George Eliot
Adam Bede - Zweiter Band
George Eliot

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Siebenunddreißigster Abschnitt

Die Reise in Verzweiflung

Hetty blieb den ganzen Tag so unwohl, daß die Wirtsleute keine Fragen an sie richten konnten, ja daß sie selbst über das Elend, welches ihr nun bevorstand, nicht nachzudenken vermochte. Sie fühlte nur, all ihr Hoffen sei zertrümmert und statt ein rettendes Asyl zu finden, habe sie nur eine neue Wüste betreten, wo sie kein Ziel vor Augen sah. Für den Augenblick zog sie zwar körperliche Ermattung, die Ruhe eines behaglichen Bettes und die Pflege der gutmütigen Wirtin von ihren Gedanken ab, aber als Schlaf und Ruhe ihr die Kraft wiedergegeben hatten, um geistiges Leiden in seiner ganzen Schärfe empfinden zu können, als sie am andern Morgen erwachte und das Tageslicht heraufsteigen sah, das wie ein grausamer Zuchtmeister sie zu einem neuen Rundgang verhaßter, hoffnungsloser Arbeit anzutreiben schien, da fing sie an zu überlegen, was sie thun müsse, sich zu erinnern, daß sie kein Geld mehr habe, und die Aussicht, wieder hinauswandern zu müssen in die Fremde, in dem neuen Lichte ihrer auf dem Herwege nach Windsor gesammelten Erfahrungen ins Auge zu fassen. Aber wohin konnte sie sich wenden? Einen Dienst anzunehmen war für sie unmöglich, selbst wenn sie ihn hätte bekommen können; sie sah nur Armut und Bettelei vor sich. Sie erinnerte sich eines armen Geschöpfes, das eines Sonntags morgens, halb tot vor Kälte und Hunger, ein kleines Kind in den Armen, an der Kirchthür von Hayslope gefunden war; es war gerettet worden und dann ins Armenhaus gebracht. Das Armenhaus! Der Leser wird wohl kaum begreifen, wie dies Wort so schwer auf Hetty lasten konnte, aber sie war unter Leuten aufgewachsen, die in ihren Empfindungen selbst gegen Arme etwas hart zu sein pflegten, die bei der Feldarbeit, von der sie lebten, in Mangel und Elend nicht ein hartes, unvermeidliches Schicksal, wie es wohl in großen Städten erscheinen mag, sahen, sondern nur die Folge von Müßiggang und Laster, und Müßiggang und Laster waren es nach ihrer Ansicht, was sie ihr schweres Armengeld kostete. Für Hetty kam das Armenhaus gleich nach dem Gefängnis, und fremde Leute um etwas zu bitten – zu betteln, das lag für sie mit unerträglicher Schande in derselben schrecklichen weiten Ferne, der je nahe zu kommen Hetty ihr ganzes Leben lang für unmöglich gehalten hatte. Aber nun drängte die Erinnerung an jenes unglückliche Geschöpf, welches sie selbst zu Josua Rann ins Haus hatte bringen sehen, ihr das neue schreckliche Bewußtsein auf, daß sie jetzt selbst nur noch wenig von demselben Schicksal entfernt sei. Und mit dieser Furcht vor Schande mischte sich die Furcht vor körperlicher Beschwerde; denn Hetty war weichlich wie ein wohlgenährtes, glattes Schoßhündchen.

