Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Wir haben eine Leiche dort am Wege gefunden,« rief der Knabe. Dabei glänzten seine Augen wie im Fieber und sein ganzer Körper zitterte.
»Ich sah ihn auch,« stammelte der alte Fischer.
»Aber ich sah ihn zuerst,« rief der Junge.
Dann hörte ich mehrere Sekunden lang kein Wort. Die furchtbare Mitteilung hatte uns wie ein Schlag getroffen. Ich sah, wie die Menschen rings um mich her die Nachricht ungläubig aufnehmen wollten. Sie wirkte um so unerwarteter und deshalb um so aufregender, weil sie in einem so plötzlichen und gewaltsamen Gegensatz zu dem wohligen, warmen Sommerfrieden stand, der uns umgab. Der Wind fächelte lau über die Wiesen, Vöglein erfüllten die Luft mit ihrem Gezwitscher und vom Meere herauf hörte man das rasche, regelmäßige Puffen eines Motorbootes. Eine Glastür wurde im Hotel drinnen aufgerissen, ich hörte deutlich, wie die Wirtin mit den Mädchen zankte. Plötzlich rief der Bankbeamte:
»Großer Gott, dann wollen wir doch machen, daß wir dorthin kommen.«
Wir Männer setzten uns sofort in Bewegung, halb rennend, halb marschierend, indem wir geradeaus vor uns hinstarrten. Die Damen zögerten einen Augenblick, folgten uns dann aber in einiger Entfernung nach. Der Junge sprang bald wie ein flinker, kleiner Hund vor uns den Weg entlang, bald fuhr er uns zwischen die Beine und zeigte uns die Richtung.
So durcheilten wir in weniger als fünf Minuten das Gehölz. Dort trafen wir einige Menschen, die wir mit uns fortzogen. Dann kamen wir hinaus auf die öde Heide, die vor uns im Sonnenschein wie eine glühende Wüste lag. Wir verfolgten den Weg, der längs des Waldrandes dahinführte, und während wir liefen, sprachen wir mit dem Jungen.
»Bist du sicher,« fragten wir, »daß du recht gesehen hast?«
»Ja, es ist alles wahr,« antwortete der Knabe, »ich sollte Vieh auf die Weide treiben; dabei fand ich ihn.«
»Wie fandest du ihn? Bist du über ihn gestolpert?«
»Nein, aber der große Ochse blieb stehen und schnupperte im Grase. Ich schrie ihn an, aber er wollte nicht von der Stelle; da ging ich näher, um zu sehen, was es gäbe, und da sah ich den Mann in einer Vertiefung liegen; er war mit dem Gesicht vornübergefallen.«
»Und was weiter?«
»Ich bekam furchtbare Angst und lief, was ich konnte. Im Gehölz traf ich einen Mann mit einem Blecheimer in der Hand. Nachdem ich ihm erzählt, was ich gesehen hatte, rannten wir beide an die Stelle zurück und er sah in sofort –«
»Jawohl, ich sah,« fuhr nun der Mann selbst fort, der neben dem Knaben einhertrabte, »ich sah sofort, daß er erschlagen war.«
»Wieso konnten Sie das sehen?«
»Der Kopf«, murmelte der Mann, »sah gräßlich aus. Aber nun sind wir gleich da.«
Kurz darauf waren wir angelangt. In einer kleinen Senkung und noch im Schatten der Bäume lag der Mann. Der Student, der dicht vor seinem medizinischen Staatsexamen stand, war zuerst bei ihm; ich hörte ihn rufen:
»Es ist Forstmeister Blinde.«
Nun kannten sie ihn alle, zumal auch die Damen, die etwas später atemlos anlangten. Der Tote war der Forstmeister, den ich am Abend vorher aus Fräulein Hildes Zimmer hatte kommen sehen. Er trug denselben grünen Jagdanzug und hatte sein Gewehr bei sich.
Wir konnten auf den ersten Blick sehen, daß er erschlagen sein mußte, denn er hatte eine klaffende Wunde am Hinterkopf. Der arme Bursche war infolge des Schlages vornübergestürzt und mußte sogleich tot gewesen sein, denn sein Gesicht war eingedrückt in den weichen Boden. Er lag auf dem Gewehrlauf, nur der Schaft ragte unter ihm hervor.
Der Student bat um ein Taschentuch. Als er es von den Damen bekommen hatte, legte er es sorgfältig über die Wunde. Dann erhob er sich und sagte:
»Niemand darf ihn berühren.«
Eine von den Damen schluchzte auf. Es lag eine besondere Stimmung über dem ganzen Bilde, etwas, das an ein stilles Begräbnis an einem schönen Frühlingstage vor einer armen Dorfkirche gemahnte. Die Luft war herrlich klar und durchsichtig. Die Kanten des weißen Taschentuches auf dem Haupte des Erschlagenen bewegten sich leise, die Sonne vergoldete mit ihren Strahlen das weidende Vieh, das uns mit großen, dummen Augen ansah.
Ich bin sicher, daß in diesem Augenblick keiner der Anwesenden daran dachte, wie sich der Mord ereignet haben konnte, und niemandem fiel es auch ein, sich zu überlegen, wer der Mörder wohl sein mochte. Alle waren von der Sachlage, von dem, was bereits geschehen war, so stark in Anspruch genommen, daß für andere Ueberlegungen kein Raum blieb. Die Eindrücke hatten sich noch nicht befestigt und das Bild des Ereignisses der vorliegenden Tatsache war noch nicht von jedem voll ausgenommen. Erst nachdem sich das Unglaubliche als Wirklichkeit im Bewußtsein eines jeden festgesetzt hatte, ergab sich die Frage: Wie ist das wohl geschehen?
