

Johannes, den die Vertraulichkeit dieses großen Mannes ein wenig aufmunterte, bejahte zögernd.

»Gibt es in Holland auch solche Typen? – dann doch sicher in bescheideneren Grenzen – ha! ha! ha! – diese sind erstaunlich reich. Haben Sie ihren Champagner schon gekostet? – nicht? Na, dann müssen Sie mal mitkommen ans Büfett – es ist der Mühe wert, das kann ich Ihnen sagen.«

Froh, daß er sich nun doch wenigstens endlich einem Menschen anschließen konnte, folgte Johannes dem kleinen Mann, der ihn mit sich durch das Gedränge schleppte.

Am Büfett tranken sie Champagner.

»Aber, Herr Professor,« sagte Johannes, »ich habe doch gehört, daß Lady Crimmetart so sehr klug sein soll.«

»So, so,« sagte der Professor, während er wiederum über seine Brillengläser hinweg einen scharfen Blick auf Johannes richtete, und fuhr dann kopfschüttelnd fort: »Ja, ja, darüber will ich auch nichts sagen. Viel gereist, – Papa Besitzer einer Erziehungsanstalt – überall was aufgeschnappt – aus der Zeitung kann man heutzutage auch allerhand lernen – lesen Sie Zeitungen, junger Mann?«

»Nicht oft, Herr Professor,« antwortete Johannes.

»Schön, seien Sie damit auch nur recht vorsichtig. Ich möchte Ihnen einen doppelt guten Rat geben: Lesen Sie wenig Zeitungen und essen Sie wenig Austern. Vor allen Dingen essen Sie in Rom keine Austern. Ich bin soeben Zeuge eines fatalen Falles von Austernvergiftung gewesen. Es handelte sich um einen Studenten in Rom.«

Johannes nahm sich vor, in Rom alles andere lieber zu essen als Austern.

»Ist Lord Crimmetart auch so klug, Herr Professor?« fragte Johannes.

»Aalglatt ist er jedenfalls – um Lord und vielfacher Millionär zu werden, und das nur durch die Erfindung sogenannter blutreinigender Pillen, dazu muß man entschieden ein schlauer Racker sein. Versuchen Sie es doch mal! Ha! ha! ha!«

Der Professor lachte herzlich, blies und schnaubte, schob sein künstliches Gebiß hörbar hin und her und trank sein Glas aus. Darauf sagte er:

»Aber denken Sie daran, junger Mann, daß Sie dann nicht heiraten, ehe Sie ihr Schäfchen im Trocknen haben. Das war ein dummer Streich von ihm. Er könnte jetzt natürlich was viel schöneres bekommen, er könnte sogar Gräfin Dolores bekommen, wenn er wollte.«

Johannes fühlte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg.

»Dort bin ich zu Gast, Herr Professor,« sagte er ein wenig verletzt.

»So, so, so,« sagte der Professor und nickte. »Na, ich habe ja auch nichts schlechtes von ihr gesagt. Eine reizende Frau, eine bildschöne Frau! Sie wohnen also bei ihr? So! so! so!«

»Seine Gnaden der Bischof,« rief die schwere Stimme der Lady Crimmetart im Vorübergehen, während sie sich eiligst zum Eingang drängte. Neugierig blickte Johannes nach der Mitra und dem vergoldeten Krummstabe aus. Aber er sah nur einen großen, ganz alltäglich aussehenden Herrn in einem schwarzen Anzug mit Gamaschen und einem glattrasierten, wohlgepflegten gekünstelt lächelnden Gesicht, der in der Hand einen komischen platten Hut trug, dessen Rand durch kleine Fäden in die Höhe gehalten wurde, gleich als ob er ihm sonst über die Nase rutschen könne. Lady Crimmetart empfing ihn ebenso herzlich wie Tante Serena den Pfarrer zu empfangen pflegte. Johannes wünschte von ganzem Herzen, daß er doch noch bei Tante Serena wäre.

»Mein Herr,« flüsterte ihm da jemand ins Ohr, »Mylady läßt fragen, ob Sie Ihr Instrument mitgebracht haben, und ob Sie jetzt nicht anfangen möchten.«

Erschreckt blickte Johannes sich um. Es war ein vornehmer Herr mit aufgezwirbeltem Schnurrbart, Kniehosen aus schwarzem Atlas und einem roten Frack. Am Ende gar ein Zeremonienmeister.

»Ich habe kein Instrument bei mir,« stotterte Johannes – und dabei fühlte er die Klopfer in seiner Tasche.

