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Das Motto zu Kapitel 55 (in dieser Übersetzung Band 3, Kapitel 13):
Hath she her faults? I would you had them too.
They are the fruity must of soundest wine;
Or say, they are regenerating fire
Such as hath turned the dense black element
Into a crystal pathway for the sun.
Wenn man die Jugend eine Zeit der Hoffnung nennt, so ist sie das doch oft nur in dem Sinne, daß die ältern Leute Hoffnungen für uns hegen. Denn kein Alter ist so geneigt wie die Jugend, seine Gefühle, Entschlüsse und Trennungen für die letzten ihrer Art zu halten. Jede Krisis scheint der Jugend ein Ende zu bedeuten, nur weil sie neu ist. Man erzählt uns, daß die ältesten Einwohner von Peru nie aufhören, sich durch Erdbeben in Aufregung versetzen zu lassen; vermuthlich weil sie bei jeder Erschütterung weiter blicken und noch eine Menge fernerer Erdbeben voraussehn.
Dorotheen, die noch in jener Periode der Jugend stand, wo die Augen mit ihren langen vollen Wimpern nach einem Thränenregen unerschöpft und unberührt aussehen wie eine eben aufgegangene Passionsblume, erschien jener Morgenabschied von Will Ladislaw als der Schluß ihrer persönlichen Beziehungen zu ihm. Er ging hinaus in die weite Ferne verhüllter Jahre; wenn er je wiederkäme, würde er ein anderer Mensch geworden sein. Von seinem augenblicklichen Gemüthszustande, – seinem stolzen Entschlusse, jeden Argwohn, daß er den armen Abenteurer, der nach einer reichen Frau sucht, spielen wolle, im Voraus Lügen zu strafen –, hatte sie gar keine Vorstellung, und sie hatte sich sein ganzes Benehmen leicht genug durch die Annahme erklären zu können geglaubt, daß er, wie sie, in Casaubon's Codizill ein plumpes und grausames Verbot jedes freundschaftlichen Verkehrs zwischen ihnen erblicke.
Ihre jugendliche Freude an einer Unterhaltung über Dinge, die kein Anderer würde haben anhören mögen als sie Beide, war für immer vorbei und war zu einem der Vergangenheit angehörenden Schatz geworden. Gerade deshalb gefiel sie sich darin, ungehemmt bei der Erinnerung daran zu verweilen. Auch dieses einzige Glück war jetzt erstorben und in seiner schweigenden dunklen Behausung konnte sie dem leidenschaftlichen Kummer Luft machen, der sie selbst überraschte.
Zum ersten Mal nahm sie das Miniaturbild von der Wand, stellte es vor sich hin und gefiel sich darin, das Bild der Frau, welche zu streng gerichtet worden war, mit dem des Enkels, den ihr eigenes Herz und Urtheil vertheidigte, zusammenfließen zu lassen. Wer, der sich je der Zärtlichkeit eines Weibes erfreut hat, möchte es ihr zum Vorwurf machen, daß sie das kleine ovale Bild in ihre Hand legte und ihm hier ein weiches Lager bereitete und ihre Wange daran lehnte, wie wenn sie damit die Wesen, welche unter einer so ungerechten Verurtheilung gelitten hatten, liebkosend beschwichtigen könnte.
Sie wußte noch nicht, daß es Liebe sei, die sich ihr, rasch wie in einem Traume vor dem Erwachen, mit ihren im Morgenroth schimmernden Flügeln genahet habe, und daß es Liebe sei, der sie ihr Lebewohl nachseufzte, da der eindringende Tag das Zauberbild verscheuchte. Sie fühlte nur, daß etwas in ihrem Leben unwiderruflich geknickt und verloren sei, und ihre Gedanken über die Zukunft drängten sich nur um so energischer zu einem Entschluß zusammen. Glühende Seelen, die eifrig an der Gestaltung ihrer Zukunft arbeiten, sind geneigt, der Erfüllung ihrer eigenen Visionen zu vertrauen.
