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Das Motto zu Kapitel 60 (in dieser Übersetzung Band 3, Kapitel 18):
Good phrases are surely, and ever were, very commendable.
Shakespeare: Justice Shallow, in Henry IV Part 2.
Wenige Tage später, es war schon Ende August, gab es einige Aufregung in Middlemarch. Dem Publikum bot sich die vortheilhafte Gelegenheit dar, unter den Auspicien des Herrn Borthrop Trumbull, die dem Herrn Edwin Larcher gehörenden Möbel, Bücher und Bilder, von deren Vorzüglichkeit sich Jedermann aus den Anschlagszetteln überzeugen konnte, zu kaufen.
Dies war keine von den Auctionen, welche ein Darniederliegen des Geschäfts bekundeten; im Gegentheil, sie war veranlaßt durch Herrn Larcher's glänzende Erfolge im Fuhrwerksgeschäft, welche ihn zu dem Ankauf eines in der Nähe von Riverstone belegenen herrschaftlichen Hauses in den Stand setzten. Dieses Hans war bereits von einem berühmten Badearzt in großem Stile, mit so prächtigen Rahmen, voll theurer, nackter Figuren möblirt, daß Frau Larcher sich dadurch geängstigt und erst beruhigt fühlte, als sie fand, daß die Bilder biblische Gegenstände darstellten.
So entstand die Auction und damit eine schöne Gelegenheit für Kauflustige, wie auf den Anschlagszetteln des Herrn Borthrop Trumbull des Näheren zu lesen stand, dessen Bekanntschaft mit der Geschichte der schönen Künste ihn befähigte, darauf aufmerksam zu machen, daß sich unter dem ausnahmslos zu verkaufenden Mobiliar des ganzen Vestibüls ein geschnitztes Möbel von einem Zeitgenossen Gibbon's befinde.
Eine große Auction galt in jenen Tagen in Middlemarch für eine Art von Festlichkeit. Da stand, wie bei einem Leichenbegängniß, ein mit den ausgesuchtesten kalten Speisen bedeckter Tisch, und da bot sich den Besuchern die reichlichste Gelegenheit, sich durch ein Glas Wein in jene generöse und heitere Stimmung zu versetzen, welche sie dann vielleicht zu generösen und heiteren Geboten auf unwünschenswerthe Gegenstände vermögen würde.
Die Auction des Herrn Larcher war bei dem schönen Wetter um so anziehender, als das Hans mit seinen dazu gehörenden Gärten und Ställen grade am Ende der Stadt, auf der sogenannten schönen Londoner Straße stand, welche auch nach dem neuen Hospital und dem, unter dem Namen ›das Gebüsch‹ bekannten, abgelegenen Landsitze des Herrn Bulstrode führte.
Kurz, die Auction war so gut wie ein Markt und lockte Leute aus allen Klassen der Gesellschaft an. Einige, welche nur, um die Preise in die Höhe zu treiben, ein Gebot riskirten, behandelten die Sache fast wie das Wetten bei den Rennen.
Am zweiten Tage, als das beste Mobiliar zum Verkauf kommen sollte, waren ›alle Menschen‹ da; sogar Herr Thesiger, der Pfarrer von St. Peter, war auf einige Augenblicke erschienen, weil er den geschnitzten Tisch zu kaufen wünschte, und hatte dicht neben Herrn Bambridge und Herrn Horrock gestanden. Um den großen Tisch im Eßzimmer, vor welchem Herr Borthrop Trumbull auf einem erhöhten Sitz mit Pult und Hammer thronte, saß ein Kranz von Middlemarcher Damen; aber die Reihen der hauptsächlich aus männlichen Individuen bestehenden Besucher hinter den Damen boten einen oft wechselnden Anblick, je nachdem Leute durch die Thür und durch das große nachdem Rasen hin geöffnete Bogenfenster aus- und eingingen.