»Ich kann nichts,« wiederholte er sehr unglücklich.

Der schöngekleidete Herr blickte sich nach rechts und nach links um, ob er sich etwa geirrt haben könne. Darauf ging er auf einen Augenblick fort, und kam dann in Begleitung der Gräfin Dolores zurück.

»Was soll das denn heißen, lieber Johannes? du darfst uns jetzt nicht im Stich lassen.«

»Aber, Frau Gräfin, ich kann wirklich nichts.«

Der elegante Herr stand da und blickte kühl und ernsthaft vor sich hin, gleich, als seien ihm solche Launen von Wunderkindern nichts neues. Johannes fühlte, wie seine Stirn kalt und feucht wurde.

»Aber, gewiß, Johannes, du wirst großen Erfolg haben.«

»Was darf ich ankündigen?« fragte der Herr.

Johannes begriff die Frage nicht, und so erteilte die Gräfin die gewünschte Antwort.

Und alsbald stand er in einem Kreis von Gästen neben einem Klavier und sah hunderte von Augen, teils mit Augengläsern, teils ohne, auf sich gerichtet. Neben Lady Crimmetart saß der Bischof und schaute ihn streng und bedenklich an mit hartem kalten Blick aus hellfarbigen Augen.

Der Zeremonienmeister rief mit lauter Stimme: »Holländische Nationalhymnen!« und da mußte der arme kleine Johannes klappern und singen, so viel er nur konnte. Um sich Kraft zu geben, blickte er nur immerfort in das schöne Antlitz der Gräfin, und versuchte sich einzubilden, daß er nur zu ihrem Vergnügen sänge. Er tat wirklich, was er konnte, begann erst mit den traurigen Liedern »O Mutter, der Seemann« und »Wir gehen nach Amerika« und sang dann »Die Henne aus Japan« und »Der zufriedene Bandwurm« – sein ganzes Repertoir.

Man hörte ihm zu, und starrte ihn an, gleich als sei er ein Wundertier. Aber niemand lachte; weder die blauen, hervorquellenden Augen der Hausfrau, noch die strengen Augen des Bischofs, keines der hunderte von Augenpaaren der reich geschmückten und vornehmen Herren gab auch nur das allermindeste Zeichen einer fröhlichen Regung kund. Das war nun zwar kein Wunder, weil sie die Worte nicht verstanden – aber ermutigend war es keineswegs. Alsbald blickten die meisten ihn nicht mehr an, und begannen unter sich zu plaudern und zu lachen.

Als er aufhörte, erscholl zu seinem großen Erstaunen einiger Applaus, und Gräfin Dolores kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand, indem sie ihn zu seinem »wundervollen Erfolg« beglückwünschte. Auch Lady Crimmetart brüllte ihm zu, daß es »ungeheuer interessant« gewesen sei. Eine große hagere junge Dame in weißem Atlaskleid, deren heraustretende Schlüsselbeine durch eine zehnfache Perlenschnur nur notdürftig verborgen wurden, drückte ihm mit allerliebstem Lächeln die Hand. Sie sei so froh, sagte sie, daß sie den Karneval von Venedig nun endlich einmal in der Originalsprache und von einem Einwohner der Stadt habe vortragen hören. »Außerordentlich interessant! Es muß doch nett sein, Professor, in einer Stadt zu wohnen, die gänzlich im Wasser liegt und wo alle Menschen auf Holzpantinen umhergehen.

»War dies nun alles eigene Komposition, Professor Johannes?« fragte eine häßliche, gutmütig aussehende Dame in einem einfachen schwarzen Kleide. Und mehrere andere Damen reiferen Alters baten ihn freundlich, ob sie sich ihm selbst vorstellen dürften. Diese Zeichen des Beifalls munterten ihn ein wenig auf, trotzdem er nicht recht daran glauben konnte, daß es wirklich so gemeint war. Als er sich indessen einer kleinen Gruppe großer, breitschultriger Briten näherte, mit hohen Stehkragen, gesundfarbigen, glattrasierten Wangen und tadellos frisiertem welligem Blondhaar, welche, die eine Hand lässig in der Hosentasche, eifrig damit beschäftigt waren. Champagner zu trinken – hörte er Ausdrücke wie »infam! abscheulich! und Humbug«, und begriff sehr wohl, daß er das auf sich zu beziehen hatte.

