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Das Motto zu Kapitel 50 (in dieser Übersetzung Band 3, Kapitel 8):
›This Loller here wol precilen us somewhat.‹
›Nay by my father's soule! that schal he nat,‹
Sayde the Schipman, ›here schal he not preche,
We schal no gospel glosen here ne teche.
We leven all in the gret God,‹ quod he.
He wolden sowen some difficultee.
Geoffrey Chaucer: Canterbury Tales.
Dorothea war schon fast eine Woche im Freshitt-Hall gewesen, ehe sie irgend eine verfängliche Frage that. Sie saß jetzt jeden Morgen mit Celien in dem im ersten Stock belegenen niedlichsten aller Wohnzimmer, welches mit einem kleinen Treibhause in Verbindung stand – Celia in Weiß und Lila gekleidet wie ein Bouquet verschiedenfarbiger Veilchen, ganz versenkt in die Beobachtung der merkwürdigen Bewegungen des Baby's, welche ihr in ihrer Unerfahrenheit so räthselhaft erschienen, daß sie jede Unterhaltung durch Aufforderungen an die Orakelweisheit der Kinderfrau, ihr jene Bewegungen zu deuten, unterbrach.
Dorothea saß in ihrer Witwenhaube da, mit einem Gesichte, das Celien viel zu traurig vorkam und sie fast ungeduldig machte; denn nicht nur befand sich Baby ganz wohl, sondern Dorothea's Mann war doch wirklich, so lange er lebte, so langweilig und unbequem gewesen, und dazu kam noch – nun, nun! Natürlich hatte Sir James Celien alles erzählt, ihr aber dabei eingeschärft, Dorothea, bis es unvermeidlich sein werde, nichts davon erfahren zu lassen.
Aber Herr Brooke hatte mit seiner Voraussagung, daß Dorothea nicht lange passiv bleiben werde, wo sie zu handeln berufen sei, Recht gehabt. Sie kannte den Inhalt des Testaments ihres Gatten, wie er es zur Zeit ihrer Verheirathung gemacht hatte, und sobald sie sich ihre Lage klar gemacht hatte, beschäftigte sich ihr Geist im Stillen mit dem, was ihr als der Eigenthümerin des Herrenhauses von Lowick, mit dem dazu gehörigen Kirchenpatronate, zu thun obliegen werde.
Eines Morgens, als ihr Onkel ihr seinen gewöhnlichen Besuch machte, dabei aber von einer ungewöhnlichen Heiterkeit war, die er damit erklärte, daß die Auflösung des Parlaments jetzt ziemlich sicher bevorstehe, sagte Dorothea:
»Lieber Onkel, ich muß jetzt wohl an die Besetzung der Pfründe in Lowick denken. Seit Herr Tucker eine anderweitige Anstellung bekommen hat, habe ich meinen Mann nie von einem andern Geistlichen reden hören, den er zu seinem Nachfolger bestimmen möchte. Ich bitte mir jetzt die Schlüssel aus, um in Lowick alle Papiere Casaubon's einsehen zu können. Vielleicht findet sich darunter etwas, woraus seine Wünsche zu ersehen wären.«
»Das hat keine Eile, liebes Kind,« erwiderte Herr Brooke, »mit der Zeit, weißt Du, kannst du hingehen, wenn Du willst. Aber ich habe die Papiere in dem Schreibtische und in den Schubfächern flüchtig durchgesehen, da habe ich nichts gefunden, nichts als gelehrte Gegenstände Betreffendes, weißt Du bis auf das Testament. Alles Nöthige kann mit der Zeit geschehen. Was die Pfründe betrifft, so bin ich bereits um meine Fürsprache angegangen worden für einen, glaub' ich, wünschenswerthen Candidaten. Herr Tyke ist mir angelegentlichst empfohlen worden, ich bin ihm schon früher einmal zur Erlangung einer Stelle behülflich gewesen. Ein apostolischer Mann, glaube ich – gerade die Art von Mann, die Dir conveniren würde, liebes Kind.«
»Ich möchte, falls mein Mann keinen bestimmten Wunsch hinterlassen hat, mich noch genauer informiren und selbst urtheilen. Vielleicht, daß Casaubon seinem Testamente noch etwas hinzugefügt hat – vielleicht finden sich da Instruktionen für mich,« sagte Dorothea, welche sich schon die ganze Zeit her in Betreff der Arbeit ihres Gatten mit dieser Vermuthung getragen hatte.