Unter ›allen Menschen‹, die dort an jenem Tage verkehrten, befand sich aber nicht Herr Bulstrode, dessen Gesundheitszustand Gedränge und Zug nicht gut vertrug. Aber Frau Bulstrode hatte den lebhaften Wunsch geäußert, ein Bild zu besitzen, welches die zum Mahle vereinigten Jünger in Emmaus darstellte und im Catalog Guido Reni zugeschrieben war; im letzten Augenblick vor dem Auctionstage hatte Herr Bulstrode auf dem Bureau des ›Pionier‹, zu dessen Eigenthümern er jetzt gehörte, vorgesprochen, um Herrn Ladislaw um die große Gefälligkeit zu bitten, gütigst seine ausgezeichnete Kennerschaft von Gemälden im Interesse von Frau Bulstrode zu verwenden und den Werth dieses Bildes zu beurtheilen – »wenn,« fügte der peinlich höfliche Banquier hinzu, »ein Besuch der Auction nicht in die Vorbereitungen zu Ihrer Abreise, welche, wie ich weiß, nahe bevorsteht, störend eingreifen würde.«
Dieser Vorbehalt würde Will vielleicht wie eine satirische Anspielung geklungen haben, wenn er in der Stimmung gewesen wäre, von einer solchen satirischen Bemerkung Notiz zu nehmen. Dieselbe bezog sich auf ein bereits vor Monaten mit den Eigenthümern des Blattes getroffenes Abkommen, welchem zufolge es Will jeden Augenblick frei stehen sollte, die Redaction dem Sub-Redacteur, welchen er herangebildet hatte, zu übergeben, da er Middlemarch ganz zu verlassen wünschte.
Aber unbestimmte Visionen des Ehrgeizes erweisen sich schwach gegen liebgewordene Lebensgewohnheiten, und wir Alle wissen, wie schwer es ist, einen Entschluß zur Ausführung zu bringen, wenn wir im Geheimen den Wunsch hegen, daß sich diese Ausführung als unnöthig herausstellen möchte. In solchen Stimmungen nähren die Ungläubigsten in sich etwas dem Wunderglauben Aehnliches. Mag die Erfüllung unserer Wünsche auch noch so unmöglich erscheinen – doch sind schon die wunderbarsten Dinge geschehen!
Will gestand sich selbst diese Schwäche nicht ein; aber er zögerte. Was konnte es nützen, in dieser Jahreszeit nach London zu gehen? Seine ehemaligen Mitschüler in Rugby, die sich seiner noch erinnern würden, waren nicht dort, und sofern es sich um politische Schriftstellerei handelte, schien es ihm erwünschter, bei der Redaction des ›Pionier‹ zu bleiben.
Im gegenwärtigen Augenblick jedoch, wo Herr Bulstrode mit ihm sprach, war sein Inneres getheilt zwischen dem festen Entschlusse abzureisen, und dem ebenso festen Entschlusse nicht fortzugehen, bis er Dorothea noch einmal gesehen hätte.
Daher erwiderte er, daß er Gründe habe, seine Abreise noch etwas zu verschieben, und mit großem Vergnügen die Auction besuchen werde.
Will war in dem erbitternden Bewußtsein, daß die Leute, die ihn ansahen, muthmaßlich um eine Thatsache wüßten, welche der Beschuldigung gleichkomme, daß er ein Mensch sei, dessen niedrige Absichten durch vermögensrechtliche Dispositionen vereitelt werden müßten, in einer trotzig herausfordernden Stimmung. Wie alle Menschen, die sich auf ihre Unabhängigkeit von conventionellen Rangunterschieden etwas zu Gute thun, war er bereit, ohne weiteres mit Jedem anzubinden, der ihm etwa zu verstehen geben möchte, daß er persönliche Gründe habe, jene Unabhängigkeit so sehr zu betonen, daß in seinem Blute, seinem Benehmen oder seinem Rufe etwas liege, dem er die Maske einer sittlichen Ueberzeugung vorzubinden für nöthig erachte. Wenn er sich in einer solchen gereizten Stimmung befand, pflegte er wohl Tage lang mit herausfordernder Miene und fortwährend wechselnder Farbe umherzugehen, wie wenn er auf dem qui vive wäre und auf etwas laure, auf das er sich stürzen wolle.
Dieser Ausdruck seines Gesichts erschien bei ihm besonders scharf ausgeprägt, als er den Auctionssaal betrat, und Die, welche ihn bisher nur in Momenten einer milden, aber wunderlichen Laune oder einer strahlenden Heiterkeit gesehen hatten, würden bei dem Anblick seiner heutigen Erscheinung von dem Contraste frappirt gewesen sein. Er benutzte nicht ungern diese Gelegenheit, sich öffentlich vor den Middlemarcher Stämmen der Toller, Hackbutt und wie sie sonst heißen mochten, – die auf ihn als auf einen Abenteurer geringschätzig herabsahen, in ihrer krassen Ignoranz nichts von Dante wußten und über sein polnisches Blut höhnten, während sie doch selbst zu einem Geschlechte gehörten, das der Kreuzung äußerst bedürftig war –, blicken zu lassen.
Er stand, nicht weit vom Auctionator an einer für alle Besucher sichtbaren Stelle, mit den Zeigefingern seiner beiden Hände in den Seitentaschen und mit zurückgeworfenem Kopfe, unlustig, mit irgend Jemandem zu sprechen, obgleich ihm Herr Trumbull, welcher sich in der Bethätigung seiner glänzenden Fähigkeiten behaglich erging, als einen Connaisseur herzlich willkommen geheißen hatte.
