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VII.
Der Abgrund

Am nächsten Tage traf ich Asbjörn Krag mit einem Pack Zeitungen unter dem Arme.

Er zeigte mir ein deutsches Blatt und sagte:

»Hier steht etwas vom eisernen Wagen darin.«

Ich nickte nur.

Aber da ich das Gefühl hatte, daß dies ein allzu deutlicher Mangel an Interesse war, fragte ich:

»Was steht denn da über den eisernen Wagen?«

Der Detektiv steckte die Zeitung ruhig in die Tasche.

»Da geht nun hier eine Menge Menschen umher und ahnt nichts von dem Geheimnis des eisernen Wagens; dabei kann man das Ganze in Berlin in einer Morgenzeitung lesen. Ist das nicht sonderbar?«

»Höchst unglaubwürdig,« sagte ich; »wie kann das zusammenhängend«

»Natürlich hat jemand an das Berliner Blatt telegraphiert.«

»Von hier aus?«

»Ja, von hier aus oder von dem nächsten Telegraphenamt.«

»Wer kann denn das sein?«

»Haben Sie es noch nicht erraten?« fragte Asbjörn Krag lachend.

»Nein.«

»Ich bin es natürlich, der telegraphiert hat,« sagte er.

»Darf ich vielleicht wissen,« fragte ich, »worin das Geheimnis dieses eisernen Wagens eigentlich besteht?«

»Interessiert Sie das wirklich so sehr?«

»Gewiß.«

»Warum sind Sie denn aber noch nicht hinausgefahren, um danach zu sehen? Das Pensionat ist ganz verlassen, alle anderen Gäste sind bereits fortgegangen.«

»Ich habe ein paar wichtige Briefe geschrieben,« warf ich ein.

»Außerdem haben Sie vermutlich auch an andere, an ernstere Dinge zu denken.«

»Vielleicht.«

»Ist es indiskret, zu fragen, was das für Dinge sind?«

»In erster Reihe«, antwortete ich, »denke ich daran, bereits morgen abzureisen.«

Das Gesicht des Detektivs wurde nachdenklich.

»Schon morgen,« brummte er, »das ist vielleicht ein bißchen früh, aber wir werden ja sehen.«

»Wie meinen Sie das? Werden Sie vielleicht auch abreisen?«

»Vielleicht. Dann haben wir Gesellschaft. Das wird mich, aufrichtig gesagt, freuen. Ich liebe es, den einen oder anderen verständigen Menschen um mich zu haben, um mit ihm zu plaudern, wenn ich nicht gerade arbeite.«

Der Detektiv bat mich, ihn nach der Dampfschiffsbrücke hinunter zu begleiten. Das Schiff wurde erwartet.

Ich wunderte mich darüber ein wenig, da ich wußte, daß sich Asbjörn Krag sonst nicht für den Dampfer interessierte, dessen Ankunft den übrigen Badegästen stets eine angenehme Abwechslung war. Aber vermutlich erwartete der Detektiv irgend etwas; vielleicht sollte einer seiner Kollegen kommen.

Der weiße Dampfer glitt durch das Wasser dahin und trieb langsam an die Brücke, auf der sich nur wenige Menschen befanden. Der Spediteur und seine Leute gingen auf und ab und hatten mit Kisten und Fässern zu tun. Einige neue Sommergäste gingen vom Dampfer an Land, meist waren es Frauen mit ihren Kindern und Kinderwagen; auch einige Mannsleute, so ein bebrillter Herr, der vom Bücherstaub und der Stadtluft ganz blaß war, und ferner zwei andere junge Männer, die wie Sportsleute aussahen.

Diese beiden fielen mir besonders auf. Sie schienen es eilig zu haben, wenigstens grüßten sie niemanden; Gepäck hatten sie nicht bei sich, sondern nur zwei Fahrräder. In einer Staubwolke verschwanden sie auf dem Landwege.

»Bekannte?« fragte Krag.

»Keineswegs,« erwiderte ich; »ich habe sie niemals vorher gesehen.«

»Aber es kam mir so vor, als ob Sie die Herren mit einer gewissen Aufmerksamkeit betrachteten.«

»Das war ganz zufällig.«

»Natürlich. Entschuldigen Sie nur meine Neugier, aber es macht mir Vergnügen, alles zu beobachten, selbst das Unbedeutendste. Ich bemerkte einen leisen Schimmer in Ihren Augen, der in mir die Vorstellung erweckte, als ob Sie die Herren wiedererkannt hätten.«

»Dann hätten wir uns doch natürlich begrüßt.«

»Na, hören Sie mal, man kann sich gut kennen, ohne daß man gerade miteinander auf dem Grüßfuße zu stehen braucht.«

»Aber Sie, Herr Krag,« fragte ich, »was wollen Sie denn hier unten auf der Brücke?«

»Ich hatte nur mal Lust, hier herunterzugehen und mir den Dampfer anzusehen,« sagte er. »Sehen Sie, da fährt er schon ab, und nun ist das Vergnügen vorbei.«

Selbstverständlich log er, wie ich sofort merkte. Asbjörn Krag machte stets Seitensprünge und verhehlte mir seine wirklichen Absichten.

Er wollte nun mit mir nach dem eisernen Wagen gehen, und ich beschloß, ihn zu begleiten.

»Gehen wir über die Höhe?« fragte ich.

»Nein,« antwortete er, »wir können ebensogut den Landweg nehmen; die Sonne brennt heute allzu stark da oben.«

Ich hätte ihn dahin berichtigen können, daß die Sonne ebenso heiß auf dem Landwege brannte, aber ich ließ es laufen. Selbstverständlich ging er absichtlich nicht den Pfad über den Berg, ich wollte ihn jedoch nicht nach der Ursache fragen.

Wir schritten kräftig aus, denn wir mußten den Weg in weniger als anderthalb Stunden zurücklegen, falls wir noch rechtzeitig zum Mittagessen zurück sein wollten.

Unterwegs kam er auf mein merkwürdiges Benehmen vom gestrigen Abende zurück.

»Ich sehe nun selber ein,« sagte er, »wie notwendig es ist, daß Sie von hier fortkommen, und bereue es, Sie so sehr mit diesen unheimlichen Dingen beschäftigt zu haben. Gestern konnte ich es Ihnen ansehen, daß Sie sich wirklich fürchteten.«

»Wovor denn?«

»Vor dem Mann im eisernen Wagen. Sie liefen ja von mir fort. Vielleicht wären Sie nicht so ängstlich gewesen, wenn Sie ihn doch mitgenommen hätten.«

»Ihn, wen meinen Sie?«

»Den Revolver natürlich.«

Ich blieb stehen und sah ihn an, denn ich mußte im stillen seine Frechheit bewundern. Er schien jetzt das Hundegeheul und alles sonst vergessen zu haben. Dabei war er es gerade, der mich mit seinem Geschwätz von dem toten Jagdhund in Schrecken versetzt hatte, und nun tat er, als ob er von nichts wüßte. Seine Mienen waren unerschütterlich, sein ganzes Auftreten war zuvorkommend, beinahe liebenswürdig freundlich.

»Ich hoffe, Ihnen beweisen zu können,« sagte ich, »daß ich im entscheidenden Augenblick nicht ängstlich bin.«

»Das glaube ich auch. Ja, ich bin sogar überzeugt, daß Sie von Natur aus durchaus nicht schreckhaft sind, aber all diese unheimlichen Ereignisse haben Sie erschüttert und unsicher gemacht. Hoffentlich haben Sie heute nacht gut geschlafen?«

»Vortrefflich.«

Wir gingen schweigend ein Weilchen nebeneinander her. Dann fragte ich:

»Wollen Sie mir nicht erzählen, was in der deutschen Zeitung steht, damit ich ein wenig vorbereitet bin?«

»Bald sollen Sie alles zu wissen bekommen. Ich habe eine Liebhaberei für Effekte und schätze die kleinen Ueberraschungen sehr. Aber so viel habe ich Ihnen ja bereits gesagt, daß der eiserne Wagen nicht das geringste mit dem Morde zu tun hat.«

»Mit der Ermordung des Forstmeisters?«

»Ja; weiter liegt ja überhaupt kein Mord vor. Zufällig sind auch andere Dinge hier hinein verflochten worden; in erster Reihe der eiserne Wagen und außerdem der Tod des alten Mannes.«

»Aber jetzt haben Sie vermutlich die Fäden entwirrt?«

»Ja, das Rätsel mit dem alten Gjaernaes ist bereits gelöst. Er wurde durch einen unglücklichen Zufall vom eisernen Wagen getötet, gerade als er auf der Flucht über die Heide begriffen war, um von hier wieder zu verschwinden. Derselbe unglückliche Zufall trieb auch den Mann mit dem eisernen Wagen in den Tod.«

»Aber was wollte der Mann mit dem eisernen Wagen dann an jenem Abende draußen auf der Heide?«

Asbjörn Krag schlug auf das Zeitungspaket.