Gleich darauf sollte es ihm klar werden, was hier denn wirklichen Beifall fand. Eine üppige junge Dame mit sehr kunstvoll frisiertem Haar und schönen weißen Zähnen sang ein deutsches Lied mit Klavierbegleitung. Sie machte mit ihrer Stimme Triller und Läufer wie eine Spieldose. Den Kopf bewegte sie unaufhörlich hin und her, und ihr Mund öffnete sich sehr weit – der Klang, der ihm entquoll, ging Johannes durch Mark und Bein. Was ihr Gesang bedeutete, war schwer zu verstehen, denn sie sprach ein gar wunderliches Deutsch; aber allem Anschein nach regte sie sich heftig auf über einen ungetreuen Geliebten und wollte schier vergehen vor lauter Leidenschaft.

Als sie geendet hatte und sich freundlich lächelnd verneigte, erklang ein viel lebhafterer Applaus, und man rief: »bis!« und »encore!« was Johannes nach seinen Vorträgen nicht gehört hatte, und was er jetzt auch nicht rufen mochte.

In seiner Verstimmung suchte er Gräfin Dolores auf. War sie doch hier für ihn der einzige Quell der Vertraulichkeit und des Trostes. Er bat, ob er nicht heimgehen dürfe, da er müde sei und ja doch wohl nicht hierher passe.

Gräfin Dolores sah auch nicht allzu befriedigt aus. Sie hatte keine Ehre mit ihm eingelegt. Dennoch sagte sie:

»Aber, mein Junge, du mußt dich nicht entmutigen lassen: du hast ja noch andere Talente. Hast du Ranji-Banji-Singh schon gesprochen?«

Vor einer Weile hatte Johannes den langen Indier hochaufgerichteten Hauptes mit stattlichem Schritt durch die bunte Menge gehen sehen. Er hatte breite Nasenflügel, schöne große, leicht umschleierte Augen, eine hellbraune Haut, wundervolles bläulich-schwarzes Lockenhaar und einen dünnen Bart.

Seinen weißen Turban und das Gewand aus gelber Seide trug er mit vornehmer Würde, und wenn ihn jemand anredete, so verneigte er sich tief und graziös, schloß die Augen und lächelte aufs verbindlichste, während er seine schlanke Hand mit den leicht auswärts gebogenen Fingerspitzen auf die Brust legte.

Johannes hatte ihm mit großer Aufmerksamkeit nachgeblickt, wie einem Menschen, zu dem er sich mehr hingezogen fühlte als zu allen andern, und es hatten sich ihm Visionen aufgetan von tiefblauen Himmeln, majestätischen Elefanten, rauschenden Palmen und schimmernden Marmorpalästen an heiligem Stromufer. Er hatte indessen nicht den Mut gehabt ihn anzureden.

Jetzt aber suchten ihn die Gräfin und Johannes gemeinsam auf und fanden ihn bei Lady Crimmetart in einem Kreis von Damen, denen er abwechselnd und mit höflichem Lächeln Rede zu stehen schien.

»Herr Ranji-Banji-Singh«, sagte Gräfin Dolores, »sind Sie schon mit Professor Johannes aus Holland bekannt geworden? Er ist ein ausgezeichnetes Medium und wird Ihnen sicherlich sympathisch sein.«

Wieder zeigte der Indier liebenswürdig lächelnd seine blitzend-weißen Zähne und reichte Johannes die Hand. Der aber fühlte, daß es ihm nicht von Herzen kam.

»Sie sind doch gewiß auch Medium, Herr Singh?« fragte eine der Damen, »ein so berühmter Theosoph wie Sie.«

Ranji-Banji-Singh warf den Kopf zurück, machte mit den fest zusammengeschlossenen Fingern eine abwehrende Bewegung und sagte dann in gebrochenem Englisch:

»Theosophen nicht Mediums. Medium ist Orgeldreher, Theosoph Komponist. Mediumkünste stehen tief, Straßenkünstler für Geld. Theosoph und Jogi kann alles ebensogut, kann viel mehr, aber zeigt es nicht. Das ist gering und unwürdig.«

Die schlanke braune Hand gestikulierte sehr verächtlich vor Johannes' Nase umher, und die dunklen Züge des Indiers verzogen sich, gleich als müsse er etwas Bitteres herunter schlucken.

Das war Johannes denn doch ein wenig zu arg. Verdrießlich sagte er, da er sich von dem einzigen, vor dem er gerade eine gute Rolle zu spielen gehofft hatte, so verkannt sah:

»Ich mache niemals Künste, mein Herr, ich zeige nichts, ich bin kein Medium.«

»Nicht professionell, kein Berufsmedium«, sagte Gräfin Dolores, um die Sache zu retten.