Und sicherlich giebt es von allen Menschen, deren Beruf sie zu einer Darlegung ihrer Redefertigkeit nöthigt, keinen glücklicheren als einen beliebten Auctionator in der Provinz, welcher ungemein viel Geschmack an seinen eigenen Scherzen findet und von der Bedeutung seiner encyklopädischen Kenntnisse durchdrungen ist. Vielleicht würde es manchem sauertöpfischen und schwerblütigen Menschen widerstreben, fortwährend die Vorzüge aller erdenklichen Artikel von Stiefelknechten bis zu ›Van Dyk's‹ Im Original ist es der niederländische Landschaftsmaler Nicolaes Berghem (1620-83). – Anm.d.Hrsg. zu rühmen; aber in Herrn Borthrop Trumbull's Adern floß ein mildes leichtes Blut; er war ein geborner Bewunderer und war überzeugt, daß, wenn er je die Freude haben sollte, das Universum unter seinen Hammer zu bekommen, dasselbe, Dank seiner Empfehlung, einen höheren Preis erzielen würde.
Einstweilen genügte ihm Frau Larcher's Mobiliar. Als Will Ladislaw eingetreten war, erregte plötzlich ein zweiter Fender Lehman hat in seiner Übersetzung einmal mehr das englische Wort einfach stehen gelassen; es bedeutet »Kamingitter«. – Anm.d.Hrsg., der, wie es hieß, im rechten Augenblick vergessen worden war, des Auctionators Enthusiasmus, den er nach einem auf Billigkeit beruhenden Grundsatz im höchsten Maße solchen Dingen angedeihen ließ, die der Anpreisung am bedürftigsten erschienen. Der Fender war von polirtem Stahl von lanzetförmiger durchbrochener Arbeit und hatte eine scharfe Kante.
»Jetzt, meine Damen,« sagte er, »wende ich mich an Sie. Hier habe ich einen Fender, der bei einer anderen Auction schwerlich ohne Vorbehalt zum Verkauf gebracht werden würde; denn er ist, wie ich wohl behaupten darf, an Qualität des Stahls und Zierlichkeit der Arbeit ein Stück« – bei diesen Worten ließ Herr Trumbull die Stimme sinken und fing an, etwas durch die Nase zu sprechen, während er mit seinem linken Finger Backenbart und Kinn leicht berührte – »welches einem gewöhnlichem Geschmacke vielleicht nicht zusagen würde. Erlauben Sie mir aber, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß mit der Zeit diese Art der Arbeit en vogue kommen wird – eine halbe Krone haben Sie gesagt? danke Ihnen – eine halbe Krone geboten für diesen ausgezeichneten Fender; ich weiß aus bester Quelle, daß der antike Stil in der vornehmen Welt sehr gesucht ist. 3 sh. – 3 sh. 6 d. Bis in die 1970er Jahre wurde der englische ›Penny‹ mit d. abgekürzt. Dies leitet sich vom lateinischen denarius ab. – Anm.d.Hrsg. – halten Sie ihn recht in die Höhe, Joseph! Achten Sie recht genau, meine Damen, auf die Reinheit der Zeichnung – ich bin überzeugt, daß die Arbeit dem vorigen Jahrhundert angehört! 4 sh. Herr Mawmsey? 4 sh.«
»In meine Wohnstube würde ich das Ding nicht setzen!« sagte Frau Mawmsey vernehmlich, um ihren voreiligen Gatten zu warnen. »Ich muß mich über Frau Larcher wundern. Jedes Kind, das dagegen fiele, würde sich den Kopf zerschneiden. Die Kante ist wie ein Messer.«
»Vollkommen richtig,« erwiderte Herr Trumbull rasch, »was kann es Nützlicheres geben als einen Fender, an welchem man gelegentlich, wenn man gerade kein Messer bei der Hand hat, ein ledernes Schuhband oder einen Bindfaden abschneiden kann. Wie mancher Mensch ist schon erhängt, weil es an einem Messer fehlte, ihn abzuschneiden. Meine Herren, hier ist ein Fender, mit dem man Sie, wenn Sie einmal das Unglück haben sollten, sich aufzuhängen, im Augenblick unglaublich rasch wieder würde abschneiden können 4 sh. 6 d., 5 sh., 5 sh. 6 d. und – höchst passend für ein Fremdenzimmer mit Himmelbett, wenn einmal ein Gast darin schliefe, bei dem es im Oberstübchen nicht ganz richtig wäre – 6 sh. – danke Ihnen Herr Clintup – 6 sh. geboten zum ersten, zum zweiten, zum dritten. Glück damit.«
Die Augen des Auctionators, welche bisher mit fast übernatürlicher Behendigkeit des Blicks alle Zeichen von Geboten in der ganzen Versammlung aufgesogen hatten, senkten sich jetzt auf das vor ihm liegende Papier, und auch seine Stimme sank zu einem gleichgültigen Geschäftston herab, als er sagte:
»Herr Clintup, rasch, Joseph.«
»Ein Fender, von von dem man eine so gute Geschichte erzählen kann, ist immer seine sechs Shilling werth,« sagte Herr Clintup, als wolle er sich entschuldigen, leise lachend zu seinem Nachbar. Er war ein ausgezeichneter Kunstgärtner, aber von schüchterner Natur und fürchtete, die Versammlung möchte sein Gebot für eine Thorheit halten.