»Hierin steht alles genau beschrieben,« sagte er; der Mann mit dem eisernen Wagen ist der bedeutendste von den drei Toten. Die deutschen Blätter schreiben von ihm, daß die Wissenschaft durch seinen Tod einen großen Verlust erleidet. Haben Sie denn in der letzten Zeit gar keine Zeitungen gelesen, lieber Freund?«

»Nein,« erwiderte ich; »wenn ich Ferien habe, interessiere ich mich nicht für die übrige Welt.«

»Hm, ich weiß auch nicht, ob die Nachricht bereits in die norwegischen Blätter gelangt ist. Ich habe sie selbst den deutschen übermittelt. Der Mann in dem eisernen Wagen ist ein Deutscher.«

Wir näherten uns nun der Lichtung, wo der Abhang von der Heide nach dem Meere herunterführte.

Als wir schließlich dort angelangt waren und heruntersahen, wunderte ich mich über die Menge Menschen, die am Ufer versammelt war. Die weißen Kleider der Damen und die gelben Strohhüte leuchteten hell herauf. Ein Bergungsdampfer lag noch immer in der Bucht, aber alle die kleinen Boote waren jetzt rings um ihn versammelt, wie die Küchlein um eine Henne.

Die Menschenmenge betrachtete neugierig einen wunderlichen Gegenstand, der auf den Strand heraufgezogen war. Aus der Entfernung sah er wie eine einzige verworrene Masse von Eisenstangen und Rädern aus.

Beim Näherkommen glaubte ich, daß es das Wrack eines kleinen Dampfbootes wäre, zumal ich zwei Schrauben entdeckte und das helle Deck des Dampfers zu sehen vermeinte.

Es war aber weder ein Dampfboot noch ein eiserner Wagen.

Ueberhaupt befand sich wohl kaum etwas von Eisen an dem Wrack. Was ich für Eisenstangen angesehen hatte, war ein feines Gestänge aus Nickel oder Aluminium.

Es war eine eigenartige Form von Flugmaschine, ein Monoplan.

Asbjörn Krag ergriff mich am Arme.

»Verstehen Sie nun?« fragte er.

»Ja,« erwiderte ich, »nun fange ich an zu verstehen.«

»Dieses Flugzeug hörten wir in jener Nacht, dieses Flugzeug ging so niedrig, daß es den alten Gjaernaes tötete, und dieses Flugzeug war es auch, das Sie in der unheimlichen Mordnacht gehört haben. Es ist eine Maschine ohne Motor, die sich einzig mit Hilfe von Luftströmungen bewegt hat. Den Ton, den wir hörten, und der uns wie Wagengerassel vorkam, entstand durch das Saugen der Luftströme in den Röhren.

Während Asbjörn Krag so sprach, sammelten sich die Neugierigen haufenweise um ihn. Es berührte ihn augenscheinlich peinlich, Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein; darum zog er mich aus dem Haufen fort.

»Lassen Sie uns ein wenig längs des Strandes spazieren, ich will Ihnen dann alles erzählen.«

Die anderen verstanden dieses Manöver und blieben zurück.

Asbjörn Krag erklärte:

»Das Unglück mit dem alten Gjaernaes war zugleich auch der Anlaß zur Vernichtung der Flugmaschine. Diese feinen eleganten Dingerchen sind noch keineswegs so vollkommen, daß sie nicht ein unerwarteter Stoß aus dem Gleichgewicht bringen sollte. So kam es, daß die Maschine den Abhang herunterschwirrte und geradeswegs ins Meer stürzte. Ich kann wir denken, daß der Luftschiffer versucht hat, das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen, aber es glückte ihm nicht.«

»Aber ich verstehe nur nicht,« wandte ich ein, »warum er seine Versuche gerade hier oben in Norwegen machte?«

»Das will ich Ihnen erzählen,« erwiderte Krag und begann einige der ausländischen Blätter auseinanderzufalten.

»Hier sehen Sie ›Svenska Dagbladet‹ vom 24. August. Eine kleine Notiz berichtet kurz folgende Tatsache:

»Dem Vernehmen nach hat der bekannte deutsche Aviatiker Doktor Brahms eine sehr bemerkenswerte Erfindung zur Vervollkommnung der Flugmaschine ohne Motor gemacht. Man weiß noch nicht, worin die Erfindung besteht, aber wir erfahren von eingeweihter Seite, daß der Erfinder eifrig mit seinen Experimenten beschäftigt ist. Da es jedoch schon mehrfach vorgekommen ist, daß aviatische Geheimnisse gestohlen wurden, hat Doktor Brahms seine Uebungen nach einer wenig bewohnten Gegend verlegt und umgibt sich mit äußerster Geheimniskrämerei. So sind die Teile seiner Flugmaschine in großen Kisten fortgeschafft worden, die die Aufschrift trugen ›Bechsteinflügel‹. Ein Gerücht will wissen, daß Doktor Brahms die hellen norwegischen Sommernächte benutzt, um seine Experimente gerade dann vorzunehmen, wenn andere Menschen schlafen.«

»Dieses Telegramm erregte zuerst meine Aufmerksamkeit,« fuhr Asbjörn Krag fort; »hören Sie, was ich selbst telegraphiert habe.«

Asbjörn Krag las weiter, indem er eine deutsche Zeitung aus dem Paket herauszog:

»Von einem zufälligen Korrespondenten haben wir eine Mitteilung erhalten, die in weiten Kreisen Trauer und Bedauern erwecken wird, falls sie sich als richtig erweisen sollte. Diese Mitteilung lautet: Gestern nacht ist der Luftschiffer Doktor Brahms verunglückt, der seit einiger Zeit unbemerkt seine Flugversuche hier in der Gegend betrieben hat. Durch eine sinnreiche Ausnutzung der Luftströme war er dem Problem der motorlosen Flugmaschine sehr nahe gekommen. Er betrieb seine Versuche in der tiefsten Verborgenheit und sie waren bereits so weit gediehen, daß die Maschine selbst bei sehr stillem Wetter sich erheben und fortbewegen konnte. Die Maschine stieß während eines nächtlichen Versuchs an ein Hindernis und fuhr geradeswegs ins Meer, da sie das Steuer verlor. Ein Bergungsboot ist zu Hilfe gerufen worden, um die Maschine vom Meeresboden heraufzuholen.«

»Da haben Sie das ganze Rätsel,« schloß der Detektiv.

Mir erschien das Ganze äußerst merkwürdig. Wenn ich nicht mit eigenen Augen die zertrümmerte Flugmaschine gesehen hätte, wäre mir der Bericht kaum glaubhaft vorgekommen.

»Wenn Sie sich den Sachverhalt überlegen,« fuhr Asbjörn Krag fort, »müssen Sie sich darüber wundern, wie einfach sich nun alles aufklärt. Der rätselhafte eiserne Wagen ist verschwunden. Jetzt verstehen Sie, woher der Lärm kam, und begreifen auch den unglücklichen Zufall mit dem alten Gjaernaes.«

»Und auch den mit dem Forstmeister.«

Der Detektiv zog die Stirn kraus.

»Durchaus nicht,« erwiderte er. »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß der Forstmeister erschlagen wurde.«

»Das dürfte Ihnen schwer fallen zu beweisen.«

»Ja, es ist recht schwer,« brummte Asbjörn Krag nachdenklich, »aber schließlich wird es mir doch glücken.«

»Vielleicht erfordert es viel Zeit,« warf ich ein.

»Für andere ja, aber nicht für mich.«

»Sie sind kühn in Ihren Behauptungen, lieber Krag. Wieviel Zeit wird noch vergehen, bis Sie hintreten und auf den Mann zeigen können?«

Der Detektiv sah gen Himmel, gerade als wollte er seine Weisheit von dort holen.

»Zwölf Stunden,« versetzte er.

»Aber sind Sie auch sicher, daß Sie dann den Richtigen treffen?«

»Vollkommen sicher.«

»Und Sie werden ihn mir zeigen?«

»Ja,« erwiderte der Detektiv, wobei er mir einen seltsamen Blick zuwarf, »wenn Sie ihn denn durchaus zu sehen wünschen.«

»Er ist also nicht tot?« fragte ich.

»Nein, noch lebt er.«

Wir spazierten denselben Weg zurück, auf dem wir gekommen waren. Ich drang in Asbjörn Krag und wollte ihn über den Mörder ausfragen, aber er antwortete ausweichend.

Ich studierte sein Gesicht sehr genau; es kam mir so vor, als läge darin ein müder und abgespannter Zug. Er war sicher blasser geworden – an den Schläfen und längs des Haarrandes war seine Haut weiß. Offenbar mußte er in letzter Zeit angestrengt geistig gearbeitet, vielleicht auch nachts viel gewacht haben.