Der kleine Mediziner hatte sichtlich einen gewissen kriminalistischen Instinkt. Er schnellte empor, als er den kleinen Jungen sagen hörte:
»Hier liegt der Hut.«
Und als sich der Junge bückte, um den Hut aufzuheben, stürzte er herbei und fiel ihm in den Arm.
»Laß den Hut liegen,« schrie er ihn an. Und der Hut blieb liegen.
Es war ein grüner Filzhut, wie ihn die Jäger tragen, an der linken Seite hatte er einen großen Knopf, und ein hübsches Band zog sich rings um den Kopf. Es war der Hut des toten Forstmeisters.
Der Mediziner gab mit Sachkenntnis Erklärungen.
»Hier ist ein Verbrechen begangen,« sagte er; »unser Freund, Forstmeister Blinde, ist von einem unbekannten Menschen erschlagen worden. Soweit ich sehen kann, ist der Tod fast augenblicklich eingetreten, und zwar wurde er von einem stumpfen Instrument ungefähr mitten auf den Hinterkopf getroffen.«
Der Ausdruck »von einem stumpfen Instrument«, der förmlich nach Gefängnis und Polizei roch, ließ die Damen erschaudern. Sie entfernten sich mehr und mehr von dem unheimlichen Platze; schließlich waren nur wir Männer noch bei der Leiche versammelt. Der Mediziner war nach wie vor voller Eifer.
»Hier liegt sein Hut,« fuhr er fort; »der ist ihm natürlich in dem Augenblicke vom Kopfe gefallen, als er den Schlag empfing. Es ist am besten, ihn unberührt zu lassen, bis der Detektiv kommt.«
»Der Detektiv?« fragte ich. »Erwarten Sie einen solchen?«
»Ja, natürlich,« antwortete der Mediziner, »wir müssen nach einem Detektiv telegraphieren, ich kenne einen ausgezeichneten Mann in Christiania.«
»Aber der kann erst nach vielen Stunden hier sein,« wandte ich ein; »es geht doch nicht, daß wir den Toten hier liegen lassen.«
»Ueber Nacht können wir ihn nicht liegen lassen,« sagte er. »Wenn der Detektiv nicht vor Mitternacht hier sein kann, so müssen wir sehen, daß wir den Toten in ein Haus bringen können.«
Als weitgereister Mann bin ich stets im Besitze eines Eisenbahn- und Dampfschiffahrtplanes. Ich zog mein Kursbuch heraus und setzte mich ins Gras, um es zu studieren. Der Mediziner kniete neben mir nieder und steckte seinen Kopf ebenfalls eifrig in das Buch.
»Es ist jetzt zwölf Uhr,« sagte ich. »Sind Sie ganz sicher, daß sich der Polizist, den Sie hinzuziehen wollen, in Christiania aufhält?«
»Ziemlich sicher, ich habe seine Adresse.«
»Sehr wohl; dann wollen wir telegraphieren. Das Telegramm kann er kaum vor zwei Uhr haben. Infolgedessen kann er den Schnellzug, der in einer halben Stunde Christiania verläßt, nicht mehr erreichen; vielmehr muß er bis zu dem gewöhnlichen Personenzuge um 5 Uhr 13 Minuten warten.«
»Er bekommt es aber fertig, einen Extrazug zu nehmen.«
»Das wird er kaum tun. Es handelt sich ja nicht mehr darum, ein Verbrechen zu verhindern, sondern nur ein Rätsel aufzuklären, das bereits vorliegt. Wir müssen damit rechnen, daß er bis 5 Uhr 13 Minuten wartet. Er kann ja doch auch nicht Hals über Kopf sein Haus verlassen. Von Christiania bis zu unserer nächsten Haltestelle sind fünf Stunden Eisenbahnfahrt, so kann er unter keinen Umständen den Abenddampfer hierher noch erreichen.«
»Er findet sicherlich ein schnelles Motorboot.«
»Ja, aber selbst ein noch so schnelles Motorboot schafft die Strecke nicht in weniger als vier Stunden. Vor zwei Uhr nachts kann er also nicht hier sein.«
Der Mediziner schüttelte den Kopf.
»Sie kennen eben den Detektiv nicht,« sagte er, »den ich im Auge habe.«
»Ganz gleich,« erwiderte ich, »wir müssen mit den vorliegenden Umständen rechnen. Wenn die überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß der Polizist nicht vor zwei Uhr nachts hier sein kann, so meine ich, daß wir den Toten doch noch unter Dach bringen müssen.«
»Ja, ja,« meinte der Mediziner, »da bleibt wohl nichts anderes übrig. Aber wollen wir ihn mit nach dem Hotel nehmen?«
Ich konnte nicht antworten, denn in diesem Augenblicke drängte sich ein Mann durch die uns umgebende Menschenmenge. Es war der Vertreter der Ortspolizeibehörde, der Amtsvorsteher.
Das Gerücht von dem unheimlichen Funde hatte sich schnell verbreitet. Vom Hotel aus war an den Amtsvorsteher telephoniert worden, der in wenigen Minuten herbeigeradelt kam.