Wie sehnte sie sich, wieder in ihrer ruhigen Heimat zu sein, wieder geliebt und gepflegt zu werden, wie bisher! Das Schelten ihrer Tante um jede Kleinigkeit wäre jetzt ihren Ohren Musik gewesen; sie verlangte danach; als sie es noch hörte, hatte sie ja nur Kleinigkeiten zu verbergen gehabt. War das dieselbe Hetty, die in der Milchkammer, wo die Schneebälle zum Fenster hereinguckten, Butter gemacht hatte, sie die nun flüchtig geworden war, der ihre Freunde gewiß nicht wieder die Thür öffneten, die hier in einem fremden Bette lag und wußte, sie habe kein Geld mehr, um für ihre Pflege zu bezahlen, und werde den fremden Leuten einige von ihren Sachen anbieten müssen?! – Da fielen ihr das Medaillon und die Ohrringe ein und sie griff nach ihrem Korbe, der in der Nähe stand, und breitete den Inhalt vor sich auf dem Bette aus. Medaillon und Ohrringe waren da, in den kleinen, mit Seide gefütterten Etuis, und daneben ein schöner silberner Fingerhut, am Rande mit der Umschrift »Gedenke mein«, den ihr Adam geschenkt hatte; ferner ihre kleine Börse mit dem letzten Schilling und ein Taschenbuch von rotem Leder. Die schönen kleinen Ohrringe mit den zarten Perlen und Granaten – wie sehnsüchtig hatte sie in dem hellen Sonnenschein am dreißigsten Juli sie sich anprobiert! Jetzt trug sie kein Verlangen sie anzulegen; ihr Kopf mit den dunkeln Locken sank matt ins Kissen zurück, und die tiefe Trauer, die ihr auf Stirn und Augen lag, würde jedem Beschauer eine zu schreckliche Erinnerung hinterlassen haben. Doch faßte sie mit der Hand nach dem Ohr; sie trug ja noch dünne Goldstreifen darin, die auch etwas wert sein mußten. Gewiß bekam sie für diese Putzsachen einiges Geld! Die von Arthur hatten sicher viel gekostet. Die Wirtsleute waren freundlich gegen sie gewesen; vielleicht halfen sie ihr die Sachen verkaufen.

Aber das Geld dafür würde nicht lange vorhalten; was sollte sie machen, wenn es zu Ende wäre? Wohin sich wenden? Der schreckliche Gedanke an Mangel und Not drängte ihr wieder die Überlegung auf, ob sie nicht zu Onkel und Tante zurückkehren, ihnen alles gestehen und sie um Mitleid und Vergebung anflehen solle. Aber sie bebte davor zurück wie vor glühendem Erz. Die Schande zu ertragen vor Onkel und Tante, vor Marie Burge und den Bedienten auf dem Schloß und den Leuten in Broxton und allen, die sie kannten – das war unmöglich. Nie durften sie erfahren, was mit ihr vorgegangen war. Was aber sonst beginnen? Sie wollte von Windsor fort, sich wieder auf die Reise machen wie in den letzten Tagen, in die weiten grünen Felder gehen mit den hohen Hecken, wo niemand sie sähe und kenne, und da würde sie vielleicht in der letzten Not den Mut finden, sich in einem Teiche zu ertränken, wie der in dem Sumpflande auf dem Wege nach Treddleston. Ja, sobald als möglich wollte sie von Windsor fort; es war ihr unangenehm, daß die Leute im Wirtshause etwas von ihr wußten und erfahren hatten, sie sei wegen des Kaptän Donnithorne gekommen; sie mußte sich etwas ausdenken, weshalb sie nach ihm gefragt habe.

Damit legte sie die Sachen wieder in den Korb und entschloß sich, aufzustehen und sich anzukleiden, ehe die Wirtin heraufkäme. Sie hatte gerade das lederne Taschenbuch in der Hand, als ihr einfiel, auch darin könne vielleicht noch etwas stecken, was Geldeswert habe; denn ohne zu wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen solle, scharrte sie alles zusammen, um so lange wie möglich leben zu können, und wenn man recht begierig nach etwas verlangt, dann sucht man leicht auch da, wo es zu finden kaum möglich ist. Aber nein, in dem Taschenbuch waren nur Nadeln und getrocknete Blumen zwischen den Papierblättern, wo sie ihre kleinen Rechnungen aufgeschrieben hatte. Aber auf einem dieser Blätter stand ein Name, der, so oft sie ihn auch vorher gesehen hatte, jetzt wie eine neue Botschaft ihr durch die Seele stammte. Der Name war: Dina Morris in Snowfield, ein Bibelvers stand darüber; beide hatte Dina eines Abends, wo sie zusammensaßen und Hetty das Taschenbuch offen vor sich liegen hatte, eigenhändig mit Bleistift hineingeschrieben. Den Spruch las Hetty jetzt nicht; nur der Name fesselte sie. Jetzt zum erstenmale erinnerte sie sich ohne Gleichgültigkeit an die herzliche Güte, welche Dina ihr bewiesen hatte, und an jene Worte in der Schlafkammer, daß sie an ihr eine Freundin haben werde, wenn sie in Not sei. Wie, wenn sie zu Dina ginge und sie um Hilfe bäte? Dina sah die Dinge anders an als sonst die Leute; sie war für Hetty ein Rätsel, aber daß sie immer gütig sei, soweit kannte sie Hetty. Daß Dina mit Vorwürfen und Verachtung ihr Antlitz von ihr wende, mit ihrer sanften Stimme schlecht von ihr spräche oder über ihr Unglück als eine gerechte Strafe sich freue, das konnte sie sich gar nicht denken. Dina schien gar nicht der Welt anzugehören, deren Blicke Hetty fürchtete wie glühendes Feuer. Und doch selbst zu ihr mit flehendem Geständnis sich zu wenden, auch davor bebte Hetty zurück; sie konnte es nicht über sich gewinnen zu sagen: »ich will zu Dina gehen;« nur als eine Möglichkeit schwebte es ihr vor, falls sie nicht den Mut gewinnen sollte, zu sterben.