Inzwischen hatte Joseph ein Theebrett voll kleiner Artikel herbeigebracht.
»Hier, meine Damen,« sagte Herr Trumbull, indem er einen der kleinen Gegenstände in die Höhe hielt, »dieses Theebrett enthält eine Menge der ausgesuchtesten Artikel, eine Sammlung von Kleinigkeiten für den Tisch im Salon, – und aus Kleinigkeiten setzt sich das menschliche Leben zusammen –; es gibt nichts wichtigeres als Kleinigkeiten – (ja wohl, Herr Ladislaw, bald, sehr bald) –– aber reichen Sie das Theebrett herum, Joseph. Diese allerliebsten Sachen müssen genau besichtigt werden, meine Damen. Was ich da in der Hand halte, ist eine äußerst ingenieuse Erfindung, eine Art praktischer Rebus, wenn ich so sagen darf: von dieser Seite sieht es, wie Sie sehen, wie eine elegante, in der Tasche zu tragende Dose in Gestalt eines Herzens aus; von dieser Seite aber erscheint es als eine herrliche gefüllte Blume, eine Zierde für den Tisch; und jetzt« – und bei diesen Worten erschreckte Herr Trumbull die Damen, indem er plötzlich die Blumen in eine Kette von herzförmigen Blättern auseinander fallen ließ – »ein Räthselbuch! Nicht weniger als fünfhundert in schönem Roth gedruckte Räthsel! Meine Herren, wenn ich ein weniger gewissenhafter Mann wäre, so würde ich wünschen, daß sie nicht hoch auf diese Nummer bieten; ich besäße das Ding gar zu gern selbst. Was kann einer unschuldigen Heiterkeit, ja, ich möchte sagen der Tugend förderlicher sein, als ein gutes Räthsel? Es verhindert die Männer sich mit einander in vulgärer Unterhaltung zu ergehen und fesselt sie an die Gesellschaft fein gebildeter Frauen. Dieser ingenieuse Artikel allein, ohne den eleganten Dominokasten, den Kartenteller u. s. w., müßte schon einen hohen Preis erzielen. Wer das bei sich trägt, kann wohl einer guten Aufnahme in jeder Gesellschaft gewiß sein. 4 sh. mein Herr? – 4 sh. geboten für diese interessante Sammlung von Räthseln mitsammt dem Uebrigen. Hier ein Beispiel: Was für Füchse braucht man, um lose Vögel zu fangen? Antwort: Goldfüchse. Haben Sie gehört? – Füchse – lose Vögel – Goldfüchse. Das ist eine Belustigung, die den Verstand schärft; sie ist pikant – ist, was wir eine Satire nennen, und witzig, ohne anstößig zu sein. 4 sh. 6 d. – 5 sh.!«
Die Gebote folgten und steigerten einander. Herr Bowyer war einer von den Bietern und fand es gar zu ärgerlich, sich fortwährend überboten zu sehen. Bowyer hatte selbst kein Geld und wollte nur alle andern Leute verhindern, etwas zu erlangen. Selbst Horrock wurde von dem Strom mit fortgerissen; aber dieses Aussprechen einer Meinung ging bei ihm mit einer so geringen Modification seines indifferenten Gesichtsausdrucks vor sich, daß man vielleicht gar nicht bemerkt haben würde, daß das Gebot von ihm ausgehe, wenn nicht der neben ihm stehende Herr Bambridge in den freundschaftlichen Fluch ausgebrochen wäre, was, zum Henker, Horrock mit einem so verfluchten Jux wolle. Der passe für verdammtes Krämervolk, wofür Bambridge den bei weitem größten Theil der Menschheit hielt.
Die Nummer wurde schließlich für eine Guinea Herrn Spilkins, einem jungen Thunichtgut aus der Nachbarschaft, zugeschlagen, der sein Taschengeld vergeudete und es unangenehm empfand, daß er keine Räthsel behalten könne.