Er war durch das außergewöhnliche Vorkommnis vollkommen aus der Fassung gebracht, wie ich an seinem blassen Gesicht und seinen zitternden Händen deutlich merken konnte. Auch erkannte er sofort den Mann in dem grünen Jagdanzug und murmelte: »Armer Bursche! Wie in aller Welt hängt das nur zusammen?«
»Er ist erschlagen worden,« erwiderte der Mediziner, »wie Sie wohl sehen können.«
Der Amtsvorsteher bückte sich über den Leichnam und flüsterte: »Ja wahrhaftig, ja wahrhaftig!«
»Wir sind der Ansicht, daß man den Toten unter Dach bringen muß,« fuhr der Mediziner fort. »Der Detektiv kann kaum vor morgen früh hier sein.«
Weiterhin setzte er ihm auseinander, daß ein tüchtiger Polizeibeamter aus der Hauptstadt sich dieser Sache annehmen müßte, und der Amtsvorsteher stimmte ihm hierin bei. Er dankte dem Mediziner verbindlich, daß er es übernahm, einen Detektiv aus Christiania nach der Mordstelle herbeizurufen. Es hatte ganz den Anschein, als ob er sehr froh darüber war, daß ein Teil der Verantwortung von ihm genommen wurde.
Aber wo sollte man nun den Toten hinschaffen?
Man sprach zunächst wieder vom Hotel, und der Amtsvorsteher meinte, daß man selbstverständlich den Toten dahin bringen müßte, wo er bei Lebzeiten gewohnt habe. Hiergegen wandte ich ein, daß dies gleichbedeutend wäre mit der Verjagung des größten Teiles der Sommergäste, jedenfalls aller Damen. Man müsse also einen anderen Platz ausfindig machen.
Da erinnerte sich der Amtsvorsteher, daß wenige Minuten entfernt eine unbewohnte Hütte, eine Unterkunft für Sandgräber, lag. Sofort beschloß man, den Toten dorthin zu schaffen.
Hilfreiche Hände waren genug zur Stelle. Eine Tragbahre wurde rasch zusammengeschlagen, der Tote hinaufgelegt und das Gewehr ihm an die Seite gegeben.
Das Gesicht des Toten war nicht im geringsten verändert, höchstens war es etwas von Erde und Sand schmutzig geworden.
Der Mediziner packte mich am Arm.
»Sehen Sie ihn nur an,« sagte er.
»Was gibt es denn?«
»Sehen Sie sein Gesicht, es lächelt.«
»Mir kommt es völlig ausdruckslos vor,« antwortete ich.
Der Mediziner sah den Toten lange an.
»Er hat gelächelt,« murmelte er; »ein Hohnlächeln glitt über sein Gesicht, gerade ehe ihn der tödliche Schlag traf.«
Der Mediziner schlug vor, das Gesicht des Toten mit dem Jagdhut zu bedecken; dies geschah. Vier Mann trugen so den Toten bis zur Sandgräberhütte, deren dunkelgrüne Außenseite wir vor einem braunen, mit Heidekraut bestandenen Hügel erkennen konnten. Zur Seite ging der Amtsvorsteher, ich hielt mich etwas zurück, denn ich habe stets eine unüberwindliche Abneigung gegen Leichen und Begräbnisse gehabt.
Aber wo war der Mediziner?
Ich wandte mich um. Wahrhaftig, lag er da nicht auf allen Vieren an der Mordstelle und schnüffelte wie ein Hund auf der Erde umher?
Ich mußte lächeln. Es war ein junger Bursche von kaum neunundzwanzig Jahren. Vermutlich hatte er allerhand Räubergeschichten in sich hineingeschlungen und wollte nun den Detektiv spielen. Er untersuchte die Spur, als ob man auf diese Weise heutzutage den Verbrechern nachspürt!
Ich legte die Hände wie ein Sprachrohr an den Mund und rief seinen Namen.
»He! Sie!« gellte meine Stimme über die Heide. Wollen wir denn nicht mitgehen?«
Er erhob sich langsam, klopfte den Schmutz von den Knien und schlenderte auf mich zu.
»Eine sonderbare Sache,« sagte er. »Es kann nicht lange her sein, daß er getötet wurde.«
Nunmehr begannen also die Ueberlegungen; das Stadium der Beobachtungen war vorüber. Neues gab es in dieser Hinsicht nicht mehr. Unsere Gedanken wanderten rückwärts; die erste Frage, die auftauchte, lautete: Wann ist es geschehen? Die nächste würde unwillkürlich lauten: Wie ist es geschehen?
Ich antwortete:
»Wir wollen im Hotel feststellen, wann er ausging, ich habe ihn zum Frühstück nicht gesehen.«
Als wir zu den Damen kamen, die in einem Haufen zusammenstanden und sehr verstört schienen, befragten wir sie, aber niemand hatte den Forstmeister gesehen; er pflegte zeitig aufzustehen, weit früher als die anderen Gäste.