Die gute Wirtin war überrascht und erstaunt, als Hetty nett gekleidet und äußerlich wieder ganz Herr ihrer selbst zu ihr in die Wohnstube trat. Sie sei heute wieder ganz wohl, sagte Hetty; sie sei nur sehr erschöpft und angegriffen gewesen von der Reise, denn sie sei weither gekommen, um nach ihrem Bruder sich zu erkundigen, der fortgelaufen und vielleicht Soldat geworden sei, und da er den Kaptän Donnithorne früher gut gekannt habe, so hätte sie sich bei diesem erkundigen wollen. Die Geschichte hinkte etwas, und die Wirtin sah Hetty ungläubig an, als sie so sprach, aber sie zeigte heute früh so viel Entschlossenheit und Selbstvertrauen statt der gestrigen Hilflosigkeit und Niedergeschlagenheit, daß die Wirtin kaum etwas zu erwidern wußte. Sie lud sie nur zum Frühstück ein, und nach einiger Zeit holte Hetty ihre Ohrringe und das Medaillon hervor und fragte den Wirt, ob er ihr wohl behülflich sein könne, die Sachen zu Gelde zu machen. Die Reise, sagte sie, habe sie viel mehr gekostet, als sie erwartet, und nun habe sie kein Geld zu der Rückreise, die sie sofort antreten wolle.

Die Wirtin kannte die Schmucksachen schon, da sie den Inhalt von Hettys Körbchen gestern untersucht und sich mit ihrem Manne darüber unterhalten hatte, wie ein Mädchen vom Lande so schöne Sachen haben könne; sie war dabei in der Überzeugung bestärkt worden, Hetty sei von dem hübschen jungen Offizier elend betrogen.

»Ja wohl,« sagte der Wirt, als Hetty ihre kleinen Schätze vor ihm ausgebreitet hatte, »wir könnten sie zu dem Goldschmied bringen, der hier nebenan wohnt, aber du lieber Himmel, der giebt ja nur ein Viertel von dem was sie wert sind. Und Ihr trennt Euch doch wohl auch nicht gerne davon?« fügte er mit einem forschenden Blick auf Hetty hinzu.

»O, mir liegt nicht viel dran,« erwiderte Hetty eilfertig; »wenn ich nur Geld zur Rückreise bekomme.«

»Ja, und die Leute denken vielleicht, die Sachen wären gestohlen, da Ihr sie verkaufen wollt,« fuhr der Wirt fort; »es ist ein bißchen auffallend, daß ein Mädchen wie Ihr so schöne Schmucksachen hat.«

Vor Ärger trat Hetty das Blut ins Gesicht. »Ich bin von ehrlichen Leuten,« sagte sie, »und kein Dieb.«

»Nein, das seid Ihr nicht, dafür steh' ich,« sagte die Wirtin, »und du solltest so was gar nicht sagen,« wandte sie sich unwillig an ihren Mann; »sie hat die Sachen geschenkt bekommen, das ist doch klar genug.«

»Ich meinte ja gar nicht, daß ich das glaubte, entschuldigte sich der Mann, »sondern bloß, was der Goldschmied vielleicht dächte und weshalb er uns nicht viel dafür geben würde.«

»Nun,« sagte die Frau, »wie wär's denn, wenn du ihr etwas auf die Sachen vorschössest? sie kann sie später einlösen, wenn sie wieder zu Haus ist; wenn wir aber in zwei Monaten nichts von ihr hören, dann können wir damit machen, was wir wollen.«