»Hören Sie, Trumbull, das ist ein bischen zu arg. – Was haben Sie da für Zeugs aus dem Nachlaß einer alten Jungfer in die Auction gebracht!« brummte Herr Toller, indem er dicht an den Auctionator herantrat. »Ich möchte gern sehen, was die Kupferstiche für Preise holen, und ich muß bald fort.«
»Gleich, Herr Toller. Es war nur ein Act des Wohlwollens, den Ihr edles Herz gutheißen würde. Joseph! holen Sie rasch die Kupferstiche her – Nummer 235. Jetzt! meine Herren Connaisseurs, bereiten Sie sich auf einen seltenen Genuß vor. Hier ist ein Kupferstich, der den Herzog von Wellington, umgeben von seinem Stabe auf dem Schlachtfelde von Waterloo darstellt, und ungeachtet neuerlicher Ereignisse, welche die Erscheinung unseres großen Helden so zu sagen umwölkt haben Wellington, einer der Sieger über Napoleon bei Waterloo, hatte 1828 widerstrebend das Amt des britischen Premierministers übernommen; seine Administration folgte erzkonservativen, isolationistischen Maximen. Innenpolitisch setzte Wellington zwar gegen große innerparteiliche Widerstände 1829 das Wahlrecht für Katholiken durch; gleichzeitig versuchte er aber eine weitere Wahlrechtsreform zu verhindern, weswegen er bei weiten Teilen der Bevölkerung höchst unpopulär wurde. Die Verzögerung dieser Wahlrechtsreform und seine Unbeliebtheit weiteten sich zu Unruhen aus. Dennoch erklärte er in völliger Verkennung der Lage bei der Parlamentseröffnung nach dem Tod Georgs IV., dass er eine Wahlrechtsreform weiter ablehne. Diese Erklärung führte zum Sturz seiner Regierung am 22. November 1830. – Anm.d.Hrsg., scheue ich mich nicht, es auszusprechen, – denn ein Mann in meiner Stellung darf sich nicht von politischen Strömungen beeinflussen lassen –, daß ein schönerer unserer eigenen Zeit und Epoche angehörender Gegenstand von keinem menschlichen Geiste erdacht werden konnte – von Engeln vielleicht, von Menschen nicht, meine Herren.«
»Von wem ist das Originalgemälde?« fragte Herr Powdrell, auf welchen die Rede einen großen Eindruck gemacht hatte.
»Es ist ein Abzug avant la lettre Die Wendung avant la lettre (›vor dem Buchstaben‹) bezeichnet ursprünglich den Zustand einer Druckplatte, bevor die Beschriftung erfolgt, also nachdem die Platte vom Künstler freigegeben ist. Hier also sinngemäß: ein vom Künstler autorisierter Abdruck. – Anm.d.Verf., Herr Powdrell. Der Maler ist nicht bekannt,« antwortete Trumbull, der bei den letzten Worten etwas schwer athmete, dann aber die Lippen spitzte und umherstarrte.
»Ich biete ein Pfund,« sagte Herr Powdrell im Tone aufgeregter Entschlossenheit, wie ein Mann, der bereit ist, sich in eine Bresche zu werfen. War es Ehrfurcht oder Mitleid? Niemand überbot ihn.
Demnächst kamen zwei niederländische Stiche an die Reihe, auf welche sich Herr Toller erpicht hatte, der dann auch, sobald sie ihm gesichert waren, von dannen ging. Andere Stiche und einige Gemälde wurden von bedeutenden Middlemarcher Persönlichkeiten gekauft, die speziell zu dem Zweck, dieselben zu erwerben, gekommen waren, und allmälig entstand durch fortwährendes Aus- und Eingehen eine lebhafte Bewegung in der Versammlung, indem Einige, nachdem sie gekauft, was sie hatten haben wollen, fortgingen, Andere dagegen entweder ganz neu hinzukamen oder nach einem kurzen Besuch des auf dem Rasen anfgeschlagenen Erfrischungszeltes wieder eintraten.
Auf den Ankauf dieses Zeltes hatte sich Herr Bambridge gespitzt und erschien an dem öftern Besuche desselben, wie an einem Vorgeschmack des Besitzes, großes Gefallen zu finden. Als er wieder einmal aus dem Zelt in den Saal zurückkehrte, erschien er in Begleitung eines, Herrn Trumbull und allen übrigen Anwesenden unbekannten Mannes, dessen Aeußeres jedoch auf die Vermuthung führte, daß er wohl ein Verwandter des Pferdehändlers sein möge, der auch gern ein Glas trinke. Sein großer Backenbart und seine imponirende Art, die Beine von sich zu werfen, machten ihn zu einer auffallenden Erscheinung; aber sein an den Näthen etwas fadenscheiniger schwarzer Anzug war geeignet, das Vorurtheil zu erwecken, daß er wohl nicht die Mittel besitzen möge, seiner Neigung zu gutem Getränke nach Herzenslust zu fröhnen.