Aber wie sah ich selbst aus? Ich hatte seit Tagen nicht mehr ruhig geschlafen und fühlte, daß meine Augen brannten und meine Lippen bebten. Meine Nerven waren vollkommen verbraucht. Oh, wie sehnte ich mich nach einer langen Ruhe! Aber nun sollte die Sache ja bald zu Ende kommen. Morgen ging das Schiff; ob der Detektiv nun Erfolg hatte oder nicht, ich wollte jedenfalls diesen entsetzlichen Ort morgen verlassen.

Unterwegs kam der Detektiv wieder darauf zurück, daß sich die ganze Sache von Anfang an nur so rätselhaft angelassen hätte, weil drei verschiedene Dinge miteinander verknüpft waren.

»Wenn es mir nicht gelungen wäre, diese verschiedenen Vorkommnisse voneinander zu trennen,« sagte er, »so würde ich womöglich auch jetzt noch immer im Dunkeln tappen.«

Das gab mir Gelegenheit, wieder des Mordes Erwähnung zu tun. Ich fragte:

»Sie sagten mir schon vor längerer Zeit, daß Sie hintreten und auf den Verbrecher zeigen könnten. Wenn Sie Ihrer Sache so sicher waren, warum haben Sie den Mann nicht schon längst festgesetzt?«

»Weil mir die Beweise fehlten. Ich wiederhole, daß ich in dieser Angelegenheit mit ganz ungewöhnlichen Mitteln gearbeitet habe.«

Der Detektiv blieb stehen und sah mich blinzelnd an.

»Ich habe gewartet, bis die Frucht reif war,« sagte er.

»Und nun ist sie reif?«

»Bald, in wenigen Stunden; sie fällt mir dann geradeswegs in die Hände.«

Wir waren inzwischen zum Hotel gekommen, das hell in der heißen Luft leuchtete, da die Sonnenstrahlen auf der rotgestreiften Markise tanzten.

»Ich verstehe vollkommen, daß Sie gespannt sind,« fuhr der Detektiv fort, »aber vor heute abend werden Sie nichts erfahren.«

Ich bat ihn um eine nähere Zeitangabe.

Er dachte nach und rechnete.

»Um zehn Uhr,« sagte er schließlich.

»Sehr wohl. Soll ich Sie dann im Hotel aufsuchen?«

»Ja.«

Als ich gehen wollte, fing Asbjörn Krag an zu lachen und blieb noch etwas stehen.

»Sie sind auffallend wenig neugierig,« äußerte er.

Ich schüttelte den Kopf, da ich nicht verstand, was er meinte.

»Ich hätte erwartet, daß Sie mich fragen würden, warum Sie gerade um zehn kommen sollten.«

»Wahrscheinlich haben Sie Ihre Gründe hierfür.«

»Selbstverständlich, ich habe einen bestimmten Grund. Um zehn Uhr beginnt es dunkel zu werden.«

»Ist denn die Dunkelheit für Ihre Pläne notwendig?«

»Durchaus notwendig.«

»Also werde ich um zehn Uhr kommen.«

Als ich mich wenige Schritte von ihm entfernt hatte, rief er meinen Namen.

»Ach, hören Sie,« sagte er, »es kann doch möglich sein, daß Sie mich im Hotel nicht antreffen.«

»Soll ich dann auf Sie warten?«

»Nein, gehen Sie dann bitte nach einer Stelle hin, wo ich Sie erwarte, falls ich nicht im Hotel bin.«

»Wohin?«

Asbjörn Krag zeigte hierbei auf das Meer. »Sehen Sie die großen Baumgruppen dort unten?«

»Ja.«

»Dort können Sie mich finden, aber gehen Sie zunächst nach dem Hotel.«

»Da unten,« murmelte ich, »wo der Weg anfängt, der auf die Höhe führt.«

»Jawohl,« erwiderte er.

Er nickte mir zu und ging rasch von dannen. Ich blieb stehen und sah ihm nach. Er schlenderte durch den violetten Klee, der sich zwischen dem Wald und dem Hotel ausbreitete, dann ging er auf die Veranda und öffnete lärmend die Glastür. Ich hörte noch, wie er einen lauten und freundlichen Gruß ins Zimmer rief – – –

… Der heiße Tag ging langsam zu Ende. Ich lag in meiner Hütte im Schaukelstuhl und ließ die Stunden vorübergleiten. Das Knarren des Stuhls war lange Zeit der einzige Laut, den ich hörte. Es war windstill. Die starke Hitze strömte gegen mein Häuschen, drang durch das offene Fenster und erfüllte das Zimmer. Meine Papiere wurden im Sonnenschein warm und hart, als ob sie vor einem Kachelofen gedörrt würden. Ich hatte das Gesicht nach dem Fenster zugewandt und sah so das lichte, blaue Meer im Fensterrahmen. Die grünen schweren Laubkronen und die blaue See erschienen im Fenster wie die leuchtenden Farben eines Bildes. Hie und da wippte ein Blatt, auf dem ein Insekt saß, ab und zu erschien ein weißer Fittich im Hintergrund; es war ein Segel, das über das Meer dahinglitt. Endlich hörte ich auch einen Laut. Dünne Stimmchen kleiner Kinder, die nahebei im Sande lagen und mit einer Blechbüchse spielten. Glänzende Libellen segelten durch die Luft und sausten hie und da gegen die Wände wie summende Geschosse.

Allmählich wurde mir die Hitze im Zimmer zu drückend. Ich ging hinaus, legte mich ins Gras und verschränkte die Hände unter dem Kopf. Ich sah gen Himmel und versuchte immer weiter den Himmelsraum mit meinem Blicke zu umfassen. Dabei dachte ich, daß die Augen, die das ganze Himmelsgewölbe auf einmal umspannen könnten, die Fülle der Schönheit wie eine Offenbarung der Ewigkeit empfinden müßten. Feine weiße Lämmerwölkchen standen in der Nähe des Sonnenballs wie Rauchwolken, die von einer glimmenden Zigarre aufsteigen, und hinten am Horizont jagte ein Heer von weißen Wolken vorüber. Sie waren vorbei. Nun war keine Bewegung mehr am Himmel. Die Wolken standen still, als schlummerten sie in der Luft. Darüber spannte sich die hellblaue Unendlichkeit, weit, weit, bis in Räume, zu denen der Menschengeist niemals vordringen kann. Welch eine Kuppel über der Erde! Wie herrlich war das alles! Wie erschien die Erde hiergegen unansehnlich, dunkel und ärmlich … Die Berge ragten in dieses Lichtmeer wie Schlagschatten hinein – dort oben auf dem höchsten Gipfel stand eine Föhre und badete ihre Krone im Licht! Ich fühlte, daß der Sommer heute einen seiner letzten großen Siegestage feierte. Sobald der Sonnenwagen unter den Horizont herabgerollt war, kam die Dämmerung. Hinter ihr her war schon der Herbst mit seinen langen kalten Fingern, und die Nächte begannen kühl zu werden. Wenn man merkt, daß der Sommer schwindet, hat man stets ein Gefühl, als ob er niemals wiederkehre, und man will dann die letzten Tage noch mit vollen Zügen genießen …

Als die Schatten auch in mein Zimmer hineinglitten, das Laub im Abendwinde wippte und winkte, die See grau wurde, überkam mich eine tiefe Traurigkeit. Das Herz hämmerte mir in der Brust, ich hatte das flüchtige Empfinden, als ob nun das Leben aufhörte.

Wie langsam doch die Abendstunden dahinflossen. Ich schloß die Fenster und wunderte mich über die blutige Farbe des Glases. Es war der Widerschein des Sonnenuntergangs; die Sonne zog mit sich ins Meer herab ein Gefolge rostbrauner Wolken, von jener häßlichen Farbe, die dem Herbste eigen ist. Die Tinten wurden von der Luft zurückgeworfen und spiegelten sich auch im Glase meines Fensters. Ich fuhr mit den Fingern über die Scheiben und wunderte mich aufs neue, denn auch meine Finger sahen blutig aus.

So kam die Dämmerung heran. Die Dunkelheit füllte mählich jeden Winkel, wurde ständig dichter und breitete ihren Mantel weit aus. Nur die goldenen Rahmen der Bilder an den Wänden leuchteten noch in dem schwachen Schimmer, der von den Fenstern kam, und das Zifferblatt starrte lange von der Wand durch das Dunkel wie ein weißes blödes Auge. Gegen zehn Uhr schwand auch der letzte Schimmer des Tages, im Zimmer wurde es ganz dunkel, nur im Fenster stand noch ein undeutlicher schwacher Lichtschimmer, der von Minute zu Minute schwächer und blasser wurde. Zuletzt hatte ich dagesessen und darüber nachgedacht, was ich nun tun sollte. Ich wußte, daß sich etwas Entscheidendes im Laufe der Nacht ereignen würde, und hatte das bestimmte Gefühl, daß dieser Tag der letzte hier wäre. In keinem Falle mochte ich länger die nervenerschütternden Vorkommnisse hier ertragen.