Bei diesem Vorschlag zur Güte kann ich die Wirtin nicht gegen den Verdacht schützen, daß sie zum Lohne für ihre Gutmütigkeit sich nicht die Hoffnung gemacht habe, schließlich selbst in den Besitz der Ohrringe und des Medaillons zu kommen, vielmehr hatte sich der Eindruck, den sie damit auf die Krämerfrau nebenan machen wollte, ihrer raschen Einbildungskraft bereits auf das lebhafteste dargestellt. Der Wirt nahm die Schmucksachen in die Hand und warf nachdenklich die Lippen auf. Er fühlte ein gewisses Wohlwollen für Hetty, aber wie viele, die uns wohlwollen, sind doch gern zufrieden, ihren kleinen Nutzen an uns zu machen! Unsere Wirtin ist herzlich gerührt, wenn wir ausziehen, erklärt uns, wie sehr sie uns achtet, und nimmt den innigsten Anteil an unserm Glück, wenn sich ein edelmütiger Wohlthäter für uns findet, aber zu gleicher Zeit überreicht sie uns eine Rechnung, bei der sie so viel herausschlägt wie möglich.

»Wie viel braucht Ihr, um nach Haus zu kommen, Mädchen?« fragte der wohlwollende Wirt endlich.

»Drei Pfund,« antwortete Hetty, die in Ermangelung jedes andern Maßstabes die Summe vorschlug, mit der sie sich auf die Reise gemacht hatte, und bange war zuviel zu fordern.

»Nun, drei Pfund will ich Euch wohl vorschießen,« erwiderte der Wirt, »und wenn Ihr sie mir später bezahlen und die Schmucksachen wieder haben wollt, so könnt Ihr das ruhig thun; der grüne Mann läuft Euch nicht davon.«

»Ich werde Euch recht danken, wenn Ihr mir das geben wollt,« sagte Hetty, die froh war, daß sie nicht zu dem Goldschmied zu gehen und sich angaffen und ausfragen zu lassen brauche.

»Aber wenn Ihr die Sachen wieder haben wollt, da dürft Ihr nicht gar zu lange damit warten,« bemerkte die Wirtin; »wenn Ihr zwei Monat vergehen laßt, dann nehmen wir an, Ihr wollt sie nicht mehr.«

Mit dieser Verabredung waren alle zufrieden. Der Wirt, weil er am Ende bei dem Verkaufe der Sachen ein gutes Geschäft zu machen hoffte, und die Wirtin, weil sie ihren Mann bereden zu können glaubte, daß er sie behielte. Und sie thaten ja auch der armen Hetty einen Gefallen, dem hübschen, anständigen Mädchen, das offenbar in böser Not war. Für Kost und Pflege in ihrem Hause lehnten sie jede Bezahlung ab. Und um elf Uhr nahm Hetty mit derselben ruhigen, entschlossenen Miene von ihnen Abschied, die sie den ganzen Morgen gehabt hatte, und bestieg die Kutsche, welche sie die ersten Meilen auf den Rückweg bringen sollte.

Es giebt eine Kraft der Selbstbeherrschung, welche anzeigt, daß die letzte Hoffnung entschwunden ist. Die Verzweiflung lehnt sich so wenig an andere, wie vollkommene Zufriedenheit, und in der Verzweiflung hat der Stolz nicht mehr an dem Gefühl der Abhängigkeit ein Gegengewicht.

Hetty fühlte, nun könne sie niemand mehr von den Übeln befreien, die ihr das Leben verhaßt machten, und niemand sollte nun auch je ihr Elend und ihre Erniedrigung erfahren. Nein, nicht einmal Dina wollte sie ein Geständnis ablegen; sie wollte sich ertränken, wo ihr Leib nie gefunden werden könne, und nie sollte jemand erfahren, was aus ihr geworden sei.

Nach der ersten Fahrt im Wagen ging sie wieder zu Fuß oder fuhr bisweilen in einem Karren, lebte so billig als möglich und wanderte ohne bestimmte Absicht vorwärts, aber seltsam, wie durch Zauber gefesselt, schlug sie denselben Weg ein, den sie gekommen, obschon sie entschlossen war, nicht in ihre Heimat zurückzukehren. Ihr Sinn war auf die weiten Gefilde von Warwickshire gerichtet, wo die dichten mit Bäumen besetzten Hecken, wie sie auf der Hinreise bemerkt, selbst in dieser kahlen Jahreszeit manchen Versteckplatz boten. Sie ging jetzt langsamer als vorher und saß oft stundenlang vom Wege abseits an einer Hecke, blickte aus den leeren, schönen Augen starr vor sich hin, dachte sich an den Rand eines tiefliegenden, versteckten Teiches, wie der in jenem Sumpfland, der ihr nicht aus dem Gedächtnis kam, und überlegte sich, ob es wohl ein schmerzlicher Tod sei, sich zu ertränken, und ob nach dem Tode wohl etwas Schlimmeres komme, als was sie jetzt in diesem Leben fürchte. Die Lehren der Religion hatten nie in ihrer Seele gehaftet; sie gehörte zu den vielen, die getauft werden, ihren Katechismus lernen, sich einsegnen lassen und jeden Sonntag zur Kirche gehen, und doch, was Geistesstärke im Leben oder Mut im Tode angeht, niemals einen einzigen christlichen Gedanken oder ein christliches Gefühl in sich aufgenommen haben. Der Leser würde Hettys Gedanken in diesen Tagen des tiefsten Elends mißverstehen, wenn er dabei irgend etwas von religiösen Befürchtungen oder Hoffnungen vermutete.