»Wen haben Sie denn da aufgegabelt, Bam?« fragte Horrock leise.
»Fragen Sie ihn selbst,« erwiderte Bambridge. »Er sagt, er komme gradeswegs von der Landstraße her.«
Horrock besah sich den Fremden, der sich mit der einen Hand rückwärts an seinen Stock lehnte, während er die andere zu einer Manipulation mit seinem Zahnstocher benutzte und mit dem Ausdruck einer gewissen Ruhelosigkeit, in welche ihn offenbar das ihm aufgezwungene Schweigen versetzte, um sich blickte.
Endlich kam das angebliche Bild von Guido Reni an die Reihe, und Will athmete auf; denn die Auction hatte ihn bereits so zu ermüden angefangen, daß er sich ein wenig zurückgezogen und sich gerade hinter dem Auctionator mit der Schulter an die Wand gelehnt hatte. Als er jetzt wieder vortrat, fiel sein Blick auf den merkwürdigen Fremden, der, wie er zu seiner Ueberraschung bemerkte, ihn in auffallender Weise anstarrte. Aber Will sah sich sofort durch Herrn Trumbull in Anspruch genommen.
»Ja, Herr Ladislaw, ja; dieses Stück muß Sie, denke ich, als connaisseur interessiren. Es ist kein geringes Vergnügen,« fuhr der Auctionator mit steigender Wärme fort, »einer Gesellschaft von Damen und Herren ein solches Bild zeigen zu können, ein Bild, für welches keine Summe Jemandem zu groß erscheinen würde, dessen Mittel auf gleicher Höhe mit seinem Urtheil ständen. Es ist ein Gemälde aus der italienischen Schule, von dem berühmten Guido Reni, dem größten Maler der Welt, dem ersten unter den sogenannten alten Meistern, – vermuthlich weil sie einige Dinge besser verstanden als wir, weil sie im Besitz von Geheimnissen waren, welche der Menschheit seitdem verloren gegangen sind. Lassen Sie mich Ihnen sagen, meine Herren, ich habe sehr viele Bilder der alten Meister gesehen, und sie sind nicht alle von gleichem Rang mit diesem Gemälde. Einige darunter sind dunkler, als es Ihnen vielleicht gefallen würde, und stellen Gegenstände dar, die sich nicht für ein Familienzimmer eignen. Aber dies ist ein Guido Reni, – der Rahmen allein ist viel Geld werth –, den jede Dame mit Stolz in ihrem Zimmer aufhängen würde, ein passendes Bild für ein sogenanntes Refectorium in einer milden Stiftung, wenn einer der Herren dieser Stadt etwa geneigt sein sollte, seine Munificenz zu bethätigen. Sie wollen es ein wenig gedreht haben? Ja wohl. Joseph, drehen Sie das Bild ein wenig nach Herrn Ladislaw hin; Herr Ladislaw, wissen Sie, ist auf seinen Reisen ein Kunstkenner geworden.«
Einen Augenblick richteten sich Aller Blicke auf Will, als dieser ganz kühl, fünf Pfund bot. Der Auctionator remonstrirte sofort heftig gegen ein so geringes Gebot.
»O, Herr Ladislaw! So viel ist ja der Rahmen allein werth. Meine Damen und Herren, im Namen der Ehre unserer Stadt! Denken Sie sich, wenn es später an den Tag käme, daß wir hier in der Stadt ein Juwel der Kunst besessen haben und niemand in Middlemarch dasselbe zu schätzen gewußt hat. Fünf Guineen – 5 Pfd. Sterl. 7 sh. 6 d. – 5 Pfd. Sterl. 10 sh. Immer weiter, meine Damen, immer weiter. Es ist ein Juwel und ›gar mancher köstliche Juwel‹, wie der Poet sagt, hat schon zu einem Spottpreise losgeschlagen werden müssen, weil das Publikum es nicht besser verstand, weil das Kleinod in Kreisen zum Verkauf kam, wo – ich wollte sagen eine niedrige Gesinnung herrschte, aber nein! – 6 Pfd. Sterl. – 6 Gs. für einen Guido Reni ersten Ranges – 6 Guineen; es ist eine Verhöhnung der Religion, meine Damen; es trifft uns Alle als Christen, meine Herren, wenn ein solcher Gegenstand zu einem so elenden Preise verkauft werden müßte – 6 Pfd. Sterl. 10 sh. – 7 Pfd. Sterl. –«
Die Gebote folgten einander rasch, und Will, der sich erinnerte, daß Frau Bulstrode den lebhaften Wunsch hege, das Bild zu besitzen, und der bis zu zwölf Pfund gehen zu dürfen glaubte, fuhr fort sich daran zu betheiligen. Er bekam es zu zehn Guineen, worauf er alsbald auf das Bogenfenster zuschritt und hinausging.