Furcht hatte ich nicht mehr, nicht im geringsten. Ich fürchtete mich nicht vor dem Gesichte mit dem schrecklichen Mund und der totenbleichen Stirn, denn nun kannte ich den ganzen Zusammenhang.

So traf ich denn eine Reihe von Vorkehrungen, die wohl merkwürdig erscheinen mochten, aber ihre Erklärung durch die späteren Ereignisse finden werden.

Um halb zehn Uhr verließ ich meine Hütte. Zuerst zog ich mir einen leichten Ueberzieher an, besann mich dann aber eines anderen und ließ ihn zurück. Statt dessen knöpfte ich mir die Jacke fest zu; ich wollte in meinen Bewegungen in keiner Weise behindert sein. Ehe ich ging, lud ich alle Läufe meines Revolvers und steckte ihn in die rechte Tasche, so daß ich rasch an ihn gelangen konnte; als ich aber bemerkte, daß die Tasche dadurch auf verdächtige Weise aufgetrieben wurde, nahm ich die Waffe wieder heraus und steckte sie in die innere Tasche, so daß nunmehr niemand ihre Anwesenheit ahnen konnte.

Ich hatte mich bereits einige Schritte von der Hütte entfernt, da fiel mir noch etwas ein. Ich ging also zurück und sah meine Papiere an, die auf dem Tische lagen. Es kam mir vor, als ob sie in einer allzu großen Ordnung dalägen; infolgedessen brachte ich die Papiere durcheinander, schrieb einige Zeilen einer Abhandlung, die ich in letzter Zeit unter der Feder hatte, und suchte durchaus den Eindruck zu erwecken, als ob ich ganz zufällig meine Arbeit unterbrochen und das Zimmer verlassen hätte.

Endlich machte ich Ernst und ging. Ich sah unaufhörlich nach der Uhr, weil ich pünktlich sein wollte. Es war neun Uhr vierzig Minuten, als ich beim Landhändler eintrat.

Fünf Menschen waren in dem Laden; der Landhändler selbst, der etwas gestreiftes Zeug abmaß, und seine Tochter, die Sirup in eine Kanne zuwog, standen hinter dem Ladentisch; davor stand der Bruder des Landhändlers, ein Fischer, die Hände in der Hosentasche, eine Pfeife im Munde. Außerdem waren zwei Kunden da, ein altes Weib, das damit beschäftigt war, einige gefüllte Tüten in einen Korb zu packen, und ein kleiner Junge, der an seinen nackten Beinen fror; er hatte einen Blecheimer in der einen Hand und ein blaues zerknittertes Rechnungsbuch in der anderen.

Ich trat so laut in den Laden, daß alle mein Kommen bemerken mußten, begrüßte den Bruder des Landhändlers, den ich von früher her kannte, und erzählte ihm rasch, daß ich die Absicht hätte, eine längere Fischfangtour nach der eine Meile entfernten »Spitzen Landzunge« zu machen; schon in einer halben Stunde wolle ich abfahren, etwa eine Stunde bei dem Fischer draußen auf der Landzunge schlafen und dann um vier Uhr anfangen.

»Ja, das ist eine hübsche Tour,« meinte der Mann. »Wollen Sie allein rudern?«

»Nein, ich dachte, den einen oder anderen dort vom Hotel dazu zu bekommen.«

»Nun ja, ja, es ist wohl ein gehöriges Stück zu rudern.«

»Das schon, aber ich schaffe es doch,« antwortete ich lächelnd und reckte meine Arme aus.

Der Mann nickte.

»Sie sind gewiß stark,« sagte er.

»Ja, Gott sei Dank,« antwortete ich, und dabei lag mehr Ausdruck in meiner Stimme, als mir lieb war.

Dann wandte ich mich wieder zum Landhändler und kaufte verschiedene Fischereigeräte, Haken und auch einige Schnüre. »Die meinigen sind schon zu schlecht,« sagte ich dabei. Der Landhändler gab mir wegen des Fanges gute Ratschläge, erklärte mir, welche Köder ich benutzen müßte und wo ich meine Schnüre auslegen sollte.

Schließlich bat ich um die Erlaubnis, sein Boot entleihen zu dürfen, was er mir nach einiger Ueberlegung auch gestattete.

»Alsdann werde ich das Boot etwa in einer halben Stunde nehmen,« sagte ich, »vielleicht bringe ich noch einen Freund vom Hotel mit, vielleicht bin ich auch gezwungen, allein zu fahren. Fahren werde ich aber auf jeden Fall, denn ich habe außerordentliche Lust zu dieser Fischfangtour.«

Nachdem die gekauften Sachen zusammengepackt waren, wünschten mir der Landhändler und sein Bruder guten Fang, und dann wanderte ich nach dem Hotel. Dort waren alle Fenster erleuchtet, auch dasjenige von Asbjörn Krag, ein Umstand, der mich enttäuschte. Ich hatte darauf gerechnet, daß er nicht da sein würde, und glaubte bestimmt, daß er mir mit Absicht die Stelle unten am Bergwege für das Stelldichein bezeichnet hatte. Traf ich ihn nun trotzdem hier im Hotel, so mußte ich meine weitere Handlungsweise etwas anders einrichten. Aber es mochte biegen oder brechen, jetzt hatte ich meinen Entschluß gefaßt und wollte ihn nun auch durchführen.

Unten im Speisesaal traf ich einige Gäste, die ich fragte, ob sie mit auf den Fischfang gehen wollten, doch schien es nicht, als ob sie hierzu große Lust hätten, zumal ich ihnen auch eine ziemlich große Rudertour in Aussicht stellte. Dabei gab ich ganz genau die Zeit an, zu der ich aufzubrechen beabsichtigte. »In einer halben Stunde,« sagte ich. »Ich werde das Boot des Landhändlers nehmen. Aber es scheint wirklich so, als ob niemand mitfahren will?«

Dann ging ich durch den Korridor nach Asbjörn Krags Zimmer.

Punkt zehn Uhr klopfte ich an seine Tür.

Niemand antwortete.

Ich klopfte wieder; als ich abermals keine Antwort erhielt, ging ich geschwind in das Zimmer hinein. Es war leer, doch die brennende Lampe stand auf dem Tisch. Ich wußte, daß Asbjörn Krag stets darauf bedacht war, sein Zimmer abzuschließen; er konnte also nicht weit fort sein.

So wartete ich an der Tür mehrere Minuten, aber niemand kam, und ich hörte auch keine Schritte. Völlige Stille umgab mich.

Das kam mir verwunderlich vor, die Tür offen und die Lampe brennend auf dem Tische … Der Detektiv, der die Pünktlichkeit selbst war, wußte, daß ich zur festgesetzten Zeit, Punkt zehn Uhr, kommen würde. Ich wußte, daß er Geheimnisse hatte und daß er um keinen Preis Fremde über seine Papiere kommen ließ, mich wahrscheinlich noch zu allerletzt. Warum war er dann aber nicht vorsichtiger?

Ich öffnete die Tür, die auf den Korridor führte. Asbjörn Krags Zimmer lag ungefähr in der Mitte desselben. Ich mußte also, woher auch jemand kommen mochte, die Schritte hören, ehe der Betreffende bis an die Tür des Detektivs gelangt war. Dann schloß ich wieder die Tür und lauschte unbeweglich. Kein Laut war zu hören. Da trat ich an den Schreibtisch des Detektivs, wo viele Papiere in Paketen geordnet lagen.

Oben auf dem Tische dicht beim Fenster stand ein ovaler Toilettentisch in versilbertem Rahmen, rings um den Spiegel lag eine Menge kleiner Gegenstände verstreut, darunter einige Schminktuben. Als ich diese Dinge zu sehen bekam, ging es mir durch und durch.

Aber ich bemerkte noch etwas anderes.

Neben dem Spiegel stand in einem geschnitzten Eschenholzrahmen eine Photographie.

Es war das Bild des getöteten Forstmeisters Blinde, eine vortreffliche Photographie, anscheinend kurz vor seinem Tode ausgenommen.

Ich nahm das Bild in die Hand und starrte lange darauf. Etwas von dem Gefühle beherrschte mich wieder, das ich hatte, als ich das Gesicht hinter der grünen Fensterscheibe sah. Aber es dauerte nur eine Sekunde, dann war ich wieder unerschütterlich ruhig. Ich begriff, daß Asbjörn Krag die Tür absichtlich hatte offen stehen lasten; er wollte, daß ich das Zimmer betreten und sehen sollte, was da auf dem Tische lag.