»Nichts in Betreff der Pfründe, liebes Kind, nichts,« sagte Herr Brooke, indem er aufstand um fortzugehen und seinen Nichten die Hand reichte; »auch nichts über seine Untersuchungen, weißt Du – im Testamente nichts.«
Dorothea's Lippen zitterten.
»Komm liebes Kind, Du mußt jetzt noch nicht an diese Dinge denken. Nach und nach, weißt Du.«
»Ich befinde mich jetzt wieder ganz wohl, Onkel, ich sehne mich nach Thätigkeit.«
»Gut, gut, wir wollen sehen. Aber jetzt muß ich rasch fort– ich habe jetzt entsetzlich viel zu thun – wir haben eine Krisis – eine politische Krisis, weißt Du. Und hier hast Du Celia und den kleinen Mann da – Du bist jetzt Tante, weißt Du, und ich bin eine Art Großvater,« sagte Herr Brooke in behaglicher Eile und begierig, fortzukommen und Chettam mitzutheilen, daß es nicht seine, Brooke's, Schuld sein würde, wenn Dorothea darauf bestände, sich um alles selbst zu bekümmern.
Als Herr Brooke das Zimmer verlassen hatte, sank Dorothea in ihren Stuhl zurück, faltete die Hände in ihrem Schooße und sah nachdenklich vor sich hin.
»Sieh, Dodo, sieh ihn doch an! Hast Du je so etwas gesehen?« fragte Celia in ihrem behaglichen Staccato.
»Was, Kitty?« fragte Dorothea, indem sie etwas abwesend aussah.
»Was? Nun, seine Oberlippe; sieh doch, wie er sie herunterzieht, als ob er ein böses Gesicht machen wollte. Ist das nicht merkwürdig? Er hat vielleicht seine eigenen kleinen Gedanken. Wenn doch nur die Kinderfrau hier wäre. Sieh ihn doch nur an.«
Eine große Thräne, die sich schon eine Weile gesammelt hatte, rollte Dorotheen über die Wange, als sie aufblickte und zu lächeln versuchte.
»Sei nicht traurig, Dodo, küsse Baby. Worüber brütest Du denn so? Du hast doch gewiß Alles gethan und viel zu viel! Du solltest jetzt glücklich sein.«
»Wenn Dein Mann mich nach Lowick fahren wollte, so möchte ich dort Alles genau durchsehen – ob sich nicht irgendwo speciell für mich geschriebene Worte finden.«
»Du darfst nicht eher gehen, bis Herr Lydgate es Dir erlaubt, und das hat er bisher noch nicht gethan. – Ah, da kommt die Kinderfrau; nehmen Sie Baby und gehen Sie auf dem Corridor mit ihm auf und ab. – Ueberdies hast Du Dir wie gewöhnlich etwas Verkehrtes in den Kopf gesetzt, Dodo – ich bemerke das mit Bedauern.«
»Was denke ich denn Verkehrtes, Kitty?« fragte Dorothea ganz demüthig. Sie war jetzt fast bereit, Celia für klüger als sich selbst zu halten, und war wirklich ängstlich begierig zu erfahren, worin diesesmal ihre Verkehrtheit bestehe.
Celia war sich des Vortheils ihrer Situation bewußt und war entschlossen, sich dieselbe zu Nutze zu machen. Keiner kannte nach ihrer Ueberzeugung Dodo so gut wie sie, oder verstand es so gut, sie zu behandeln. Seit sie Mutter geworden war, hatte Celia ein neues Bewußtsein der Solidität ihres Geistes und ihrer ruhigen Klugheit bekommen. Es schien ihr klar, daß, wo es ein Baby gebe, Alles schon damit in Ordnung sei, und daß der Irrthum überhaupt, wo er vorkomme, immer nur von dem Mangel dieser stützenden Kraft herrühre.
»Ich weiß ganz genau, woran Du denkst, Dodo,« sagte Celia. »Du grübelst, um etwas Unbequemes herauszufinden, was Du jetzt thun könntest, nur weil Casaubon es wünschte. Als ob Du nicht schon bisher Unangenehmes genug durchzumachen gehabt hättest. Und er hat es nicht um Dich verdient, das wirst Du erfahren. Er hat sich sehr schlecht gegen Dich benommen. James ist höchst aufgebracht gegen ihn. Und ich glaube, ich thue besser, es Dir zu sagen, um Dich vorzubereiten.«
»Celia,« sagte Dorothea in flehendem Tone, »Du betrübst mich. Sag' mir doch gleich, was Du meinst.«
Es fuhr ihr der Gedanke durch den Kopf, daß Casaubon vielleicht sein Vermögen andern Personen hinterlassen habe – das würde sie nicht allzusehr betrübt haben.