Eine halbe Stunde später fanden wir uns auf der Veranda des Hotels zusammen. Der Mediziner war nach dem Telegraphenamt gefahren, wir warteten alle auf seine Rückkehr und spähten den Weg entlang. Der Amtsvorsteher radelte in großer Eile vorbei, der eine oder andere Mensch kam herzugelaufen. Nun war die Begebenheit überall bekannt und das unheimliche Gerücht lief wie ein Lauffeuer von Gehöft zu Gehöft. Wir konnten sehen, daß das Volk seine Arbeit auf dem Acker unterbrach, und einige gingen rasch nach Hause, ihre Gerätschaften auf dem Rücken. Ein Gattertor klang. Es war der Mediziner, der vom Telegraphenamt zurückgelaufen kam. Er schwang seine Mütze, so daß ihr rotes Seidenfutter in der Sonne leuchtete, und rief schon von weitem:
»Ich habe mit ihm telephonisch gesprochen!«
Er war aufgelöst vor Erregung und zitterte vor Eifer.
»Ich habe selbst mit ihm durch das Telephon gesprochen,« wiederholte er, als er lärmend auf die Veranda gepoltert kam.
Zwar nannte er den Namen des Polizeibeamten nicht, aber wir wußten ja alle, wen er meinte.
»Kommt er?« fragten wir wie aus einem Munde.
»Ja, er kommt so schnell wie möglich, aber er konnte nicht genau sagen, wann.«
Ich warf eine Bemerkung dazwischen.
»Wenn wir uns nur nicht über den Sachverhalt täuschen? Wer weiß, ob es ein Mord ist?«
»Was denn sonst?«
»Vielleicht ein unglücklicher Zufall.«
»Unmöglich, undenkbar!« riefen einige, und wir sprachen lange hin und her über die Sache. Plötzlich fragte eine der Damen:
»Aber wer in aller Welt hat ihn getötet?«
Ja, wer? Das war das Rätsel. Der Forstmeister hatte schlechterdings keinen Feind, soweit wir wußten. Er war ein friedfertiger, allerdings ziemlich verschlossener Mensch, der am liebsten keinen Umgang mit den anderen Gästen wünschte, selten während der Mahlzeiten sprach und lange Ausflüge allein unternahm.
»Sie kannten ihn ja von früher,« meinte der Mediziner zu mir; »vielleicht haben Sie irgendeinen Gedanken oder –«
»Ich kannte ihn nur oberflächlich,« erwiderte ich; »im ganzen habe ich ihn etwa zwei- bis dreimal getroffen, infolgedessen kann ich auch keine Auskunft geben.«
Konnte es wohl ein Raubmord sein?
Kaum; sowohl der Mediziner als auch ich hatten bemerkt, daß sein Diamantring und seine goldene Uhrkette vorhanden waren.
Nun trat die Wirtin hinzu und teilte uns mit, daß das Bett des Forstmeisters in der vorigen Nacht unberührt geblieben war. Er war also während der Nacht überhaupt nicht daheim gewesen.
Demnach war der Mord möglicherweise bereits am Abend zuvor geschehen.
Hierüber war der Mediziner offenbar einigermaßen betreten.
»Das hätte ich eigentlich aus der Spur sehen können,« brummte er, »denn es hat ja in der Nacht geregnet. Wann fing es an zu regnen?«
Die meisten meinten, daß der Regen um Mitternacht angefangen hätte.
Der Mediziner sah mich an.
»Ihnen scheint etwas eingefallen zu sein,« sagte er.
»Ja,« antwortete ich, »der Regen begann ziemlich genau um ein Uhr.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich war gerade noch auf und hörte die ersten schweren Tropfen fallen. Ich kann Ihnen, meine Damen und Herren, weiter erzählen, daß ich zwischen elf und elfeinhalb Uhr über die Heide gegangen bin.«
»Hörten Sie da etwas?«
»Ich hörte einen Wagen weit entfernt auf einem Wege einherrollen, das war alles.«
»Kamen Sie von dem Edelhof?«
»Ja, ich kam von Gjaernaes. – Wer hat ihn zuletzt bei Lebzeiten gesehen?« fragte ich plötzlich.
Die Antworten fielen ganz verschieden aus.
Einige hatten ihn gestern beim Abendessen gesehen, die Wirtin sah ihn, als er eine Stunde später auf sein Zimmer ging, eine der Damen hatte ihn um halb zehn Uhr im Jagdanzug mit der Büchse über der Schulter erblickt, als er ausgehen wollte; er hatte die Dame freundlich gegrüßt und ein paar Worte darüber verloren, daß es bald regnen würde, wobei er nach dem Himmel zeigte und sagte: »Sehen Sie, Fräulein, wie die Lämmerwölkchen fliegen, das ist eine Regenbö, die sie vor sich hertreibt.«
»Aber Sie,« sagte der Mediziner. »Sie haben ihn doch wohl noch später gesehen?«
»Um halb elf Uhr,« antwortete ich, »sah ich Forstmeister Blinde zum letzten Male in seinem Leben.«
Ich erzählte nun, was mir am Abend vorher begegnet war; daß ich Blinde aus dem Hauptgebäude von Gjaernaes herauskommen und über die Heide verschwinden sah. Dabei gab ich eine sehr vorsichtige Darstellung des Sachverhalts und erwähnte insbesondere nicht, daß der Forstmeister aus den Zimmern von Fräulein Hilde gekommen war. Als ich geendet hatte, saßen meine Zuhörer lange stumm und nachdenklich da. Die Damen sahen einander scheu an und der Mediziner bemerkte:
»Es ist allerdings verwunderlich, daß Sie nicht in den Hof eingelassen wurden, der junge Gjaernaes ist doch sonst ein geselliger Mensch.«
»Ich hatte den Eindruck,« erwiderte ich, »als ob etwas Ungewöhnliches auf dem Hofe vorginge. Der Verwalter sah ganz verstört aus und seine Stimme war auffallend ernst, als er mir den Zugang zum Hause verweigerte. Ich glaube, daß ich auf die eine oder andere Weise im höchsten Grade ungelegen kam, bin aber sicher, daß der Grund hierfür nicht in meiner Person lag.«
»Meinen Sie, daß da irgend etwas auf dem Hofe vorging?«
»Ja, das meine ich allerdings.«
»Aber sahen Sie nichts Außergewöhnliches?«
»Nein, ebensowenig hörte ich etwas. Aus dem Lichtschein, der von Zimmer zu Zimmer flackerte, konnte ich jedoch schließen, daß im Hause eine gewisse Unruhe herrschte.«
Der Mediziner brummte etwas davon, daß man den Tod des Forstmeisters vielleicht mit der auffallenden Erregung in Verbindung bringen könnte, die offenbar in dem sonst so ruhigen Edelhofe entstanden war.