So überraschte mich das alles nicht so sehr, wie er es vielleicht erwartet hatte. Der Blick auf die Photographie, auf den Spiegel und auf die Sachen rings um diesen brachte meine Nerven nicht wieder in Aufruhr, wie es bei der Erscheinung des schrecklichen Gesichts hinter der Fensterscheibe geschehen war. Doch nun war ich jedenfalls meiner Sache sicher. Ich hatte jetzt einen unwiderleglichen Beweis dafür, daß alles, was ich bisher nur geglaubt hatte, in der Tat zutraf.

So stand ich und dachte darüber nach, was ich jetzt beginnen sollte. Ich wußte, daß Asbjörn Krag in diesem Augenblick auf mich draußen in der undurchdringlichen Dunkelheit bei den alten Bäumen am Meere wartete. In kurzer Zeit würde ich ihn dort treffen und sein kurzes, polterndes Lachen hören.

Und so tat ich etwas, was durchaus mit meinem früheren Verhalten übereinstimmte. Auch ich ging fortan von einem bestimmten Gedanken aus und verfolgte einen Plan.

Ich nahm ein Stück weißes Papier und legte es vor mich auf den Tisch, weil ich an ihn schreiben wollte. Auf einem Schreibständer lagen eine Menge Bleistifte und eine einzelne Feder, aber es fand sich keine Tinte. Die Feder stak in einem Füllfederhalter. Als ich mit ihr schrieb, wunderte ich mich selbst über meine geraden, festen Buchstaben:

»Lieber Krag!

Ich habe Sie heute abend um halb elf erwartet (die Uhr war eben erst zehn Uhr zehn Minuten), um mit Ihnen eine Fischfangtour nach der ›Spitzen Landzunge‹ zu machen. Ich fahre elf Uhr von der Brücke beim Landhändler ab. Wenn Sie diesen Brief bis dahin zu Gesicht bekommen und Lust zu der Tour haben, so kommen Sie bitte mit.«

Ich setzte meinen Namen darunter und legte den Füllfederhalter vorsichtig wieder auf den Ständer. Dann beeilte ich mich, die Papiere des Detektivs zu durchwühlen.

Er hatte eine Menge geschrieben, über alles mögliche, aber ich fand nicht ein Wort über den Tod des Forstmeisters, ebensowenig über Doktor Brahms' Flugzeug.

Die Zeit verging rasch; es war jetzt Zeit zu gehen. Ich schritt durch den Speisesaal, wo noch einige Gäste saßen, pfiff eine muntere Melodie und rasselte mit meinen Fischereigeräten, so daß es alle sehen und hören konnten.

»Also will niemand mit von der Partie sein?« fragte ich zum letzten Male.

»Nein, nein,« erhielt ich zur Antwort.

Ich schritt hinaus auf den Weg und wunderte mich, wie ruhig ich war.

Als ich mich daran erinnerte, was der Bruder des Landhändlers über meine Stärke gesagt hatte, streckte ich die Arme aus und fühlte, wie sich die Muskeln unter meinen Kleidern strafften. Ich wußte, welchem Ziel ich entgegenging.

So schritt ich langsam den Weg entlang, in der Hoffnung, einen der Gäste oder Einwohner zu treffen, denn ich wollte noch einmal gesehen werden. Ich hatte auch Glück, ich traf den Fischer mit dem Strohhute.

Seit jenem Abende nach der unheimlichen Nacht, in der der Forstmeister erschlagen wurde, hatte ich den Mann nicht mehr gesehen. Als er mich erkannte, verlangsamte er seinen Schritt und grüßte zögernd. Es schien mir, als ob er einige Worte mit mir wechseln wollte. Ich blieb daher stehen und gab ihm die Hand.

»So spät noch unterwegs?« begann ich.

»Ach, es ist erst zehn Uhr,« antwortete er. »Ich war beim Landhändler und hörte, daß Sie auf eine Fischfangtour ausfahren wollen.«

Es freute mich außerordentlich, daß man bereits von meiner Tour zu sprechen begann.

»Ich dachte, Sie wären bereits abgefahren,« fuhr der Mann fort. »Haben Sie Begleitung?«

»Nein, ich hatte gehofft, den Detektiv mitzubekommen, aber er ist nirgends zu finden. Falls Sie ihm begegnen, teilen Sie ihm bitte mit, daß ich in einer Viertelstunde losziehe.«

»Ja, das will ich wohl tun.«

Der Mann blieb stehen und trat von einem Fuß auf den anderen. Er hatte sichtlich etwas auf dem Herzen.

Endlich kam es heraus:

»Haben Sie den eisernen Wagen gesehen?«

»Ja,« antwortete ich lächelnd. »So lösen sich alle Spukgeschichten in Wohlgefallen auf, lieber Freund. Es ist ja gar kein eiserner Wagen, es ist eine Flugmaschine!«

Der alte Mann brummte hierauf etwas vor sich hin. Es schien gerade so, als ob er auch weiterhin an den eisernen Wagen glaubte.

»Ich habe ihn schon früher gehört,« warf er ein, »und zwar vor vier Jahren.«

»Aber es hat sich doch herausgestellt, daß der alte Gjaernaes damals eben nicht ums Leben kam!«

»Nein, nein! Aber ich habe doch den Wagen gehört.«

Er blieb bei seiner Ueberzeugung und verließ mich tief enttäuscht darüber, daß auch ich nun nicht mehr auf seiner Seite stände.

Ohne Schwierigkeit fand ich im Dunkeln das Boot, das an der Brücke vertäut lag, legte meine Fischereigeräte in das Achterteil und stieß so geräuschvoll, wie ich nur konnte, ab. Da sah ich, wie es in den Fenstern des Landhändlers plötzlich hell aufleuchtete und kurz darauf wieder dunkel wurde. Ich wußte, was das bedeutete. Der Landhändler hatte das Fenster geöffnet, um zu hören, wer an seinen Booten rumorte. Er merkte, daß ich es war, und schloß das Fenster wieder.

So ging alles vortrefflich. Es war nun einviertel nach zehn, und der Landhändler hatte gehört, daß ich von der Brücke abstieß.

Das einzige, was mich noch störte, war die Ruhe. Ich würde gern Wind und Wellen gehabt haben, um den Ruderschlag zu verdecken, aber dafür half mir die Dunkelheit. Ich war nur wenige Meter vom Lande entfernt, da konnte ich die Häuser schon nicht mehr sehen; sie verschwanden in der dichten Dunkelheit, in der ringsum einige gelbe Lichtpunkte blinkten. Ich ruderte im dichtesten Schatten. Das Meer war nämlich auf wunderliche Weise in schwarze und graue Flächen geteilt. Auf weite Flächen hin lag ein eigenartiger hellgrauer Schein auf dem Wasser. Ich wußte nicht, woher das Licht kam, aber ich hütete mich wohl, in diese Flecken hineinzurudern, die wie oxydiertes Silber aussahen, denn ich wußte, daß das Fahrzeug und ich dort deutlich wie eine kohlschwarze Silhouette erscheinen würden. Nun näherte ich mich dem Sund, der aus der Bucht hinausführte, und fühlte im Nacken deutlich den kalten Hauch vom Lande her. Das Boot glitt auf dem Rücken einer langen Dünung dahin. Ich hätte nun längs des flachen Landes zur linken Hand rudern müssen, um nach dem Fischplatz zu gelangen. Aber statt dessen ruderte ich nach rechts auf die steile Bergwand los und fühlte, wie ich in einem dichten Schatten verschwand. Jetzt hätte ich um nichts in der Welt jemanden treffen mögen. Ich wußte, daß die Fischer oft hier entlang fuhren, und legte mich in die Riemen, um schnell und unerkannt meinen Bestimmungsort zu erreichen. Dabei legte ich mich mit Macht ein, so daß sich die Riemen bogen und das Wasser vor den Ruderblättern schäumte.

Endlich nahte mein Boot einigen schwarzen Pfählen; ich mußte aus Leibeskräften gegenhalten, um nicht in voller Fahrt gegen die Brücke zu stoßen. Immerhin bekam das Boot einen Stoß, daß die Planken krachten. Ich saß einen Augenblick still und lauschte. Da ich aber keinen Laut hörte, war wohl kein Mensch in der Nähe. Dann vertäute ich das Boot neben einigen anderen Fahrzeugen, die im Dunkel still und gespenstisch umherlagen. Meine Ankunft hatte das Wasser ein wenig in Bewegung gebracht, die Schatten tanzten auf dem Wasser, es plätscherte leise und sacht gegen die Brückenpfähle. Ich stieg auf die Brücke und befestigte das Bootstau so, daß ich es jeden Augenblick wieder losbekommen konnte.