»Also Sie befassen sich nicht mit Tischrücken oder Geisterschriften oder Blumen regnen lassen?« fragte der Indier, indem seine Züge sich erhellten.

»Nein, mein Herr, durchaus nicht«, sagte Johannes mit Nachdruck.

»Das hätte ich nur wissen sollen!« rief Lady Crimmetart laut, während ihr die Augen beinahe aus dem Kopf zu rollen schienen. »Aber Herr Singh, können Sie uns denn nicht für dies eine einzige Mal etwas vorführen? etwas ganz Außergewöhnliches? ein fliegendes Tamburin oder eine Violine, die von selbst spielt, wenn wir Sie so freundlich darum bitten und wenn ich Sie mal ganz lieb ansehe, ach bitte, bitte!«

Und dabei warf sie dem Herrn Ranji-Banji-Singh einen verliebten Blick zu, der Johannes nichts weniger als eifersüchtig machte.

Der Theosoph verneigte sich wieder lächelnd mit halbgeschlossenen Augen und schwer gerunzelten Brauen, gleich als fühle er sich gänzlich gegen seinen Willen dazu gezwungen, schließlich doch nachzugeben.

Darauf begab man sich in ein Boudoir mit Glaswänden und exotischen Pflanzen, eine Art kleinen Wintergartens, der in ein weiches Dämmerlicht gehüllt war. Dort setzte man sich um einen Tisch, während der Indier mitten in dem Kreise Platz nahm. Johannes wurde von ihm sofort mit den Worten ausgeschlossen: »Antipathisch – schlechter Einfluß.«

»Daran ist gewiß Keesje noch immer schuld«, dachte Johannes bei sich.

Darauf wurden Schiefertafeln beschrieben, die von dem Herrn Singh mit einer Hand unter den Tisch gehalten wurden. Man hörte das Kratzen des Griffels, und dann kamen die Tafeln zum Vorschein, beschrieben mit Sprüchen in allerhand fremden Sprachen: Englisch, Lateinisch und Sanskrit, die von dem Indier übersetzt wurden und sehr weise und erhabene Lehren zu enthalten schienen.

Aber da hatte Johannes das Unglück, zu bemerken, daß der Theosoph die Tafeln, die beschrieben werden sollten, schleunigst vertauschte, in dem Augenblick, da er die Aufmerksamkeit aller Anwesenden durch andere Dinge fesselte. Und zu dieser unheilvollen Wahrnehmung fügte Johannes die noch schlimmere Unvorsichtigkeit, laut und triumphierend auszurufen: »Ich sehe es schon, er vertauscht die Tafeln.«

Es entstand Verwirrung. Ranji-Banii-Singh indessen führte mit der denkbar größten Ruhe die angeblich vertauschte Tafel wieder zu Tage und zeigte mit triumphierendem Lächeln, daß sie unbeschrieben sei.

Johannes war verblüfft; er wußte doch ganz genau, daß er den Betrug gesehen hatte, und rief laut: »Und ich habe es doch gesehen!«

»Du solltest dich was schämen,« donnerte die Stimme der Lady Crimmetart, und sämtliche Damen riefen entrüstet aus: »Es ist ein Skandal! es ist ein Skandal!«

Ranji-Banji-Singh indessen sagte mit höhnischem Lächeln: »Ich habe nur Mitleid, Yogi kennt nicht Haß, sondern beklagt Missetäter. Schlechtes Karma, unglücklicher Mensch dieser.«

Das stimmte nun allerdings durchaus nicht mit der Ansicht des Herrn van Lieverlee überein, der das Karma des Johannes als ein außerordentlich günstiges bezeichnet hatte. Aber jetzt sah auch Gräfin Dolores ein, daß sie an ihrem Schützling hier keine Freude mehr erleben würde, und so ging sie denn mit ihm fort, gutmütig genug, ihm keinen Vorwurf daraus zu machen. Im Gegenteil, sie versuchte sogar noch scherzend, ihn zu trösten.

In der Halle von Gräfin Dolores' Hause sah Johannes eine Menge Zeitungen liegen, und entgegen dem Rat des Professors von Pennewitz begann er sie eifrig zu durchblättern. Da blieb sein Blick auf einem Bericht aus Deutschland haften, in dem mitgeteilt wurde, daß der Streik der Bergleute beendet sei. Die Arbeiter hatten verloren.

Lang währte ihm die schlaflose Nacht. Auch die arme Helene war unruhig und weinte unaufhörlich.


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