Da er heiß und durstig geworden war, trat er in das Zelt, um ein Glas Wasser zu trinken; er fand dasselbe leer von andern Besuchern und bat die aufwartende Frau, ihm etwas frisches Wasser zu holen, aber noch ehe sie fortgegangen war, sah Will zu seinem Verdruß den rosig aussehenden Fremden, der ihn vorhin angestarrt hatte, auf sich zutreten.
Will dachte einen Augenblick, der Mann gehöre vielleicht zu jenem im politischen Leben häufig vorkommenden, parasitischen Gewürm von der ausgeblasenen Sorte, von welchem einzelne Exemplare gelegentlich auf den Grund hin, daß sie ihn über die Reformfrage hatten reden hören, ein Recht auf seine Bekanntschaft geltend gemacht hatten, und dieser Mensch hoffe vielleicht, sich durch Zutragen von Neuigkeiten einen Shilling von ihm zu verdienen.
In diesem Lichte betrachtet erschien die Person des Fremden, deren bloßer Anblick an einem Sommertage Einem schon heiß machen konnte, nur noch um so unangenehmer, und Will, der sich auf die Lehne eines Gartenstuhls halb gesetzt hatte, sah absichtlich weg. Aber daran kehrte sich unser alter Bekannter Raffles wenig, der nie den geringsten Anstand nahm, sich den Leuten aufzudrängen, wenn es ihm seinen Zwecken dienlich schien.
Er trat dicht vor Will hin und sagte mit lallender Hast:
»Entschuldigen Sie, Herr Ladislaw – hieß Ihre Mutter mit ihrem Mädchennamen Sara Dunkirk?«
Will sprang auf, trat einen Schritt zurück und sagte in einem verdrossenen, grimmigen Ton:
»Ja, Herr, so hieß sie. Und was geht Sie das an?«
Es gehörte zu Will's Wesen, daß der erste Funke, den er aussprühte, eine direkte Antwort auf die Frage und eine trotzige Herausforderung der Folgen war. Wenn er ohne Weiteres gesagt hätte: »Was geht Sie das an?« hätte es scheinen können, als suche er eine Ausflucht, wie wenn es ihm unangenehm wäre, daß jemand etwas von seiner Herkunft wisse!
Raffles seinerseits trug keineswegs dasselbe Verlangen nach einer Collision, welche ihm in Ladislaw's Blicken drohete. Der schlanke junge Mensch mit seinem Mädchengesicht sah aus wie eine Tigerkatze im Ansprung. Das war die Art, um Raffles' Neigung, die Leute, mit denen er verkehrte, zu verdrießen, im Zaume zu halten.
»Nichts für ungut, lieber Herr, nichts für ungut! Ich erinnere mich nur Ihrer Mutter, habe sie als Mädchen gekannt. Aber Sie sehen Ihrem Vater ähnlich. Ich habe seinerzeit auch das Vergnügen gehabt, Ihren Vater zu sehen. Leben Ihre werthen Eltern noch, Herr Ladislaw?«
»Nein!« donnerte Will noch in derselben Stellung.
»Es sollte mich sehr freuen, wenn ich Ihnen einen Dienst leisten könnte, Herr Ladislaw, auf Ehre, das sollte mich sehr freuen! Auf das Vergnügen, Sie wiederzusehen.«
Bei diesen Worten lüftete Raffles den Hut, drehte sich dann mit einem Schwung seines Beines um und ging davon.
Will sah ihm einen Augenblick nach und bemerkte, daß er nicht wieder in den Auctionssaal trat, sondern in der Richtung nach der Landstraße hinzugehen schien. Einen Augenblick dachte Will, es sei thöricht von ihm gewesen, den Mann nicht ruhig weiter schwatzen zu lassen; – aber nein! im Ganzen war es ihm doch lieber, die Nachrichten aus jener Quelle nicht zu kennen.
Aber noch an demselben Abende begegnete ihm Raffles auf der Straße und schien entweder das unfreundliche Benehmen Will's gegen ihn vergessen zu haben oder sich durch eine nichts nachtragende Familiarität rächen zu wollen; genug er grüßte ihn vertraulich, schloß sich ihm an und eröffnete die Unterhaltung mit Bemerkungen über die Stadt und die Umgegend.