Dann sah ich mich um. Dort ragten gegen den aschgrauen Himmel die gewaltigen, kohlschwarzen Silhouetten der Bäume. In diesem sonderbaren Dunkel sollte ich den Menschen treffen und den Namen des Mörders erfahren.

Nun mußte die Uhr bald halb elf sein. In einer, vielleicht auch schon in einer halben Stunde würde alles vorbei sein. Ich fühlte nicht die geringste Spannung oder Unruhe, aber ich wurde von einem gewaltigen Willensdrange getrieben. Nichts in der Welt hätte mich jetzt noch aufhalten können. Ich entsinne mich, daß ich mit innerer Freude feststellte, wie ich in diesem Augenblick ohne Uebereilung handelte, wie ich gegen Ueberraschungen auf der Hut war, wie alle meine Sinne gespannt waren und angestrengt auf Geräusche und Störungen lauschten. Mein Kopf war kühl und klar.

Ich ging über die Brücke, deren Planken schwach unter meinem Tritte knarrten. Das ärgerte mich. Ich versuchte lautlos zu schreiten. Als ich das feste Land erreichte, gelangte ich auf einen Rasenplatz. Hier stand ich wiederum kurze Zeit still und lauschte. Alles totenstill.

Wo war nur der Weg? Vor allen Dingen durfte ich keinem Menschen begegnen! Zunächst suchte ich mich zu orientieren. In einiger Entfernung gewahrte ich undeutlich ein kleines Haus, das wie ein grauer Würfel im Dunkeln emporragte. Dicht davor lag eine große unförmige Masse. Das mußte ein größeres, von Obstbäumen umgebenes Haus sein. Zur Rechten von mir lag, wie ich wußte, ein Badehäuschen, das aus einer alten Kajüte hergestellt war. Man hatte einfach die Kajüte vom Deck fortgenommen und auf das Wasser gesetzt, wo sie mittels leerer Tonnen schwimmend gehalten wurde. Im Augenblick, als ich die Kajüte wiedererkannte, stand es mir auch klar vor Augen, was ich nun zu tun hatte. Ich hatte oft genug hier gebadet und wußte, daß man von der Kajüte aus auf einem schmalen Steg zu der stets der Sonne ausgesetzten kahlen Felswand unterhalb des Bergweges gelangen konnte. Von da war es dann nicht mehr weit bis zu dem dunklen Schattenflecke.

Ich ging vorsichtig über den Steg. Es war nicht angenehm, daß er mit Schutt und Geröll bedeckt war, weshalb es unter meinen Füßen knirschte, aber ich trat vorsichtig und leicht auf und schlich beinahe wie auf weichen Raubtiersohlen vorwärts. Als ich an die Felswand gelangt war, bückte ich mich und kroch auf allen Vieren vorwärts, damit sich meine schwarze Silhouette nicht gegen den schwach erhellten Himmel über der Meeresenge abheben sollte.

Endlich stand ich auf dem steinbedeckten Abhang, der auf den Weg hinaufführte. Ich hielt mich an einem Weidenbusche fest, der über und über mit Tau bedeckt war, schwang mich empor, bekam einen Baumstamm zu fassen und dann wieder einen Weidenbusch; endlich klammerte ich mich an einen mächtigen Stein, der sich fast aus seiner Umgebung gelöst und mich auf gewaltsamer Fahrt ins Meer mitgenommen hätte. Ich stemmte mich gegen ihn mit den Knien und fühlte, wie mir die Haut aufsprang und sie von dem austretenden Blute klebrig wurden. Aber nun hatte ich ja nicht mehr weit bis auf den Weg. Ich löste meinen umklammernden Griff von dem Stein; er blieb liegen. Heilsfroh war ich, als ich die Finger in einige Himbeersträucher einkrallen konnte. Nun war ich ganz oben, am ersten Prellstein; da klammerte ich mich mit den Händen fest an seine scharfen Kanten, so daß sich die Nägel an den Fingerspitzen bogen. Ein leichter Schwung des Körpers, und ich wäre oben gewesen. Hallo!

Ich hörte Schritte.

Schritte! – Mein Herz arbeitete wie ein vom Sturme geschüttelter Baum. Nie zuvor habe ich die Furcht so deutlich und fühlbar kennengelernt. Es war gerade, als ob sie die ganze Kraft meiner Muskeln zum Schwinden brächte und meine gespannten Sehnen erschlaffen ließe. Schritte hörte ich im Dunkeln, eilige Schritte, die den Weg entlangkamen. Gerade vor mir stand eine große feuchte Felswand, von der es heruntertropfte, ein gewaltiger kohlschwarzer, dunkler Schlund, der jeden Lichtschimmer erstickte. Und in dem Schlagschatten dieser Felswand erklangen oben am Wege Schritte. Nicht eine Spur des Fußgängers konnte ich wahrnehmen. Nun kam er näher, er ging merkwürdig fest und trat mit den Fußsohlen hart auf. Während die Schritte an mir vorbeikamen, glaubte ich aus dem Auftreten der Füße zu erkennen, daß da zwei Männer gehen müßten. Weiter oben führte der Weg im Bogen um den Berg. Ich konnte sehen, wie sich seine flache Rundung gegen den Horizont und den grauen Himmel abhob. Gespannt starrte ich auf diesen Punkt, denn ich wußte, daß die Fußgänger hier sichtbar werden mußten. Gleich darauf sah ich die beiden – es waren zwei. Zuerst erblickte ich ihre Hüte, dann ihre Gestalt. Sie sprachen nicht miteinander, sondern gingen im Takte wie zwei dunkelgekleidete Soldaten über den Weg. Ihre Hosen waren um die Knöchel gebunden. Es waren die beiden Radfahrer, die mit dem Dampfboot am Vormittag angekommen waren. Nirgends waren sie den ganzen geschlagenen Tag zu sehen gewesen, man ahnte nicht einmal ihre Anwesenheit. Es kam mir seltsam vor, daß sie auf diese Weise hier auftauchten, und wie sie da so schweigend und stramm einhergingen, kamen sie mir wie zwei Tote vor; sie verschwanden eilends hinter der Felswand, die plötzlich den Laut ihrer Schritte dämpfte.

Ich mußte ein wenig liegen bleiben und mich von der Angst erholen, aber bald war ich wieder beruhigt, denn sie hatten mich nicht gesehen. Ich wartete eine Minute, schwang mich rasch auf den Weg und glitt sogleich hinüber an die Felswand in die dichte Finsternis unterhalb des Berges.

Auf diese Weise hatte ich glücklich den Weg zwischen den Häusern vermieden, wo ich, wie ich wußte, jederzeit Gefahr laufen mußte, Menschen zu treffen. Nun hatte ich nur noch wenige Schritte hinab zu den großen Bäumen, bei denen Asbjörn Krag wartete. Still ging ich hinunter. Ich hatte mir noch nie so verzweifelte Mühe gegeben, lautlos zu gehen. Endlich stand ich unter den Bäumen. Wo war der Mensch? Ich fühlte eine fürchterliche, erdrückende Stille um mich. Weder konnte ich infolge der Dunkelheit etwas sehen noch auch irgendeinen Laut in der Nähe oder aus der Ferne hören. Nicht einmal die Zweige bewegten sich, die schweren Baumkronen erschienen erstarrt und verkohlt – ich hatte ein Gefühl, als ob ich mich in einer Grabkammer befände.

Aber endlich sah ich das Gesicht.

Plötzlich tauchte dicht vor meinem eigenen das bleiche, knöcherne Antlitz des Detektivs mit dem vortretenden Kinn und den dünnen Lippen auf. Seine Augen schimmerten durch die Gläser des Kneifers. Er war plötzlich gekommen, Gott mag wissen woher, als hätte ihn die Finsternis ausgespien. Vielleicht war er mir nachgegangen?! Der Gedanke machte mich erbeben.

Plötzlich vermochte ich kein Wort hervorzubringen; ich war meiner Stimme nicht sicher. Gerade in diesem Augenblicke war ich ganz ruhig, aber, Gott im Himmel! ich fühlte, daß die Erregung nur darauf lauerte, mich zu überfallen und zu überwältigen.

… Eine Ewigkeit schien es mir zu währen, ehe ich die Stimme des Polizeimannes vernahm. Endlich sagte er:

»Ich habe lange gewartet!«

»Ich habe Sie im Hotel gesucht,« erwiderte ich, »und mehrere Minuten in Ihrem Zimmer gewartet.«

»Lassen Sie uns gehen.«

Der Detektiv ging einige Schritte längs des Bergweges, ich folgte ihm vorsichtig wie zuvor. Mit einem Male erriet er, woran ich dachte.