»Nun, er hat seinem Testamente ein Codicill des Inhalts hinzugefügt, daß Du des ganzen Vermögens verlustig gehen sollest, wenn Du wieder heirathest – ich meine …«
»Das hat nichts zu, sagen,« unterbrach sie Dorothea stürmisch,
»… nur wenn Du Herrn Ladislaw heirathen solltest, in keinem andern Falle,« fuhr Celia mit hartnäckiger Ruhe fort. »Natürlich hat das in einer Hinsicht nichts zu bedeuten – Du würdest ja nie daran denken, Herrn Ladislaw zu heirathen; das läßt aber Casaubon's Benehmen nur um so gehässiger erscheinen.«
Dorotheen schoß das Blut ins Gesicht. Celia aber glaubte ihr diese ernüchternde Dosis von Thatsachen nicht ersparen zu können. Sie hoffte dadurch Anschauungen zu beseitigen, die Dodo's Gesundheit so viel Schaden gethan hatten. So fuhr sie in ihrem indifferenten Tone ruhig fort, als ob sie Bemerkungen über Baby's Kleider machte:
»Das sagt James. Er sagt, es sei abscheulich von Casaubon und eines Gentleman ganz unwürdig. Und es giebt wohl keinen Menschen, der so etwas besser versteht als James. Es ist, als ob Casaubon die Leute habe glauben machen wollen, daß Du Herrn Ladislaw gern heirathen würdest – was doch lächerlich ist. Nur sagt James, es sei geschehen, um Herrn Ladislaw zu verhindern, den Versuch zu machen, Dich um Deines Geldes willen zu heirathen – als ob er je daran gedacht haben würde, Dir einen Antrag zu machen. Frau Cadwallader sagt, Du könntest ebenso gut einen Savoyarden mit weißen Mäusen heirathen! Aber ich muß einen Augenblick nach Baby sehen,« fügte Celia hinzu, ohne ihren Ton im mindesten zu ändern, indem sie einen leichten Shawl über die Schultern nahm und forttrippelte.
Dorothea war jetzt wieder bleich geworden und warf sich hülflos in ihren Stuhl zurück. Sie hätte das, was sie in jenem Augenblicke innerlich erlebte, als ein vages geängstigtes Bewußtsein davon bezeichnen können, daß ihr Leben eine neue Gestalt annehme, daß eine Verwandlung mit ihr vorgehe, bei welcher das Gedächtniß mit der Regung neuer Lebensorgane nicht gleichen Schritt halten werde.
Alles erschien ihr jetzt in einem andern Lichte: das Benehmen ihres Gatten, ihre eigenen pflichttreuen Gefühle für ihn, alle Kämpfe zwischen ihnen – und noch mehr, ihr ganzes Verhältniß zu Will Ladislaw. Ihre Welt war in einem Zustande convulsivischer Umwandlung begriffen, das einzige, was sie sich bestimmt sagen konnte, war, daß sie warten und neu denken müsse.
Eine Wandlung, deren sie sich sofort bewußt wurde, erschreckte sie, als ob es eine Sünde gewesen wäre; das war das plötzliche Gefühl einer heftigen Abneigung gegen ihren verstorbenen Gatten, der geheime Gedanken gegen sie genährt hatte, die ihm vielleicht alles, was sie gethan und gesagt, entstellt hatten erscheinen lassen. Dann wieder wurde sie sich noch einer andern Wandlung bewußt, die sie gleichfalls zittern machte; das war ein plötzliches sonderbares Sehnen nach Will Ladislaw.
Es war ihr bisher niemals eingefallen, daß er unter irgend welchen Umständen ihr Liebhaber sein könne – nun denke man sich die Wirkung der plötzlichen Entdeckung, daß ein Anderer ihn in diesem Lichte betrachtet habe, daß er selbst vielleicht an eine solche Möglichkeit gedacht habe – und dazu die jählings auf sie einstürmende Vorstellung unschicklicher Verhältnisse und nicht leicht zu lösender Fragen.