»Wie sah Blinde gestern abend aus? War er erregt?«
»Keineswegs,« erwiderte ich, »er war ruhig wie gewöhnlich. Sein Gesicht drückte nicht die geringste Aufregung aus; er zündete sich seine Pfeife an, als er zehn Schritte von mir entfernt stehenblieb, gerade bei den großen Birnbäumen; das Streichholz flammte dicht vor seinem Gesicht auf, so daß ich jeden Zug in demselben sehen konnte. Nein, er war sehr ruhig …«
In dieser Weise ging das Geschwätz den ganzen Nachmittag. Das rätselhafte Verbrechen brachte uns in solche Verwirrung, daß dieselben Fragen unaufhörlich wieder auftauchten. Hierzu tat die Phantasie das ihrige. Kleine Unwahrscheinlichkeiten begannen aufzutauchen, eine gewaltige Nervosität hatte die Damen ergriffen, die kaum essen konnten, an den schmackhaftesten Gerichten herumstocherten und die Milchgläser halb geleert stehen ließen, so versessen waren sie darauf, sich zu dem gruseligen Gespräch immer wieder zusammenzufinden. Was hatte der Forstmeister auf Gjaernaes noch so spät am Abend gewollt? Mit einem heimlichen Blick in zwei Damenaugen fing es an, ein verkniffenes Lächeln kam hinzu, das ein ungewöhnliches Wissen verriet, und schon war der Roman in vollem Gange. Der Forstmeister und Fräulein Hilde waren oft miteinander gesehen worden. Der Himmel mochte wissen, was Blinde hier auf dem Lande zu suchen hatte, wenn es ihm nicht lediglich darum zu tun war, Fräulein Hilde zu treffen, er, der doch sonst seine Wälder hatte, die groß genug waren, um in ihnen umherzulaufen. Ich hatte absichtlich Hildes Namen verschwiegen, denn ich kannte das Talent der Damen, sich mit ihren Mutmaßungen in einer bestimmten Richtung zu bewegen. Gerade aus diesem Grunde unterließ ich es, anzugeben, daß ich Blinde aus ihren Privatzimmern um halb elf Uhr abends hatte herauskommen sehen. Trotzdem ergingen sich die Damen in unwahrscheinlichen Vermutungen über ein Liebesdrama. Halb und halb hatten sie den Mediziner auf ihre Seite gezogen, und als am Abend verlautete, daß Fräulein Hilde vorbeifahre, wurde die Veranda von einer Schar von Damen und Herren gestürmt, die darauf brannten, die Heldin zu Gesicht zu bekommen.
Fräulein Hilde fuhr auf einer sogenannten »Spinne« vorüber. Sie saß allein im Wagen und kutschierte rasch, dabei hielt sie die Zügel straff und sah unverwandt gerade vor sich hin. Auf dem Kopfe trug sie eine weiße Flanellmütze, die in dem dichten braunen Haar von einer langen Nadel festgehalten wurde. Ich konnte die Nadel deutlich erkennen, denn der vergoldete Knopf glitzerte. Deutlich sah ich auch ihr Profil, das bleicher als gewöhnlich war. Es lag ein gespannter Zug in ihrem Gesichte, gerade als wollte sie sich das Weinen verbeißen. Sie hatte große Eile, bog nach rechts ab, und der Wagen verschwand in einer Staubwolke.
»Zum Amtsvorsteher,« sagte jemand. »Sie fährt zum Amtsvorsteher, der dort wohnt.«
Kaum fünf Minuten später fuhr sie in entgegengesetzter Richtung wieder vorbei. Diesmal saß der Amtsvorsteher neben ihr auf dem Wagen, sie hatte die Peitsche in der Hand, und der Schweiß troff vom Pferde.
Die Damen meinten, sie wolle den Toten sehen. Niemand konnte nämlich in die Sandgräberhütte kommen, ohne daß der Amtsvorsteher dabei war; deswegen hatte sie ihn geholt. Sie war sehr rasch zurückgekommen und mußte den Amtsvorsteher gewissermaßen gewaltsam aus dem Bureau geholt haben, als wenn es Leben oder Tod galt. So jagte sie auch mit dem Pferde dahin. Lange noch, nachdem der Wagen in dem Dickicht des Waldes verschwunden war, konnten wir das Knirschen der Räder auf dem Wege hören.