Endlich war sie wieder in der offenen Landschaft mit den weiten Feldern, wo sie den Teich zu finden hoffte. Aber immer noch hielt sie ihr Geld zusammen und behielt ihren Korb bei sich; der Tod schien noch so fern zu sein und das Leben in ihr so stark! Begierig verlangte sie nach Speise und Ruhe; in demselben Augenblicke, wo sie sich die Stelle ausdachte, von der sie in den Tod springen wolle, eilte sie diesen letzten Genüssen entgegen. Schon fünf Tage war sie von Windsor fort, war viel umhergewandert, hatte die fragenden Worte und Blicke der Menschen vermieden, und wenn sie beobachtet wurde, nahm sie den alten Ausdruck stolzer Abgeschlossenheit wieder an; immer noch ging sie in ein anständiges Nachtquartier, zog sich morgens nett an und machte sich früh rüstig auf den Weg und blieb unter Obdach, wenn es regnete, als sei das Dasein, für welches sie sorgte, ein glückliches.

Und doch war ihr Gesicht, sogar wenn sie am selbstbewußtesten aussah, so ganz verschieden von jenem, welches in dem alten fleckigen Spiegel sich selbst angelächelt, oder andere angelächelt hatte, wenn sie es bewundernd anstaunten. Ein harter, ja wilder Blick war jetzt in ihren Augen, obschon sie noch ganz ihren dunkeln Glanz hatten und die Wimpern ebenso schön lang waren wie je. Auf ihrer Wange spielte jetzt kein lächelndes Grübchen mehr. Es war noch immer das rundlich, kindlich hübsche Gesicht, aber alle Liebe und aller Glauben an Liebe war daraus gewichen, und vor Schönheit sah es nur noch trauriger aus, grade wie das wunderbare Antlitz der Meduse mit den leidenschaftlichen, leidenschaftslosen Lippen.

Da war sie nun endlich zwischen den Feldern, von denen sie geträumt hatte, auf einem langen, schmalen Fußwege, der zu einem Holze führte. Wenn in dem Holze ein Teich wäre! Er wäre besser versteckt als auf dem Felde. Aber nein, es war kein Gehölz, nur ein wüstes Gebüsch über verschütteten Sandgruben, von denen noch kleine Erhöhungen und Löcher zu sehen waren. Auf und ab suchte sie darin herum und hoffte in jeder Senkung einen Teich zu finden, bis sie ermattet sich niederließ, um auszuruhen. Es war hoch am Nachmittage, und der graue Himmel wurde schon dunkel. Nach kurzer Zeit fuhr Hetty wieder auf, weil sie die Dunkelheit hereinbrechen sah; sie mußte es schon bis morgen verschieben, den Teich zu finden, und für die Nacht sich ein Unterkommen suchen. Bei dem Herumwandern in den Feldern hatte sie den Weg verloren, und es war ganz einerlei, in welcher Richtung sie ging. Von Feld zu Feld wanderte sie, und kein Dorf, kein Haus war zu sehen, aber da, am Ende einer Wiese, war eine Öffnung in der Hecke, und der Boden schien sich etwas zu senken, und zwei Bäume neigten sich quer über die Öffnung gegen einander. Mächtig klopfte Hetty das Herz bei dem Gedanken, da müsse ein Teich sein. Mit schweren Schritten ging sie über die Wiese darauf zu, das Blut wich ihr von den Lippen und sie zitterte am ganzen Körper; es war, als ob das Verhängnis ihr entgegen käme statt sich erst suchen zu lassen.