Es schien ihr eine lange Zeit, – sie wußte nicht, wie lang –, verflossen zu sein, als sie Celia zu der Kinderfrau sagen hörte:
»Das wird genug sein, er wird nun auf meinem Schooße ruhig bleiben. Sie können jetzt frühstücken, und Garrat kann sich in der Nebenstube aufhalten. – Nach meiner Meinung, Dodo,« fuhr Celia, der an Dorothea's Haltung nichts auffiel, fort, »war Casaubon boshaft. Ich habe ihn nie leiden können und James auch nicht. Mir kamen seine Mundwinkel immer schrecklich boshaft vor. Und nun hat er sich so benommen; nach meiner Ueberzeugung macht es Dir kein Gebot der Religion zur Pflicht, Dich seinetwegen zu grämen. Sein plötzlicher Tod ist eine Gnade, und Du solltest dankbar dafür sein. Wir brauchen nicht betrübt zu sein, nicht wahr, Baby?« sagte Celia vertraulich zu diesem unbewußten Centrum und Stützpunkte der Welt, der die merkwürdigsten bis auf die Nägel ausgebildeten Hände und, wenn man ihm die Mütze abnahm, wahrhaftig so viel Haare auf dem Kopfe hatte, daß man, ich weiß nicht was von ihnen hätte machen können – kurz er war Buddha in einer abendländischen Gestalt.
In diesem kritischen Augenblicke wurde Lydgate gemeldet und eine seiner ersten Bemerkungen war:
»Ich fürchte, Sie fühlen sich heute weniger wohl, Frau Casaubon. Haben Sie Aufregung gehabt? Bitte lassen Sie mich einmal Ihren Puls fühlen.«
Dorothea's Hand war marmorkalt.
»Sie will nach Lowick und dort Papiere durchsehen,« sagte Celia. »Das darf sie aber noch nicht, nicht wahr?«
Lydgate schwieg längere Zeit und sagte dann, indem er Dorothea ansah:
»Ich weiß wirklich nicht. Nach meiner Ansicht sollte Frau Casaubon das thun, was ihr Gemüth am besten zu beruhigen geeignet ist. Diese Gemüthsruhe ist nicht immer die Folge einer erzwungenen Unthätigkeit.«
»Ich danke Ihnen,« sagte Dorothea, indem sie sich zusammennahm. »Ich fühle, wie richtig das ist. Ich habe mich um so vieles zu bekümmern. Warum soll ich hier müßig sitzen?« Dann fügte sie mit einer gewaltsamen Bemühung, von Dingen zu reden, die nichts mit ihrer Aufregung zu thun hatten, hinzu: »Sie kennen ja wohl alle Leute in Middlemarch, Herr Lydgate. Ich werde Sie um vielerlei Auskunft bitten. Mir liegen jetzt sehr ernste Dinge zu thun ob. Ich habe eine Pfründe zu vergeben. Sie kennen Herrn Tyke und alle die …«
Aber Dorothea's Anstrengung war zu viel für sie gewesen; sie hielt plötzlich inne und brach in Thränen aus.
Lydgate ließ sie ein Brausepulver nehmen.
»Lassen Sie Frau Casaubon thun, was sie will,« sagte er zu Sir James, den er, bevor er das Haus verließ, zu sprechen verlangt hatte. »Sie bedarf nach meiner Meinung, – mehr als jeder ärztlichen Behandlung –, vollkommener Freiheit.«
Seine Behandlung Dorothea's während der krankhaften Aufregung nach Casaubon's Tode hatte ihn in den Stand gesetzt, sich eine einigermaßen richtige Vorstellung von ihren innern Kämpfen zu machen. Er war überzeugt, daß sie unter dem Drucke eines sich selbst auferlegten Zwanges gelitten habe, und hielt es für wahrscheinlich, daß sie sich noch immer durch einen, wenn auch anders gearteten, Zwang beengt fühle.
Lydgate's Rath war für Sir James um so leichter zu befolgen, als er fand, daß Celia Dorotheen bereits die unangenehme Mittheilung in Betreff des Testaments gemacht habe. Da half jetzt nichts mehr – es gab keinen Grund, die Ausführung nothwendiger Geschäfte noch länger zu verschieben. So erklärte sich Sir James schon am nächsten Tage bereit, Dorothea's Wunsch, sie nach Lowick zu fahren, zu erfüllen.
»Ich möchte jetzt noch nicht dort bleiben,« sagte Dorothea, »ich würde es kaum ertragen können. Ich fühle mich viel glücklicher in Freshitt bei Celien. Ich werde aus der Entfernung besser im Stande sein, über das, was in Lowick zu thun ist, nachzudenken. Und ich möchte auch eine Zeit lang bei Onkel auf Tipton-Hof sein und dort alle meine alten Spaziergänge wieder machen und die Leute im Dorf wieder aufsuchen.«
»Dazu ist jetzt, glaube ich, noch nicht der rechte Augenblick. Ihr Onkel bewegt sich in politischer Gesellschaft, und Sie bleiben diesem Treiben besser fern,« sagte Sir James, der in jenem Augenblick in Tipton-Hof vor Allem den Aufenthaltsort des jungen Ladislaw sah.