Eines Tages, als sie nach Freshitt gefahren war, um ihr Versprechen, dort zu übernachten und Baby baden zu sehen, zu erfüllen, kam Frau Cadwallader zu Tische, während der Pfarrer auf einer Exkursion zum Fischen begriffen war. Es war ein heißer Abend und selbst in dem reizenden Wohnzimmer, vor dessen offenen Fenstern sich der schöne alte Rasen nach wohlbewachsenen Anhöhen und einem von Wasserlilien bedeckten Teiche zu abdachte, war die Hitze so groß, daß Celia in ihrem weißen Mousselinekleide und ihren leichten Locken mitleidig dachte, was Dodo in ihrem schwarzen Kleide und ihrer engen Wittwenhaube wohl leiden müsse. Aber diesem Gedanken gab sie erst Raum, als einige Episoden mit Baby vorüber waren und ihr Geist die nöthige Freiheit wieder gewonnen hatte.
Sie hatte schon eine Weile gesessen und sich gefächelt, bevor sie in ihrem ruhigen Kehlton sagte:
»Liebe Dodo, nimm doch die Haube ab. Du mußt Dich ja in Deiner Kleidung ganz elend fühlen.«
»Ich habe mich schon so ganz an die Haube gewöhnt, daß sie mir wie eine natürliche Schale vorkommt,« erwiderte Dorothea lächelnd, »Ich fühle mich wie nackt und bloß, wenn ich sie abnehme.«
»Du mußt sie aber abnehmen; sie macht uns Allen warm,« sagte Celia, warf ihren Fächer bei Seite und ging auf Dorothea zu.
Es war ein hübsches Bild, wie das Weibchen im weißen Mousseline ihrer majestätischeren Schwester die Wittwenhaube losband und dieselbe auf einen Stuhl schleuderte. Eben war das dunkle braune Haar mit seinen reichen Flechten frei geworden, als Sir James eintrat. Als er Dorothea's Kopf seiner drückenden Hülle entledigt sah, rief er in einem Ton der Befriedigung: »Ah«.
»Das habe ich gethan, James,« sagte Celia, »Dodo braucht sich nicht zur Sclavin ihrer Trauer zu machen; sie braucht die Haube, wenn wir unter uns sind, gar nicht mehr zu tragen.«
»Liebe Celia,« bemerkte Lady Chettam, »eine Wittwe muß ihre Trauerkleider wenigstens ein Jahr lang tragen.«
»Doch nicht wenn sie sich vor Ablauf des Jahres wieder verheirathet,« sagte Frau Cadwallader, die ihren Spaß daran hatte, die gute alte Lady zu choquiren.
Sir James verdroß das, und er lehnte sich vorüber, um mit Celia's Bologneser Hündchen zu spielen.