Ja, da war der Teich! Das Wasser erschien schwarz unter dem dunkeln Himmel; keine Bewegung ringsum, kein Laut. Sie setzte ihren Korb hin und sank dann selbst zitternd auf das Gras. Der Teich war ganz voll von der Nässe des Winters; wenn er wieder seicht war, im Sommer, da konnte niemand mehr ihren Leib erkennen. Aber ihr Korb! – den mußte sie auch verbergen und ins Wasser werfen, ihn erst mit Steinen beschweren und dann versenken. Sie stand auf und sah sich nach Steinen um; bald hatte sie ein halb Dutzend gefunden, legte sie neben den Korb und setzte sich dann wieder. Sie brauchte sich ja nicht zu beeilen; sie hatte die ganze Nacht vor sich, um sich zu ertränken. Den Ellbogen auf den Korb gestützt saß sie da. Sie war so müde, so hungrig. Vom letzten Mittagsessen hatte sie einige Butterbrote im Korbe; die nahm sie jetzt heraus, aß sie gierig auf, saß dann wieder still und blickte auf den Teich. Die Beruhigung, die mit der Stillung des Hungers über sie kam, und die regungslose, träumerische Stellung machten sie schläfrig und bald sank ihr der Kopf auf die Knie. Sie schlief sofort ein.

Als sie erwachte, war es tief in der Nacht, und sie bebte vor Kälte. Sie war bange in der Dunkelheit, bange über die lange Nacht, die vor ihr lag. Wenn sie es doch fertig brächte, sich ins Wasser zu stürzen! Nein, noch nicht. Sie fing an umher zu gehen, um wieder warm zu werden, als wenn sie das entschlossener machen würde. O, wie lang wurde ihr die Zeit in der Dunkelheit! Der heimische Herd mit seiner hellen Flamme und das Behagen und die Stimmen der Heimat – das sichere Erwachen und Schlafengehen – die vertrauten Gefilde, die bekannten Menschen, die Sonntage und Festtage mit ihren einfachen Freuden über das beste Kleid und das gute Essen – all die süßen Erinnerungen ihres jungen Lebens drangen nun auf sie ein und sie schien die Arme nach ihnen auszustrecken, wie über einen großen Abgrund hinweg. Wenn sie an Arthur dachte, biß sie die Zähne zusammen und fluchte ihm, ohne zu wissen, was ihr Fluchen ihm schaden könne, und sie wünschte, er möge auch erfahren, was Einsamkeit sei und Kälte und ein Leben voll Schande, welches er durch den Tod zu enden nicht den Mut habe.

Ihr Schauder über diese Kälte und Dunkelheit und Einsamkeit – von der menschlichen Hilfe so fern – steigerte sich mit jeder Minute; es war fast, als sei sie schon tot und wisse, daß sie tot sei und sehne sich ins Leben zurück. Aber nein, noch lebte sie, noch hatte sie den furchtbaren Sprung nicht gethan. In seltsamem Wechsel fühlte sie sich elend und wieder unaussprechlich glücklich – elend, weil sie nicht wagte, dem Tode ins Antlitz zu schauen; glücklich, daß sie noch am Leben sei, noch Licht und Wärme wieder empfinden könne. Wie sie so auf und ab ging, um sich zu erwärmen, gewöhnten sich ihre Augen allmählich an die Nacht und fingen an, die Gegenstände ringsum ein wenig zu erkennen – die dunkle Linie der Hecke, die schnelle Bewegung von etwas lebendigem, vielleicht einer Feldmaus, welche durch das Gras schlüpfte. Sie hatte nicht länger das Gefühl, als wenn die Dunkelheit sie umschlossen halte; sie dachte, sie könne ihren Rückweg quer durchs Feld nehmen und über den Steg kommen und im nächsten Felde, erinnerte sie sich, müsse eine Strohhütte bei einer Schafhürde sein. Wenn sie in die Hütte kommen könnte, würde ihr wärmer werden; sie konnte die Nacht da zubringen, wie Alick immer in Hayslope that, wenn die Schafe lammten. Der Gedanke an diese Hütte belebte sie mit der Kraft neuer Hoffnung; sie nahm ihren Korb auf und schritt quer über das Feld, aber es dauerte einige Zeit, ehe sie einen Steg finden konnte. Die Bewegung und das Suchen nach dem Stege machten sie wieder munter und milderten das Grausen der Finsternis und Einsamkeit. Auf dem nächsten Felde waren Schafe, und als sie über den Steg kletterte, scheuchte sie einen Trupp auf; das Geräusch der laufenden Tiere gab ihr die beruhigende Gewißheit, ihre Erinnerung habe sie nicht getäuscht; auf diesem Felde mußte die Hütte sein. Sie erreichte das Gitter gegenüber, tastete an der Hürde entlang, bis ihr endlich das Stroh in die Hand stach. Köstliches Gefühl! das war Obdach; sie fand die Thür und stieß sie auf. Drinnen roch es schlecht und war dumpfe Luft, aber es war warm und auf dem Boden lag Stroh; mit einem Gefühl von Rettung sank Hetty nieder. Die Thränen kamen ihr, Thränen, die sie seit ihrer Abreise von Windsor nicht vergossen und sie schluchzte krampfhaft vor Freude, daß sie das Leben noch festhalte und noch die alte Erde betrete, die alten Vertrauten vom Pachthof, die Schafe, in der Nähe habe. Das bloße Gefühl ihrer eigenen Glieder war ihr ein Entzücken, sie streifte die Ärmel auf und küßte sich die Arme vor leidenschaftlicher Liebe zum Leben. Bald wiegten sie mitten im Schluchzen Wärme und Ermattung in Schlaf und sie träumte, sie stände wieder am Rande des Teiches, träumte, sie habe den Sprung ins Wasser gewagt und dann fuhr sie erschrocken plötzlich wieder auf und wußte nicht wo sie war. Endlich überfiel sie ein tiefer, traumloser Schlaf; ihr Kopf, vom Hute noch bedeckt, fand auf dem harten Stroh ein weiches Kissen, und die Unglückliche, die zwischen zwei gleich großen Schrecken hin- und hergeworfen wurde, fand die einzige Erleichterung, die es für sie geben konnte, die Erleichterung der Bewußtlosigkeit.