Aber mit keinem Worte wurde zwischen ihm und Dorotheen des anstößigen Codicills gedacht; Beide fühlten, daß eine Erwähnung desselben für sie eine Unmöglichkeit sei. Sir James war selbst im Verkehr mit Männern schüchtern in seinen Aeußerungen über unangenehme Dinge, und das Einzige, was Dorothea hätte sagen mögen, wenn sie überhaupt über die Sache gesprochen hätte, mußte sie sich für jetzt versagen, weil es die Ungerechtigkeit ihres Gatten in ein nur noch helleres Licht gestellt haben würde.
Und doch wünschte sie, daß Sir James wissen möchte, was zwischen ihr und ihrem Gatten in Betreff der moralischen Ansprüche Will Ladislaw's auf das Vermögen vorgefallen war; es würde ihm dann, wie sie meinte, ebenso klar sein wie ihr, daß das sonderbare, unzarte Codicill ihres Gatten vorzüglich durch seinen erbitterten Widerstand gegen jenen Anspruch und nicht allein durch schwerer zu berührende, persönliche Gefühle hervorgerufen sei. Dorothea wünschte, wie wir gestehen müssen, auch um Will's willen, daß das bekannt werden möchte, da ihre Verwandten ihn nur als einen Gegenstand der Wohlthätigkeit Casaubon's zu betrachten schienen.
Warum verglichen sie ihn mit einem Savoyarden, der mit weißen Mäusen durch die Straßen zieht? Dieser, Frau Cadwallader nacherzählte Ausdruck erschien ihr wie eine von der Hand eines Koboldes über Nacht an eine Wand gezeichnete schnöde Carricatur.
In Lowick durchsuchte Dorothea den Schreibtisch und die Schubfächer – durchsuchte sie alle die Stellen, an denen ihr Gatte wohl geheime Papiere aufzubewahren pflegte, fand aber kein speciell an sie adressirtes Papier, ausgenommen jene ›Synoptische Tabelle‹, welche vermuthlich nur den Anfang einer Menge von Directiven zu ihrer Anleitung hatte bilden sollen. Bei der Ausführung dieses Arbeitsvermächtnisses an Dorothea war Casaubon, wie bei allem, was er that, langsam und zögernd zu Werke gegangen; bei dem Plane, sein Werk einem Andern zu übertragen, hatte ihn, wie bei der Ausführung desselben, das Gefühl bedrückt, sich in einem trüben und stockenden Medium zu bewegen; sein Mißtrauen gegen Dorothea's Zulänglichkeit, das von ihm Vorbereitete zu ordnen, wich nur dem noch größern Mißtrauen gegen jeden andern, dem er eine solche Redaction hätte übertragen können.
Am Ende aber war er doch dahin gelangt, volles Vertrauen auf Dorothea's Ausführung seiner Absichten aus ihrer Natur zu schöpfen; sie vermöge, hatte er sich gesagt, was sie ernstlich wolle, und er stellte sie sich gern vor, wie sie in den Fesseln eines Versprechens mühsam daran arbeiten werde, ihm ein Grabmal zu errichten, das seinen Namen auf die Nachwelt bringen werde. Nicht daß Casaubon die künftigen Bände seines Werks ein Grabmal genannt hätte; er nannte sie vielmehr den ›Schlüssel zu allen Mythologien‹. Aber die Zeit verfloß, ohne daß seine Pläne zur Ausführung gekommen wären; er hatte nur noch Zeit gehabt, jenes Versprechen von Dorotheen zu verlangen, bei welchem er, noch über sein Grab hinaus, ihr Leben dienstbar zu machen dachte.
Diese Absicht hatte sein Tod vereitelt. Dorothea würde, wenn sie sich durch ein in der Fülle ihres Mitleids gegebenes Versprechen gebunden hätte, fähig gewesen sein, eine mühselige Arbeit zu übernehmen, welche, wie ihr die Stimme des eigenen Urtheils zuflüsterte, keinem andern nützlichen Zwecke dienen konnte, als jenem, höchsten Zwecke der Heilighaltung eines gegebenen Wortes.