Während ich noch auf das Geräusch des Wagens lauschte, das nach und nach vom Walde gedämpft wurde und erstarb, fiel mir eines von den Ereignissen der vorigen Nacht wieder ein, nämlich mein Zusammentreffen mit dem Fischer. Ich erinnerte mich, daß er auch aus der Heide gekommen war und ebenso wie ich auf den Laut weit entfernter Wagenräder gelauscht hatte. Aber wovon sprach er doch gleich? Vom eisernen Wagen! Ich sah den Fischer wieder vor mir, wie seine untersetzte, gedrungene Gestalt da im Dunkel vor mir stand und er auf meine Frage den Kopf geschüttelt hatte: »Wem gehört der eiserne Wagen?« »Ja, wem gehört er?« hatte er geantwortet.
Im Laufe des Abends kam viel Landvolk nach dem Hotel. Sie wollten mehr über das unheimliche Ereignis hören. Dabei sprachen sie gedämpft und vorsichtig, gerade als wenn sie bei einem Begräbnis wären. Sie forschten die Dienerschaft und die Wirtin aus, einige wagten sich auch zu den Gästen und leiteten ihr Gespräch auf großen Umwegen mit Redensarten über die Ernte und das Wetter ein. Alle waren bei der Sandgräberhütte und an dem Tatort gewesen.
Der Landhändler Landhändler – Besitzer eines Ladens, in dem allerlei landwirtschaftliche Produkte und Gebrauchsartikel für Landwirtschaft feilgehalten werden. Anmerkung des Uebersetzers. wußte zu erzählen, daß Fräulein Hilde in der Hütte gewesen und die Leiche gesehen hätte, dann aber eilends davongefahren wäre. Sie hätte nicht geweint, aber wäre fürchterlich bleich, totenbleich und starr im Antlitz gewesen. Auffallend war es, daß niemand von den Leuten eine bestimmte Meinung über die Ursache der Untat oder über die Person des Mörders äußerte. Aber aus zufälligen Aeußerungen und aus ihren Mienen konnte man schließen, daß sie sich ihre eigenen Gedanken machten. Sie sprachen von der Heide. Es ist ein eigenes Ding um diese Heide, auf der sich schon so mancherlei Dinge ereignet haben sollen; aber auch der alte Edelhof hatte offenbar sein Geheimnis, das die Leute zwar kannten, von dem sie aber nur ungern sprechen mochten.
Es war ein schöner, stiller Abend. Wir saßen auf der Veranda und hörten nicht auf, wieder und wieder über den unvermeidlichen Gesprächsstoff hin und her zu reden, wobei es den Damen mehr und mehr gruselig zumute wurde, je tiefer die Dämmerung hereinbrach. Das Gefühl von etwas Unglaublichem, Unfaßbarem verließ uns keinen Augenblick, denn der Gegensatz war zu stark: Draußen auf der Heide brütete das dunkle Grauen, und hier saßen wir wenigen Feriengäste zusammen an dem milden, friedlichen Abend. Wir lauschten auf den Ruderschlag vom Meere und die Schritte vom Wege. Leises Vogelgezwitscher erklang rings um uns her, der tiefblaue Zigarrenrauch stieg senkrecht empor. Als uns die Mücken allzu lästig wurden, zogen wir uns in den Salon zurück. Die Damen waren schläfrig, wollten aber nur ungern zur Ruhe gehen; offenbar hatten sie Angst, allein zu bleiben.
Plötzlich höre ich, daß jemand meinen Namen ruft. Der Ruf kommt draußen von der Veranda, eine Stimme, die ich nach meiner Erinnerung nie zuvor gehört habe.
»Ein Mensch ruft Sie,« sagte der Mediziner.
»Ja, ich höre es auch.«
Rasch stehe ich auf, gehe hin und öffne beide Verandatüren. Aber nicht eine lebende Seele befindet sich da, nur leere Korbstühle und ein Tisch; auf dem Tisch stehen zwei Selterflaschen und einige leere Gläser. Einen Augenblick bin ich ganz verblüfft, aber dann höre ich wieder meinen Namen rufen und sehe nun unterhalb der Veranda einen gelben Strohhut. Ich gehe einige Schritte nach vorwärts, der Strohhut verschwindet, und ein grauhaariger Kopf wird im Laube am Gitter sichtbar. Es ist der Fischer von gestern abend, der da steht und mich begrüßt.
Ich lehne mich über die Balustrade und sage zu ihm mit einem überströmenden, unerklärlichen Gefühl der Erleichterung:
»Ach so, Sie sind es. Es ist nett, daß ich Sie wiedersehe. Wir sprachen doch gestern zusammen, nicht wahr?«
»Ich war den ganzen Tag auf Arbeit,« antwortet der Mann, »sonst wäre ich schon längst gekommen.«
»Was wünschen Sie von mir?«
Der Mann blinzelt mich mit seinen wässerigen, blöden Augen an.
»Ist es nicht sonderbar, daß das geschehen ist?« fragte er.
»Meinen Sie den Mord?«
»Ja; ich habe gehört, daß der Forstmeister gestern abend erschlagen sein soll.«
»Das ist allerdings richtig.«
»Um elf Uhr?«
»Das kann man nicht so genau sagen, er wurde zum letztenmal lebend um halb elf Uhr gesehen; ich sah ihn da selbst.«
»Ja, ist das aber nicht seltsam, ist das nicht seltsam …,« murmelt der Mann. »Sie hörten es doch ebenfalls?« setzt er fragend hinzu.