»Sie können so gehen, wie Sie es sonst zu tun pflegen,« sagte er, »hier treffen wir keinen Menschen in der Nähe.«

»Wissen Sie das genau?«

»Ja, ich weiß das, ich habe hier lange gestanden.«

Als wir in den tiefen Schatten unterhalb der Felswand kamen, blieb der Detektiv stehen. Ein deutlicher Hohn klang aus seiner Stimme, als er fragte:

»Finden Sie es im Grunde genommen nicht ganz auffallend, daß wir solche Geheimniskrämerei treiben?«

Die Frage verwirrte mich. Von meinem Standpunkt aus betrachtet, war dieses geheimnisvolle Verhalten durchaus erklärlich, ja notwendig, aber ich hatte allerdings nicht daran gedacht, daß auch Asbjörn Krag vielleicht Gründe haben mochte, so still aufzutreten, daß ihn kein Mensch sah. Er wollte mir den Namen des Mörders nennen, das war alles. Warum hatte er ihn mir nicht früher am Tage gesagt? Warum konnte er ihn mir nun nicht nennen, in diesem Augenblick? Erst jetzt wurde mir sein ganz seltsames Benehmen an diesem Abende klar, und ein Argwohn, der mich vor Schreck eiskalt werden ließ, überfiel mich: Wußte er, was ich im Sinne hatte? Ermunterte er mich in aller Ruhe hierzu? War er ein solcher Teufel, daß er auch hiermit rechnete?

Alle diese Gedanken fuhren mir in einer Sekunde durch das Hirn. Ich murmelte eine undeutliche Antwort auf die Frage des Detektivs.

»Ich habe es aufgegeben,« sagte ich, »ganz aufgegeben, mich über Ihre Handlungsweise noch zu wundern.«

»Aber warum tun Sie selbst so geheimnisvoll? Warum schlichen Sie wie ein Dieb in der Nacht umher?«

»Ich glaubte, es wäre nötig, mit Vorsicht aufzutreten. Der Mörder ist ja noch nicht erwischt.«

Da lachte der Detektiv. Er wandte sein Gesicht ab und lachte; sein Lachen klang wiehernd und höhnisch; es schien mir aus der Finsternis selbst zu kommen.

Da nahm er mich freundlich beim Arm und spazierte mit mir langsam den Weg entlang. Wir näherten uns nun rasch der Stelle, wo ein jäher Absturz lotrecht mehrere Hundert Fuß tief hinab zum Meere führte.

»Armer Kerl,« brummte er mitleidig. »Sie sind ja hypernervös und schreckhaft – Sie brauchen dringend Ruhe und Abwechslung. Beides sollen Sie haben, wenn diese Sache zu einem glücklichen Ende gebracht ist – –«

»Möchten Sie sich nicht ein wenig beeilen?« fragte ich.

Wir waren gerade auf der höchsten Stelle angelangt und starrten hinunter in den schwarzen, bodenlosen Schlund, der mit kaltem Hauche zu uns hinaufgähnte.

»Ja, nun sollen Sie hören, was ich zu erzählen habe,« antwortete er, »aber ich muß erst einige Fragen, an Sie richten. Vermögen Sie zu antworten?«

»Warum sollte ich nicht antworten können?«

»Mir schien Ihre Stimme rauh und unsicher wie die eines Menschen, der dem Ertrinken nahe ist … aber das ist wohl wieder die Aufregung, vielleicht auch noch das Unbehagen, das im Begriff ist, Sie zu übermannen. Sie sind also heute abend in meinem Zimmer gewesen?«

»Ja.«

»Waren Sie nicht erstaunt, die Tür offen zu finden?«

»Ja, gewiß.«

»Ich erkläre Ihnen jedoch, daß ich damit eine bestimmte Absicht verfolgte.«

»Wie ich sehr wohl begriff. Sie pflegten sie ja sonst sorgsam zuzuschließen.«

Der Detektiv lachte wieder.

»Ich bewundere Sie,« sagte er, »ich höre, daß Sie dabei versuchen, mit besonderer Sorgfalt zu sprechen. Sie haben wirklich eine imponierende Geistesgegenwart. Können Sie mir vielleicht auch angeben, worin meine Absicht bestand?«

»Nein.«

»Dann will ich es Ihnen sagen. Ich wollte, daß Sie mein Zimmer sehen sollten.«

»Ich?«

»Ah, nun klingt Ihre Stimme wieder ganz dumpf und rauh. Haben Sie denn meinen Schreibtisch nicht gesehen?«

»Jawohl.«

»Was haben Sie dort gefunden?«

»Es mag Ihnen wohl genügen, wenn ich Ihnen sage, daß ich es fand.«

»Hoho, Sie wollen nicht mit der Sprache heraus; Sie fanden die Schminktuben, nicht wahr?«

»Jawohl.«

»Und die falschen Haare und den Bart?«

»Ja, ich bin mir darüber vollkommen im klaren, daß Sie es sind, Herr Detektiv, der umgegangen und das Gespenst des getöteten Forstmeisters dargestellt hat.«

»So haben Sie wohl auch den Grund hierfür herausgefunden?«

»Sie sprechen stets in Rätseln, ich verstehe Sie nicht recht.«

Der Detektiv legte mir die Hand auf die Schulter.

»Hallo,« sagte er, »es scheint mir, als hörte ich – – –«

Wir lauschten beide angestrengt.

Tief unten vom Meere her hörten wir Ruderschläge; ein Boot ruderte da unten im Dunkeln vorüber. Der Laut drang zu uns herauf wie durch ein Sprachrohr. Wir hörten auch schwache Stimmen, einzelne abgerissene Worte, die eigentümlich fern und dünn klangen:

»… besser in solchem Wetter, als …«

Mehr hörten wir nicht, den Rest verschlang die Finsternis und der Abgrund.

»Tief, tief unten,« murmelte der Detektiv. Nachdem er einige Zeit gelauscht hatte, ohne weitere Worte aufzufangen, fuhr er fort:

»Wie ich Ihnen schon sagte, lieber Freund, habe ich in dieser unheimlichen Sache auf ganz ungewöhnliche Weise gearbeitet. Ich war mir sogleich darüber im reinen, daß der Forstmeister getötet sein mußte, und zwar erschlagen von einem Manne im Zorn. Es war keineswegs ein vorsätzlicher Mord. Ich verfiel sehr bald darauf, an Eifersucht zu denken. Als ich das Lächeln des Getöteten sah, das noch im Tode triumphierte, sagte ich mir: ›Wenn er so seinen Nebenbuhler angelächelt hat, so kann ich es verstehen, daß dieser ihn sofort zu Boden schlug …‹ Nun wohl. Aber ich sah auch sogleich, daß hier keine Rede davon sein konnte, Beweise herbeizuschaffen. Man konnte wohl einen Argwohn nähren, aber irgendeinen handgreiflichen Beweis beizubringen war unmöglich; dabei war die Tat doch nur durch reinen Zufall begangen, eine allzu plötzliche und zu wenig überlegte Handlung. Ich mußte also meine Arbeit unbedingt anders anlegen, als es sonst der Fall ist. Nun will ich Ihnen einen anderen Fall erzählen, lieber Freund. Vor zwei Jahren verschwand ein reicher Engländer auf unaufgeklärte Weise an der Riviera. Die Untersuchung ergab, daß es sich um einen Raubmord handelte, aber der Mörder war nirgends zu finden. Man hatte keinerlei Beschreibung von ihm. Was tat der kleine, schlaue, französische Detektiv, der die Untersuchung leitete? Ja, er spielte den Getöteten! Er maskierte sich genau wie dieser, kleidete sich genau wie er und machte so eine Rundreise durch alle Hauptstädte von Europa. Er ging auf Gassen und Straßen spazieren, wo sich viele Menschen befinden. Endlich in St. Petersburg ereignete sich das, was er erhofft hatte. Ein Mann bleibt erschreckt stehen, als er ihn erblickt. Das ist der Mörder, der da glaubt, daß das Gespenst seines Opfers sich ihm plötzlich zeigt und daraufhin totenbleich und erschreckt die Flucht ergreift. Im nächsten Augenblick war er ergriffen.

Und das, lieber Freund, das war meine Methode. Nur kam sie ein klein wenig anders zur Ausführung. Ich faßte einen bestimmten Argwohn und verstand, weil ich klarer als alle anderen in solchen Sachen sehe, daß nur ein einziger Mensch als Mörder des Forstmeisters in Betracht kam. Von dieser Stunde an habe ich den Menschen verfolgt. Daß unerwartete Dinge wie die Flugmaschine und der Tod des alten Gjaernaes meine Arbeit etwas verzögert haben, hat an sich der Sache weder geschadet noch genützt.