Ach, aber auch diese Ruhe schien zu enden, nachdem sie kaum begonnen. Es war Hetty, als seien jene halbwachen Träume nur in einen andern Traum übergegangen; sie befand sich hier in derselben Hütte, und mit einemmale stand ihre Tante vor ihr mit einem Lichte in der Hand. Sie zitterte unter dem Blick der Tante und schlug die Augen auf. Es brannte kein Licht in der Hütte, aber es war hell; der frühe Morgen sah durch die offene Thür. Und ein Gesicht beugte sich über sie, aber es war das unbekannte Gesicht eines ältlichen Mannes in einem Kittel.

»Was macht Ihr denn hier in der Hütte, Mädchen?« fragte der Mann etwas rauh.

Bei diesem wirklichen Schreck zitterte Hetty noch mehr, als sie im Traume gethan, wo die Tante sie ansah. Sie kam sich schon wie eine Bettlerin vor, daß man sie so schlafend gefunden habe. Aber trotzdem sie zitterte, beeilte sie sich, über ihre ungewöhnliche Lage dem Manne Auskunft zu geben und antwortete sogleich:

»Ich habe mich verirrt; ich bin auf der Reise nach dem Norden und bin von dem Wege ab in die Felder gekommen und die Dunkelheit hat mich überrascht. Könnt Ihr mir sagen, wo ich nach dem nächsten Dorfe komme?«

Bei diesen Worten war sie aufgestanden, hatte sich den Hut zurecht gerückt und ihren Korb in die Hand genommen.

Der Mann sah sie eine Weile mit trägem Blicke an und gab ihr zunächst gar keine Antwort. Dann drehte er sich um und ging auf die Thür der Hütte zu; da stand er still und wendete sich halb zu ihr mit den Worten:

»Ja, den Weg kann ich Euch zeigen, wenn Ihr es wünscht. Aber wie kommt Ihr nur dazu, Euch von der großen Straße zu verirren?« fuhr er mit plumpem Vorwurf fort. »Seht Euch vor, sonst kommt Ihr in Ungelegenheit.«

»Ja,« erwiderte Hetty, »ich will's nicht wieder thun, ich will mich auf der großen Straße halten; seid nur so gut und weiset mich zurecht.«

»Warum haltet Ihr Euch nicht da, wo es Wegweiser giebt und Leute, die Ihr fragen könnt?« sagte der Mann fast grob. »Ihr seht so wild aus; man sollte glauben, Ihr wärt verrückt.«