»Was denn?«
»Den eisernen Wagen. Wir standen ja und lauschten alle beide. Der eiserne Wagen rollte weit, in der Ferne dahin.«
Ein sonderbares Gefühl beginnt in meiner Brust aufzusteigen.
»Kommen Sie von der Heide?« frage ich den Mann.
»Ja,« erwidert er, »ich ging um elf Uhr an der Hütte der Sandgräber vorbei.«
»Hörten Sie etwas?«
»Ich hörte nichts anderes als den eisernen Wagen.«
»Keinen Schrei?«
»Nein.«
»Warten Sie,« sage ich, »ich komme sofort zurück.« Rasch hole ich. meinen Hut und meinen unvermeidlichen Spazierstock mit der Elfenbeinkugel.
Dann gehe ich hinaus auf den Weg und winke den Mann heran.
»Folgen Sie mir,« sage ich, »und erzählen Sie, was Sie über den eisernen Wagen wissen. Ist das nicht eine alte Sage?«
»Eine alte Sage?« murmelt der Mann verständnislos. Wieder schüttelt er den Kopf. »Lassen Sie uns irgendwo niedersitzen,« fügt er hinzu, »es ist so unbequem, im Gehen zu plaudern; außerdem gehen Sie so rasch, und ich bin müde, denn ich bin den ganzen Tag auf Arbeit gewesen.«
Dabei zeigt er auf einen Stein in der benachbarten Wiese, der in dem üppigen Grase wie ein kahler Fleck leuchtete. Wir schreiten über die Wiese, die vom Abendtau feucht ist.
»Es ist spät geworden,« sage ich, während wir uns setzen. Ich kenne die Langsamkeit der Landleute und will, daß sich der Mann beeilt.
»Ja,« erwidert der Mann, »gestern abend um diese Zeit war es bereits geschehen.«
»Wo hörten Sie den eisernen Wagen zuerst?«
»Als ich in den Wald gekommen war. Ich kenne das Geräusch gut, man kann es gar nicht verwechseln. Auch kann ich Ihnen mitteilen, daß ich den eisernen Wagen schon früher gehört habe.«
»Wann?«
»Vor vier Jahren; in derselben Nacht, als der alte Gjaernaes starb.«
»Wurde er auch erschlagen?«
»Nein, er ertrank. Man fand seinen Hut und Stock angetrieben unten auf dem breiten Sandstrand; wenige Tage später fanden wir sein Boot. Es war an Land geworfen und an den Steinen zerschellt.«
»Aber der Leichnam?«
»Wurde niemals gefunden.«
»Wie alt war der Mann?«
»Ueber fünfzig Jahre. Niemand begriff, wie der alte Mann sich's einfallen lassen konnte, in einem kleinen, offenen Boot auf das Meer hinauszurudern.«
»Das ist allerdings eine sonderbare Erzählung.«
»Ja, sehr sonderbar. Die Leute sprachen hier in der Gegend bisweilen davon, so unter sich. Wir hatten unsern Argwohn.«
»Selbstmord?«
Aber der Mann weicht meiner Frage aus.
»Jeder muß für seine eigenen Handlungen die Verantwortung tragen,« sagt er.
»Also in jener Nacht hörten Sie ebenfalls den eisernen Wagen?«
»Ja, ich hörte ihn ebenso deutlich wie gestern nacht. Lassen Sie sich sagen, Gjaernaes ist ein alter Hof, der seine besonderen Geheimnisse hat.«
Der Mann erzählte nun eine lange Geschichte von unheimlichen Vorboten, die sich auf dem alten Hofe zu zeigen pflegten. Unter anderem, wie ein früherer Eigentümer des Hofes vor etwa hundert Jahren auf einer Fahrt in einem eisernen Wagen ums Leben gekommen war. Er war ein menschenscheuer Sonderling gewesen, der sich viel in der Welt umhergetrieben hatte und keinen guten Ruf genoß. Er vergeudete sein väterliches Erbteil, weil er eine Menge halbverdrehter Erfindungen zu verwirklichen trachtete. Namentlich waren Pferde und sonderbare Zaumzeuge seine Liebhaberei. Schließlich ließ er einen Wagen ganz aus Eisen herstellen, der zwei Räder und vorn einen breiten Schirm hatte und den alten jüdischen Streitwagen nicht unähnlich war, wie man sie in der Bilderbibel abgebildet sieht. Mit diesem Wagen kam er eines Abends auf der Heide ums Leben. Wenn etwas Schlimmes auf Gjaernaes geschehen oder jemand sterben sollte, hatte man späterhin stets das Rasseln des eisernen Wagens auf der Heide gehört. Aber niemand hatte ihn je gesehen und er hinterließ auch niemals eine Spur auf den Wegen. Einzelne behaupteten jedoch, daß der eiserne Wagen heute noch an der einen oder anderen Stelle auf dem Hofe verborgen wäre, und zwar in einem sicher verschlossenen Raume der Scheune. Das letztemal hörte man den Wagen vor vier Jahren in jener Nacht, als der alte Gjaernaes verschwand. Damals gingen vielerlei Gerüchte über diesen Mann um. Seine Geldangelegenheiten sollten nicht gerade in der besten Ordnung sein, wie es ja auch jedermann bemerken konnte, daß die Hofwirtschaft verfiel. Aber es war doch seinem kräftigen und energischen Sohne geglückt, das ganze Anwesen über Wasser zu halten und bereits etwas von den Schulden des Vaters zu bezahlen … All das erzählte mir der Fischer zaudernd und vorsichtig, gerade als ob er ständig Angst vor meinem Mißtrauen hätte.