Will hatte ihn in Verdacht, etwas angetrunken zu sein, und überlegte eben bei sich, wie er ihn wohl am besten los werden könne, als Raffles sagte:
»Ich bin auch viel im Auslande gewesen, Herr Ladislaw, ich habe die Welt gesehen, pflegte auch ein bischen französisch zu parliren. In Boulogne sah ich Ihren Vater; Sie sehen ihm bei Gott merkwürdig ähnlich – bei Gott! – Mund, Nase, Augen – wie Sie das Haar aus der Stirn gestrichen tragen, ein bischen ausländisch, ganz wie er – die Engländer tragen das nicht so. Aber Ihr Vater war damals sehr krank. Du lieber Gott, durch seine Hände konnte man das Tageslicht durchscheinen sehen. Sie waren damals noch ein kleiner Bursche. Hat er sich wieder erholt?«
»Nein,« erwiderte Will kurz.
»Aber ich habe mich oft gefragt, was wohl aus Ihrer Mutter geworden sein möge. Sie entlief ihren Verwandten als ganz junges Mädchen, – bei Gott, ein stolzes, keckes Mädchen und hübsch dazu! Ich wußte damals wohl, warum sie fortlief,« sagte Raffles, indem er von der Seite nach Will hinüberschielte und dabei mit den Augen blinzelte,
»Sie wissen nichts Unehrenhaftes von ihr, Herr,« fuhr ihn Will ziemlich wild an. Aber Raffles war in diesem Augenblick gegen feine Nüancen in dem Benehmen seines Begleiters nicht empfindlich.
»Durchaus nichts,« erwiderte er, indem er sehr entschieden den Kopf schüttelte. »Sie war nur ein bischen zu ehrenhaft, um Geschmack an ihrer Familie zu finden, weiter war es nichts.« Bei diesen Worten blinzelte Raffles wieder langsam mit den Augen. »Du lieber Gott, ich wußte ja Alles; es war so ein bischen von dem, was man das respectable Diebsgeschäft nennen kann, ein vornehmes Hehlerhaus – keine von den Höhlen und Winkellöchern – Nummer Eins. Famoses Haus, brillante Bezahlung und keine Gefahr. Aber du lieber Himmel! Sara hätte davon gar nichts erfahren, – sie war ja ein feines Dämchen in einer der besten Pensionen, hätte zur Frau eines Lord gepaßt –, wenn nicht Archie Duncan es ihr aus Depit, nur weil sie nichts von ihm wissen wollte, beigebracht hätte. Und so lief sie davon, um mit der ganzen Sache nichts mehr zu thun zu haben. Ich war Reisender für das Geschäft, Herr Ladislaw, als feiner Herr mit hohem Salair. Zuerst machten sie sich nichts daraus, daß sie fortgelaufen war; es waren fromme Leute, Herr Ladislaw, sehr fromm, und sie war auf die Bühne gegangen. Der Sohn lebte damals noch und die Tochter sank im Preise. Halloh! hier sind wir ja beim ›blauen Ochsen‹. Was meinen Sie, Herr Ladislaw, sollen wir einkehren und ein Glas trinken?«
»Nein, ich muß Ihnen guten Abend wünschen,« sagte Will, indem er rasch in eine nach Lowick Gate führende Passage einbog und fast davon lief, um aus Raffles' Bereich zu kommen.
Längere Zeit ging er fern von der Stadt auf der Landstraße nach Lowick und freute sich der bald eintretenden, nur von Sternen erhellten Dunkelheit. Ihm war zu Muth, als wäre er inmitten lauten Hohngeschrei's mit Schmutz beworfen worden. Was die Angabe des Patrons zu bestätigen schien, war, daß seine Mutter ihm niemals hatte sagen wollen, warum sie ihrer Familie entlaufen sei. Nun! war er, Will Ladislaw, darum schlechter, wenn auch das Abscheulichste von jener Familie wahr wäre? Seine Mutter hatte das schwerste Ungemach ertragen, um sich von ihrer Familie loszusagen.
Wenn aber Dorothea's Verwandte diese Geschichte gekannt, wenn die Chettams um dieselbe gewußt hätten, so würden sie ihren Verdacht schön haben coloriren können und eine willkommene Handhabe für ihre Meinung, daß er nicht für Dorothea passe, gefunden haben.
Gleichviel, mochten sie argwöhnen was sie wollten, sie würden finden, daß sie im Unrecht seien. Sie würden bekennen müssen, daß das Blut in seinen Adern so wenig eine niedrige Gesinnung ertrage, wie das ihrige.