Bei dieser letzten Andeutung wurde Hetty ganz bange. Indem sie ihm aus der Hütte folgte, überlegte sie sich, sie wolle ihm etwas für seine Bemühung geben; dann hielte er sie gewiß nicht für verrückt. Als er stehen blieb, um ihr den Weg in der Ferne zu zeigen, steckte sie die Hand in die Tasche, um das Geld herauszuholen, und als er sich abwenden wollte, ohne auch nur guten Morgen zu sagen, hielt sie es ihm hin und sagte: »ich danke Euch; seid so freundlich und nehmt etwas für Eure Bemühung.«

Er sah sich das Geld langsam an und erwiderte: »ich brauche kein Geld von Euch. Nehmt Euch nur damit in acht, sonst wird es Euch gestohlen, wenn Ihr so in den Feldern verbotene Wege geht wie ein verrücktes Frauenzimmer.«

Damit wandte er sich ab und Hetty ging ihres Wegs. Ein neuer Tag war angebrochen und sie mußte ihre Wanderung fortsetzen. Ans Ertränken war kein Gedanke mehr; sie hatte nicht den Mut dazu, so lange sie noch Geld besaß um für Essen und Trinken zu bezahlen und kräftig genug war weiter zu gehen. Aber das eben gehabte Erlebnis erhöhte ihre Angst vor der Zeit, wo sie gar kein Geld mehr hätte; dann würde sie den Korb und ihre Kleider verkaufen müssen und wirklich wie eine Bettlerin oder eine Verrückte aussehen, wie ihr der Mann gesagt hatte. Die leidenschaftliche Freude am Leben, die sie in der Nacht empfand, nachdem sie von dem Rande des schwarzen, kalten Todes in dem Teiche sich gerettet hatte, war nun vergangen. Jetzt im Morgenlichte, unter dem Eindruck des bösen, verwunderten Blickes jenes Mannes war ihr das Leben so furchtbar wie der Tod, ja schlimmer als der Tod; es war ein Schrecken, an den sie sich gefesselt fühlte, vor dem sie zurückbebte immer banger und banger wie vor dem schwarzen Teiche und vor dem sie doch keine Rettung finden konnte.

Das Geld in ihrer Tasche betrug noch zweiundzwanzig Schilling, damit konnte sie noch manchen Tag leben oder rascher nach Stonyshire kommen, in Dinas Nähe. Der Gedanke an Dina drängte sich ihr jetzt stärker auf, seit in der letzten Nacht ihre schaudernde Einbildungskraft sie von dem Teiche weggetrieben hatte. Wäre es nichts weiter gewesen, als zu Dina zu gehen, – hätte niemand anders es dann erfahren, so würde sich Hetty wohl entschlossen haben, sie aufzusuchen; die sanfte Stimme und die mitleidigen Augen des frommen Mädchens hätten sie hingezogen. Aber erfahren mußten es ja dann auch die andern, und in die Schande konnte sie sich so wenig stürzen wie in den Tod.

Wandern mußte sie, immer weiter wandern und erst noch tiefer in Verzweiflung geraten, um Mut zu gewinnen. Vielleicht auch kam ihr der Tod von selbst, denn von Tage zu Tage wurde sie schwächer. Und doch, so wunderbar ist das Getriebe unsrer Seele, daß es uns mit heimlichem Verlangen grade da hinzieht, wovor wir uns scheuen, und Hetty erkundigte sich in dem ersten Flecken nach dem nächsten Wege, der gen Norden nach Stonyshire führe und verfolgte ihn den ganzen Tag.

Die arme umherirrende Hetty mit dem kindlich weichen Gesicht und dem harten, lieblosen, verzweifelten Gemüt, welches daraus hervorsah, mit dem kleinen Herzen und den beschränkten Gedanken, in der kein Raum war für fremde Leiden, und die das eigene Leid um so bitterer durchkostete! Mir blutet das Herz um sie, wie ich sie so müde und erschöpft sich weiter schleppen und auf einem Karren sitzen sehe, die Augen leer auf den Weg geheftet, unbewußt und unbekümmert, wohin er geht, bis ihr der Hunger kommt und das Verlangen weckt, daß doch ein Dorf in der Nähe sein möchte.

Und was wird das Ende sein? – das Ende dieser ziellosen Wanderung, wo sie von aller Liebe fern ist, wo nur ihr Stolz noch nach menschlichen Wesen fragt, und sie sich nur an das Leben klammert wie das gehetzte, verwundete Tier des Waldes –?

Leser, Gott bewahre dich und mich, daß wir je an solchem Elend schuld sind!


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