Jetzt aber wurde ihr Urtheil, statt durch pflichttreue Ergebenheit zurückgedrängt zu werden, vielmehr aufgestachelt durch die verbitternde Entdeckung, daß in ihrem ehelichen Verhältnisse eine versteckte Entfremdung des Argwohns und der Heimlichkeit gewaltet habe. Jetzt stand nicht mehr der lebende und leidende Mann, der ihr Mitleid erweckt hatte, vor ihr, sondern ihr blieb nur der Rückblick auf die peinliche Unterjochung durch einen Gatten, dessen Denkweise niedriger gewesen war, als sie geglaubt hatte, dessen exorbitante Ansprüche für seine Person ihn sogar in der sonst so ängstlichen Sorgfalt für die Reinhaltung seines Charakters beirrt und ihn dahin gebracht hatten, seinen eigenen Stolz so weit außer Augen zu setzen, daß seine Handlungsweise Männern von gewöhnlichem Ehrgefühl anstößig erscheinen mußte.
Was das Vermögen anlangte, das ihr von ihrer Ehe geblieben war, so würde sie sich desselben gern entledigt und sich auf ihr ursprüngliches, ihr bei ihrer Verheirathung zugesichertes Vermögen beschränkt gesehen haben, wenn sich nicht an den Besitz großer Mittel Pflichten geknüpft hätten, denen sie sich nach ihrer Ueberzeugung nicht entziehen durfte. In Betreff des ganzen Vermögens drängte sich ihr fortwährend eine Fülle von verworrenen Fragen auf: Hatte sie nicht Recht gehabt zu denken, daß die Hälfte desselben Will Ladislaw gebühre? – War es ihr aber jetzt nicht unmöglich gemacht, diesen Act der Gerechtigkeit zu vollziehen? Casaubon hatte sich eines grausam wirksamen Mittels bedient, sie daran zu verhindern; bei aller Entrüstung, die sie in ihrem Herzen gegen ihn empfand, widerstrebte es ihr, etwas zu thun, womit sie den Schein einer triumphirenden Umgehung seiner Absichten hätte auf sich laden können.
Nachdem sie alle geschäftlichen Papiere, die sie näher zu prüfen wünschte, an sich genommen hatte, verschloß sie wieder Schreibtisch und Schubfächer, in denen sie kein für sie persönlich bestimmtes Wort – keine Spur eines Anzeichens dafür gefunden hatte, daß das Herz ihres Gatten in seinem einsamen Brüten das Bedürfniß einer an sie gerichteten Entschuldigung oder Erklärung empfunden habe, und sie kehrte mit der traurigen Ueberzeugung nach Freshitt zurück, daß die Gründe, welche ihren Gatten zu seiner letzten harten Forderung, zu der letzten beleidigenden Geltendmachung seiner Gewalt über sie bewogen hatten, für sie auf immer in Dunkel gehüllt bleiben würden.
Dorothea versuchte es jetzt, ihre Gedanken den ihr zunächst obliegenden Pflichten zuzuwenden, und an eine dieser Pflichten waren auch Andere sie zu erinnern entschlossen. Ihre Erwähnung der Pfründe hatte bei Lydgate ein sehr aufmerksames Ohr gefunden, und er benutzte die erste sich darbietende Gelegenheit, sie wieder auf diesen Gegenstand zu bringen, indem er hier eine Möglichkeit sah, das entscheidende Votum wieder gut zu machen, welches er einst zu Ungunsten Farebrother's abgegeben hatte, über welches er sich aber in seinem Gewissen nie ganz hatte beruhigen können.
»Anstatt Ihnen irgend etwas über Herrn Tyke mitzutheilen,« sagte er, »würde ich Sie gern von einem andern Manne, Herrn Farebrother, dem Pfarrer von St. Botolph, unterhalten. Er hat dort eine armselige Pfründe, welche ihm nur eine kärgliche Versorgung für ihn selbst und seine Familie gewährt. Seine Mutter, seine Tante und seine Schwester wohnen mit ihm zusammen und leben alle Drei von ihm. Ich habe nie einen bessern Prediger, nie eine so einfach natürliche Beredtsamkeit gehört. Er würde ein guter Nachfolger Latimer's auf jener altberühmten St. Paul's Croß-Kanzel gewesen sein. Er weiß wie jener über Alles gut zu reden, originell, einfach, klar. Ich halte ihn für einen ausgezeichneten Menschen; er hätte es vermöge seiner Fähigkeiten weiter bringen müssen.«
»Warum hat er es nicht weiter gebracht?« fragte Dorothea, die jetzt ein besonders lebhaftes Interesse an Allen nahm, denen es nicht vergönnt war zu erreichen, was sie sich vorgesetzt hatten.