Da mir jeder Beweis fehlte, mußte ich es dahin bringen, daß sich der Betreffende verriet. Ich nahm den Schreck zu Hilfe, in einer Weise, wie das vielleicht noch niemals irgendein Detektiv vor mir getan hat. Wenn ich grausam gewesen bin, so tut es mir leid, aber es ist wahr, wie ich vorher schon sagte, daß ich ein Lyriker des Schreckens bin. Und ich bekam den Täter dazu, daß er sich verriet … Brauche ich Ihnen nun noch zu sagen, wer der Mörder ist?«

Die Hand des Detektivs lag schwer auf meiner Schulter. Er konnte sicherlich fühlen, wie sich mein Körper vor Herzklopfen hob und senkte. Ich hörte meine Stimme … einen wunderlichen gurgelnden Laut:

»Nein, … durchaus nicht.«

»So? Also nicht?« erwiderte Asbjörn Krag lachend; »der Mörder sind Sie selbstverständlich … Ich habe dies von Anfang an gewußt, von dem Augenblick an, als ich hörte, daß Sie unter den Bäumen standen und zusahen, wie der Forstmeister, Ihr Nebenbuhler bei Fräulein Hilde, aus deren Zimmern kam. Als Sie über die Heide gingen, waren Sie sicher nur tief unglücklich, Sie dachten nicht einmal daran, ihn zu töten, aber Sie empfanden die Zurückweisung auf dem Edelhofe wie einen peinigenden Schmerz, zumal Sie ja die ganze Veranlassung hierzu falsch verstanden. Als Sie dem Forstmeister wieder nähergekommen waren und er den Hut abnahm, um Sie zu grüßen, höhnisch, triumphierend, da erhoben Sie sofort den Stock, Ihren prächtigen Stock mit der Elfenbeinkugel, und schlugen auf ihn los. Auch da dachten Sie eigentlich nicht daran, ihn zu töten, aber das Unheil war im Zuge, Sie trafen ihn auf den Hinterkopf, und er starb sofort …«

Asbjörn Krag hielt inne.

Seine Worte glitten an mir vorbei, ich wußte, was er sagte, aber ich konnte seine Worte nicht unterscheiden. Seine tiefe, ernste Stimme schlug an mein Ohr mit traurigem Klang wie gedämpfter Beckenschlag in einem Trauermarsch. Ich lauschte unwillkürlich nach den Ruderschlägen unten im Abgrund; nun klang es ferner, das Boot glitt vorüber. Der Zeitpunkt kam näher.

Asbjörn Krag fuhr fort:

»Wenn ich gegen Sie grausam gewesen bin, so bitte ich Sie um Verzeihung, aber ich mußte so handeln, wie es geschah – einen anderen Weg gab es nicht. Ich fing damit an, mit Ihnen zu reden, dann verwirrte ich Sie durch mein Auftreten, und endlich ließ ich den Toten vor Ihrem Fenster am Abend erscheinen. Wenn Sie es sich genau überlegen, so war mein ganzes Auftreten Ihnen gegenüber, alle meine Worte, meine Reden, mein heimliches und offenes Handeln einzig und allein eine Kette, ein ununterbrochenes und geschickt geflochtenes Netz, um zum Ziele zu kommen. Ich sah Sie an jedem Tage, der verstrich, nervöser und aufgeregter werden. Schließlich faßten Sie vielleicht einen Argwohn über den richtigen Zusammenhang der Dinge. Erinnern Sie sich des Revolvers. Sie wollten nach dem Spuk schießen, nicht wahr? Aber ich hatte die Kugeln herausgenommen, als ich eine Stunde vorher bei Ihnen saß und Ihre hübsche Waffe bewunderte. Da wurden Sie überzeugt, nicht wahr? Ich konnte es Ihnen am Tage darauf ansehen, und endlich verrieten Sie sich –«

»Ich habe mich durchaus nicht verraten,« flüsterte ich.

»Ja, gewiß taten Sie das. Nun aber möchte ich Ihnen raten zu gestehen –«

»Niemals!«

Der Detektiv trat vor mich hin, so daß er jetzt zwischen mir und dem Abgrunde stand. Er forderte das Schicksal geradezu heraus.

»Wir stehen uns hier Angesicht in Angesicht gegenüber,« sagte er, »wollen Sie wirklich weiter leugnen?«

»Ich leugne nicht,« rief ich wild, »aber es gibt keinen Beweis, und Sie werden auch niemals einen Beweis bekommen!«

»Mörder!« rief er.

Und da war der Zeitpunkt gekommen. Nun wollte ich so handeln, wie ich es den ganzen Abend über geplant hatte.

Ich stürzte mich auf ihn und umklammerte ihn mit meinen sehnigen Armen.

Einen Augenblick strömte glühende Freude durch meinen Körper.

Ich fühlte meine Kräfte wachsen, in der nächsten Sekunde würde ich ihn in den Abgrund hinuntergeworfen haben, ihn, den einzigen, der um den wahren Sachverhalt wußte.

Aber gerade in dem entscheidenden Augenblicke fühlte ich mich selbst von vier Armen gepackt, ich hörte ein Klirren von Metall, und plötzlich lagen meine Arme in Handschellen auf meinem Rücken.

Und nun legte es sich wie ein Nebel auf mein Bewußtsein. Eine Blendlaterne blitzte auf; in ihrem Scheine sah ich zwei neue Gestalten: die dunkelgekleideten Soldaten, die Radfahrer … Ich hörte, wie Asbjörn Krag ihnen für ihr rasches Handeln dankte und Befehle austeilte …

… Später kam es mir so vor, als ob der Detektiv mit mir sprach … »Endlich haben Sie sich verraten,« sagte er. »Ich mußte einen neuen Plan in Szene setzen … und Sie, der Sie glaubten, daß Sie mich ums Leben bringen könnten … ich bin Ihnen den ganzen Abend über nachgegangen …

… Ihr Manöver mit der Fischfangtour … führten Sie aus, um Ihr Alibi zu beweisen, wenn jemand meinen zerschmetterten Körper finden sollte … Aber statt dessen, lieber Freund, gingen Sie durchaus auf meine Berechnungen ein … Ich wollte ja diesen Mordversuch haben … gerade deswegen habe ich ja immer von dieser gefährlichen Stelle gesprochen … und alles klappte ganz ausgezeichnet, lieber Freund, gerade so wie das Schloß an diesen Handschellen einschnappte …«

Ich hörte des Detektivs Stimme weiter und weiter entfernt, bis sie im Dunkeln verschwand. Dann schlug dumpfe Ruhe über meinem Bewußtsein zusammen. –

*

Mit seltsamen Gefühlen sitze ich hier in der Zelle und blättere in diesen Papieren. Die ersten Seiten sind mit hastiger, ungleicher Handschrift geschrieben, die Buchstaben stehen schief, manche Worte sind ganz unleserlich. Aber bald wird die Schrift ruhiger, ebenso wie ich es in der Zeit wurde, die ich auf diese Darstellung verwandte.

In der Tat ist nun ein wundervolles Gefühl von Ruhe und Sicherheit über mich gekommen. Ich bin im Gefängnis, habe keinen eigenen Willen mehr und keine Sorgen.

Jetzt ist es Herbst geworden. Am Morgen ist es kalt, bevor die Heizung ihre Wärme durch die Räume treibt. Meine Träume und meine Phantasien beschäftigen sich stark mit den Vorstellungen vom Herbste. Ich glaube, die Welt da draußen zu sehen … Bäume, die mit blattlosen Zweigen wie mit schwarzen verbrannten Fingern emporstarren; der Himmel ist weder grau noch blau, er hat keine Farbe und spiegelt sich auch auf der Erde nicht wider. Aber er lagert dicht über dem Boden, von dem übler Dunst ausgeht, wie von etwas Bösem und Garstigem. Der Frost hat sich bereits auf die Kirchenglocken gesetzt, ich kann das hören, denn sie klingen stumpf …

So kann ich viele Stunden sitzen und vor mich hinstarren. Ich habe das Gefühl, als ob ich mich mehr und mehr von den Menschen entferne und in die Unendlichkeit hinaussegle, einem anderen Dasein zu. Vielleicht ist es die Gewißheit, daß mir viele Jahre Gefängnis bevorstehen, die mich oft an die Ewigkeit denken läßt. Ich habe die Vorstellung, daß die Ewigkeit etwas Lichtvolles ist, ein wunderbares und fremdes Licht, das weit hinaus scheint über ein ödes, gewaltiges Meer. – – –

Und ich bin froh in meiner Zelle geworden. Das ist meine Kajüte, in der werde ich auf eine große Reise hinausziehen. Ich habe mich losgesagt von den Menschen; noch tönen Lärm und Stimmen in meinem Bewußtsein wie das sanfte Plätschern der Wellen gegen den Strand, aber ich höre es schon ferner und ferner, und bald werde ich auch auf die Reise gehen, umgeben von Ruhe und Schweigen auf viele Jahre hinaus.

*


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