»Das kommt hoffentlich sehr selten vor,« erwiderte Lady Chettam in einem Tone, der gegen eine solche Eventualität im Voraus Protest einlegen sollte. »Von unsern Bekannten hat sich nie eine in dieser Weise compromittirt, außer Frau Beevor, und darüber war Lord Grinsell sehr ungehalten. Ihr erster Mann war keine gute Parthie gewesen, und das machte die Sache nur um so merkwürdiger. Auch hat sie es schwer büßen müssen. Die Leute erzählten, Hauptmann Beevor habe sie an den Haaren umhergezerrt und sie mit geladenen Pistolen bedroht.«
, Ja, weil sie den unrechten Mann genommen hat!« sagte Frau Cadwallader, die in einer entschieden boshaften Laune war. »Heirathen kann immer schlecht ausfallen, gleichviel ob zum ersten oder zum zweiten Mal; Priorität ist eine kümmerliche Empfehlung für einen Ehemann, wenn er keine bessere hat. Ich möchte lieber einen guten zweiten Mann haben als einen mittelmäßigen ersten.«
»Liebes Kind, Ihre gewandte Zunge geht mit Ihnen durch,« entgegnete Lady Chettam, »Ich bin überzeugt, daß Sie die letzte Frau wären, die sich vorzeitig wiederverheirathen möchte, wenn unser guter Pfarrer das Zeitliche segnen sollte.«
»O ich verspreche nichts; es könnte ja eine nothwendige Oekonomie sein. Ich denke doch, es ist gesetzlich erlaubt, sich wieder zu verheirathen, sonst könnten wir ja eben so gut Hindus wie Christen sein. Natürlich muß eine Frau, die sich den verkehrten Mann nimmt, auch die Folgen tragen und eine, die das zwei Mal hintereinander thut, verdient kein besseres Loos. Wenn sie aber einen vornehmen, schönen und ritterlichen Mann bekommen kann – je eher je lieber.«
»Mir scheint der Gegenstand unserer Unterhaltung sehr schlecht gewählt,« sagte Sir James mit dem Ausdruck des Widerwillens. »Lassen Sie uns lieber von etwas anderem reden.«
»Nicht um meinetwillen, Sir James,« sagte Dorothea, die entschlossen war, die Gelegenheit, sich gegen gewisse indirekte Anspielungen auf gute Parthien unempfindlich zu zeigen, nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen. »Wenn Sie an mich denken, so kann ich Sie versichern, daß es keinen Gegenstand geben könnte, der mir gleichgültiger wäre und mich persönlich weniger berührte als eine zweite Heirath. Mir liegt die Sache gerade so fern, wie wenn Sie von Frauen sprächen, die auf die Fuchsjagd gehen, – es mag das nun löblich sein oder nicht, ich werde ihrem Beispiele nicht folgen. Bitte, lassen Sie Frau Cadwallader ihre ergötzlichen Bemerkungen über diesen Gegenstand gerade so gern machen, wie über jeden andern.«
»Meine liebe Frau Casaubon,« sagte Lady Chettam in ihrem vornehmsten Tone, »ich hoffe Sie haben in dem, was ich über Frau Beevor gesagt habe, keine Anspielung auf Sie zu finden geglaubt. Es war nur ein Beispiel, das mir gerade einfiel. Sie war die Stieftochter Lord Grinsell's der sich zum zweiten Male mit Frau Teveroy verheirathete. Da konnte ich doch unmöglich auf Sie anspielen wollen.«
»O nein,« sagte Celia, »Niemand von uns hat den Gegenstand absichtlich auf's Tapet gebracht. Es kam alles von Dodo's Haube her. Und was Frau Cadwallader gesagt hat, ist doch ganz wahr. Eine Frau könnte sich doch nicht in einer Wittwenhaube verheirathen, James.«