»Das ist eine schwer zu beantwortende Frage,« erwiderte Lydgate, »Ich erfahre an mir selbst, wie unendlich schwer es ist, das, was man als recht erkannt hat, zur Ausführung zu bringen; man muß an so vielen Strängen auf einmal ziehen. Farebrother giebt oft zu verstehen, daß er einen falschen Beruf gewählt habe, er bedarf einer weiteren Sphäre der Thätigkeit, als es die eines armen Geistlichen ist, und ich glaube, es fehlt ihm an Fürsprache zu einer Beförderung Er ist ein großer Freund der Naturwissenschaften und hat viele andere wissenschaftliche Interessen, und der Versuch, diese Neigungen mit seiner Stellung in Einklang zu bringen, bereitet ihm Verlegenheiten. Er hat kein Geld für diese Dinge übrig, hat kaum genug zum Leben und ist so auf's Kartenspielen verfallen – in Middlemarch wird sehr viel Whist gespielt. Er spielt um Geld und gewinnt ziemlich viel. Natürlich bringt ihn das in eine, seiner nicht ganz würdige Gesellschaft und macht ihn in Betreff einiger Dinge lässig, und doch bei alledem halte ich ihn, wenn ich ihn nach seinem ganzen Wesen beurtheile, für den untadeligsten Menschen, der mir je vorgekommen ist. Es ist kein Falsch und kein Arg an ihm, aber mancher, von dem man das nicht sagen kann, bietet in seinem äußern Leben weniger Anlaß zu Ausstellungen.«
»Ich möchte wohl wissen,« bemerkte Dorothea, »ob ihm jene Gewohnheit Gewissensbisse verursacht und ob er den Wunsch hat, dieselbe aufzugeben.«
»Ich zweifle nicht, daß er sie aufgeben würde, wenn er in die Lage käme, über reichlichere Mittel zu verfügen; er würde froh sein, die Zeit zu andern Dingen verwenden zu können.«
»Mein Onkel sagt, daß man von Herrn Tyke als von einem apostolischen Manne rede,« sagte Dorothea nachdenklich.
Sie wünschte, es möchte möglich sein, die Zeiten des Feuereifers der Apostel wieder herzustellen, und doch empfand sie, wenn sie an Farebrother dachte, ein lebhaftes Verlangen, ihn von der Versuchung des Geldgewinns durch Kartenspiel zu befreien.
»Ich möchte nicht behaupten, daß Farebrother ein apostolischer Mann sei,« erwiderte Lydgate. »Seine Stellung gleicht nicht ganz der der Apostel, er ist nur ein Pfarrer, dessen Aufgabe es ist, den Lebenswandel seiner Gemeindemitglieder zu bessern. Nach meiner Erfahrung besteht das, was man jetzt apostolisch nennt, nur in einem intoleranten Verhalten des Pfarrers gegen Alles, wobei er nicht die erste Rolle spielt. Ich beobachte etwas derart an Herrn Tyke im Hospital; ein gut Theil seiner Doctrin besteht darin, daß er die Leute quält, um ihnen seine Bedeutung recht fühlbar zu machen. Und – dann ein apostolischer Mann in Lowick! – er müßte es schon wie der heilige Franciscus für nöthig halten, den Vögeln zu predigen.«
»Das ist wahr,« sagte Dorothea, »es ist schwer, sich eine Vorstellung davon zu machen, was für Ideen unsere Pächter und Arbeiter sich aus den ihnen ertheilten geistigen Lehren entnehmen. Ich habe mir einen Band Predigten von Herrn Tyke angesehen; solche Predigten würden in Lowick nicht an ihrem Orte sein – ich meine Predigten über die Rechtfertigung durch den Glauben und über die Prophezeiungen in der Offenbarung Johannis. Ich habe viel über die verschiedenen Wege nachgedacht, wie das Christenthum gelehrt wird, und so oft ich einen Weg finde, auf welchem es mehr als auf jedem andern segenbringend für Viele wird, klammere ich mich an denselben als den wahren – ich meine als den Weg, an welchem das Gute aller Art am Besten gefördert wird und welcher einer möglichst großen Anzahl von Menschen Antheil an diesem Guten gewährt. Es ist sicherlich besser, zu viel zu verzeihen als zu viel zu verdammen. Ich würde Herrn Farebrother gern sehen und ihn predigen hören.«