»Diesmal sind wir wohl die einzigen, die den eisernen Wagen heute nacht gehört haben,« sagte er schließlich, »und ich möchte Sie gern fragen, ob ich anderen erzählen darf, was ich gehört habe.«
»Warum nicht?«
Der Fischer saß längere Zeit schweigend da.
Endlich murmelte er:
»Man glaubt mir nicht. Ich war einmal beim Pfarrer und habe ihm viele sonderbare Erlebnisse erzählt, die ich zu Wasser und zu Lande gehabt habe. Auch beim Schulmeister bin ich gewesen, aber die haben mich nur ausgelacht und gesagt, ich hätte eine lebhafte Phantasie. Doch diesmal, dachte ich mir, kannst du vielleicht dennoch recht bekommen, denn du hast, einen Großstadtbewohner und belesenen Mann auf deiner Seite. Ja, Sie haben doch den eisernen Wagen gehört, nicht wahr?«
Ich mußte mich abermals über den Eifer des Fischers wundern und versicherte ihm, daß ich ihm gern beispringen würde. Ich hätte einen Wagen in der Nacht durch die Heide rollen hören; allerdings könnte ich nicht behaupten, daß es der Spukwagen gewesen sei.
»Es war kein anderer Wagen,« erwiderte der Fischer bestimmt; »untersuchen Sie nur die Wege, es hat ja heute nacht geregnet. Ein Wagen, der so schwer läuft wie derjenige, den wir hörten, müßte eine Spur hinterlassen. Aber untersuchen Sie nur alles – Sie werden keine Spur eines Rades auf den Wegen finden. In der ganzen Gegend haben zudem nur Gjaernaes und der Pfarrer Pferde.«
Da ich mich nicht weiter auf die Sache einlassen wollte, sagte ich ihm, daß morgen ein Mann käme, an den er sich wenden könnte. »Wie heißen Sie?« fragte ich ihn.
»Jan Jansen,« antwortete er.
»Gut, Jan Jansen! Morgen früh kommt ein Polizeibeamter aus Christiania mit dem Postboote; mit dem können Sie reden. Er wird Sie sicherlich mit Interesse anhören.«
Ich brannte mir eine Zigarre an, um die Mücken fernzuhalten. Der Fischer saß lange stumm neben mir und stierte mutlos vor sich hin.
»Es kommt Wind auf,« murmelte er.
»Wind?« fuhr ich auf. »Hier ist es ja vollständig still. Sehen Sie denn nicht, daß der Zigarrenrauch sich um uns her ausbreitet und blaue Schwaden in der Luft bildet?«
Der Fischer zeigte über den Wald hinaus auf das Meer und antwortete:
»Südwind; wenn es so auf See draußen in den Schären singt, kommt Wind.«
Ich lauschte: es kam mir wirklich so vor, als ob ein unendlich schwaches Rauschen meine Ohren erreichte; ein Laut, den man nur hört, wenn man auf ihn horcht; dann allerdings hört man ihn auch ausschließlich. Aber noch war die Nacht ganz still, das Tageslicht war erloschen, die Landschaft hatte keinerlei Farbe mehr und die Bäume ragten wie verkohlte Skelette gen Himmel.
Plötzlich wandte der Fischer den Kopf und sprang mit einem Satz in die Höhe. Er lauschte, lauschte so gespannt, daß ihm der Mund halb offen stehen blieb.
»Was hören Sie?«
»Ich glaube, ich höre …,« er horchte wieder lange, aber dann setzte er sich auf den Felsblock und murmelte: »Nein, es war doch nichts.«
Der Fischer behielt recht, in der Nacht begann es zu stürmen. Als ich um halb zwei Uhr mein Zimmer betrat, rasselten die Fenster in ihren Angeln, der Zugwind riß mir die Tür aus der Hand und schlug sie mit einem Knall zu. Ich steckte die Lampe nicht erst an, sondern stand eine Zeitlang am Fenster und starrte über die Heide hin nach Gjaernaes. Von dorther leuchtete heute kein Licht.
Der Wind fuhr mir gerade ins Gesicht. Er hatte sich vom Meer erhoben und trug über das Land hin einen feuchten Hauch von salzigem Dunst. Er packte die Bäume, schüttelte die mächtigen Kronen und erfüllte den Wald mit wildem Brausen, so daß der ganze Forst auf mich loszustürmen schien; schließlich fegten seine gewaltigen Atemzüge über die goldenen Kornfelder in breiten Wogen dahin. Ich hielt meine flatternde Jacke rings um mich fest und fühlte es eiskalt in den Aermeln. Die Hitze, die den ganzen Tag brütend auf uns gelagert hatte, war gewichen und vom Sturm verweht.
Fest packte ich das Fenster, um es zu schließen, aber plötzlich hielt ich inne, denn ich hatte einen Laut aus weiter Ferne aufgefangen, einen Laut von rasselndem Metall, der von den Windstößen getragen wurde und mit ihnen bald stärker, bald schwächer klang. Dieser Laut kam von der Heide.
Es war wieder der eiserne Wagen!