»Still, liebes Kind!« fiel Frau Cadwallader ein. »Ich will keinen Anstoß wieder erregen. Ich werde mir nicht einmal eine Anspielung auf Dido oder Zenobia Dido: In Vergils ›Aeneis‹ trifft Aeneas auf seiner Flucht aus Troja in Karthago auf Dido, die mythische Gründerin dieser Stadt. Sie verliebt sich unsterblich in ihn. Er jedoch folgt seiner Pflicht und reist weiter, was Dido schließlich in den Freitod treibt. – Zenobia: Ähnlich wie Dido, Semiramis und Kleopatra ist die Herrscherin von Palmyra eine jener halb mythischen, halb historischen weiblichen Heldengestalten, die eine reiche literarische Nachwirkung hatten. Mrs. Cadwallader scheint hier aber eher auf die armenische Zenobia anzuspielen, die Tochter des Königs Mithridates, und ihre Liebesgeschichte um Tiridate und Radamisto, wie sie Metastasio in einem mehrfach vertonten Opernlibretto (1737) gestaltet hatte. – Anm.d.Hrsg. erlauben. Nur weiß ich nicht recht, wovon wir reden sollen? Ich für mein Theil muß mich gegen eine Diskussion über die menschliche Natur im Allgemeinen erklären, weil darin auch die Natur von Pfarrersfrauen enthalten wäre.«
Später am Abend, nachdem Frau Cadwallader fortgegangen war, sagte Celia vertraulich zu Dorotheen:
»Wahrhaftig, Dodo, als Du die Haube abnahmst, warst Du in mehr als einer Beziehung wieder ganz Du selbst. Ganz nach Deiner alten Gewohnheit sagtest Du es gerade heraus, so oft etwas gesprochen wurde, was Dir mißfiel. Aber ich konnte nicht recht dahinter kommen, ob Du mit James oder mit Frau Cadwallader unzufrieden warst.«
»Mit keinem von Beiden,« ewiderte Dorothea. »James unterbrach Frau Cadwallader aus Delicatesse für mich; er irrte sich aber in der Annahme, daß mir das, was Frau Cadwallader sagte, unangenehm sei. Unangenehm würde es mir nur sein, wenn es ein Gesetz gäbe, das mich nöthigte, irgend ein gut aussehendes Individuum von vornehmer Herkunft, welches sie oder irgend jemand Anderes mir empfehlen möchte, zu nehmen.«
»Aber weißt Du, Dodo, wenn Du Dich je wieder verheirathen solltest, so wäre es doch sehr wünschenswerth, wenn Du gute Familie und ein hübsches Aeußere mit in den Kauf bekommen könntest,« sagte Celia, die bei sich dachte, daß Casaubon mit keiner dieser beiden Eigenschaften reich ausgestattet gewesen sei und daß es gerathen sein möchte, Dorothea bei Zeiten zu warnen.
»Sei nicht bange, Kitty; ich habe ganz andere Pläne für mein Leben, ich werde mich nie wieder verheirathen,« erwiderte Dorothea und faßte Celia dabei an das Kinn mit dem Ausdruck nachsichtiger Zärtlichkeit. Celia säugte eben ihr Baby, und Dorothea war gekommen ihr gute Nacht zu sagen.
»Bist Du wirklich ganz entschlossen?« fragte Celia. »Wenn nun ein ganz wundervoller Mann käme?«
Dorothea schüttelte langsam den Kopf.
»Auch dann nicht. Ich habe köstliche Pläne. Ich möchte ein großes Stück Land entwässern lassen und eine kleine Colonie darauf gründen, wo Jedermann arbeiten müßte und alle Arbeit gut gethan würde. Ich würde jeden einzelnen Colonisten genau kennen und ihrer aller Freundin sein. Ich muß große Berathungen mit Herrn Garth halten; der kann mir fast Alles sagen, was ich zu wissen brauche.«
»Wenn Du einen Plan hast, wirst Du gewiß glücklich, Dodo,« sagte Celia. »Vielleicht wird Arthur'chen auch ein Freund von Plänen, wenn er erwachsen ist, und dann kann er Dir helfen.«
Sir James erfuhr noch an demselben Abend, daß Dorothea wirklich entschlossen sei, sich unter keinen Umständen wieder zu verheirathen, und daß sie sich mit allen Arten von Plänen trage, gerade wie sie es früher zu thun gewohnt gewesen sei.
Sir James erwiderte nichts. Seinem innersten Gefühle widerstrebte jede Wiederverheirathung einer Frau, und er würde in jeder Heirath Dorothea's eine Art von Entweihung erblickt haben. Er wußte wohl, daß die Welt ein solches Gefühl für abgeschmackt hält, namentlich wenn es sich um eine Frau von einundzwanzig Jahren handelt, – ›die Welt‹, welche die Heirath einer jungen Wittwe als etwas sicher und wahrscheinlich nahe Bevorstehendes zu betrachten und verständnißvoll zu lächeln pflegt, wenn die Wittwe diese Voraussicht bestätigt. Wenn aber Dorothea es vorziehe, sich mit ihrer Einsamkeit zu vermählen, so werde ihr, sagte er sich, dieser Entschluß wohl anstehen.