»Thun Sie das,« entgegnete Lydgate, »ich habe das größte Vertrauen zu dem Eindruck, den Sie davon empfangen werden. Er ist sehr beliebt, aber er hat auch seine Feinde; es giebt immer Leute, die es einem tüchtigen Manne nicht vergeben können, daß er anderer Ansicht ist als sie. Und das um Geldspielen ist wirklich ein schlimmes Ding. Sie sehen natürlich nicht viele Middlemarcher; aber Herr Ladislaw, der ja fortwährend mit Herrn Brooke verkehrt, ist ein großer Freund der alten Farebrother'schen Damen und würde sich über eine Gelegenheit freuen, das Lob des Pfarrers zu singen. Eine der alten Damen, Fräulein Nobel, die Tante, ist in ihrer wunderlichen altfränkischen Erscheinung das echte Bild selbstvergessener Güte und Ladislaw begleitet sie auf ihren Gängen bisweilen als ihr Cavalier. Ich begegnete ihnen eines Tages in einem Seitengäßchen; Sie wissen, wie Ladislaw aussieht – ein Daphnis Daphnis (›Lorbeerkind‹) ist in der griechischen Mythologie ein Hirte auf Sizilien, Sohn des Hermes und einer Nymphe; ein Treuebruch gegenüber der Nymphe Nomia, der er sich zur Treue verpflichtet hatte, hat seine Erblindung zur Folge. Er hatte sich leichtfertig gerühmt, Eros zu besiegen, doch die gekränkte Aphrodite weckt in ihm die Liebe zur Königstochter Xenea, die diese erwidert. Daphnis kann sich zwar mit seiner Sanges- und Flötenkunst über die Blendung hinwegtrösten, stürzt jedoch bald von einem Felsen und wird selbst in einen Felsen verwandelt. Der spätantike Roman »Daphnis und Chloë« von Longos greift das Liebesmotiv auf und spinnt es zwischen zwei Findelkindern fort. Daphnis galt in der Antike als der Schöpfer der Schäferpoesie; Pan, der sich in den erblindeten Hirten verliebte, soll ihm das Flötenspiel beigebracht haben. – Anm.d.Hrsg. in moderner Tracht, und neben ihm das kleine Fräulein, das ihm kaum bis an den Arm reichte, so glichen sie einem Pärchen aus einer romantischen Komödie! Die beste Art, sich über Farebrother zu unterrichten, bleibt aber immer, ihn zu sehen und zu hören.«
Glücklicherweise fand diese Unterhaltung in Dorothea's Privat-Wohnzimmer statt und war Niemand zugegen, dessen Anwesenheit Lydgate's harmlose Erwähnung Ladislaw's für sie hätte peinlich machen können. Lydgate hatte, wie es ihm mit persönlichem Klatsch immer zu gehen pflegte, Rosamunden's Bemerkung, sie glaube, daß Will Ladislaw Frau Casaubon anbete, ganz vergessen. In jenem Augenblick dachte er nur an das, was die Farebrother'sche Familie empfehlenswerth erscheinen lassen könne, und er hatte absichtlich das Schlimmste, was von dem Pfarrer gesagt werden konnte, scharf hervorgehoben, um etwaigen Einwendungen gegen seine Empfehlung zuvorzukommen. In der seit Casaubon's Tode verflossenen Woche hatte er Ladislaw kaum gesehen und hatte nichts von den Gerüchten gehört, die ihn darauf aufmerksam hätten machen können, daß es mißlich sei, in Frau Casaubon's Gegenwart von Herrn Brooke's Privatsekretär zu reden.
Als er sie verlassen hatte, drängte sich ihrem Geiste bei dem Gedanken an die Lowicker Pfründe das von Lydgate entworfene Bild Ladislaw's immer wieder auf. Was mochte Ladislaw über sie denken? Würde er etwas von jener Thatsache erfahren, die ihre Wangen glühen machte wie nie zuvor? Und was würde er empfinden, wenn er sie erführe?
Vollkommen deutlich stand er vor ihrem innern Auge, wie er auf das kleine alte Fräulein herablächelte. Er ein Savoyarde mit weißen Mäusen! – im Gegentheil, er war ein Mensch, der auf die Gefühle jedes Andern einzugehen und ihnen die Last ihrer Gedanken abzunehmen verstand, anstatt ihnen seine eigenen Gedanken mit eiserner Zähigkeit aufzudrängen.