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Von einem Haken neben der Tür nahm Sigvard seine Mütze, eine runde Winterhaube aus Schafspelz, er wand auch eine wollene Schärpe um den Hals, es war noch Vorfrühling, und an den kalten Flußufern blieb der Frost lange in der Luft hängen. Dann ging er durch die breite Doppeltür hinaus. Die Herbergsmutter Kaisa blieb stehen und sah ihm nach. Eine Weile blieb es still rings um den großen Tisch, man konnte Sigvards Schritte die Holzstufen hinunter hören, die zu einer Brücke führten. Kaisa bog ihren mageren Kopf vor und starrte in die Dunkelheit, sie war wie ein ungeheurer Rabe, der auslugt. Es gab nichts anderes zu sehen, als eine baumelnde angezündete Laterne unten auf der Brücke. Da machte Sigvard das Boot klar. Kaisa schloß die schwere Tür wieder zu.
Während sie noch damit beschäftigt war, kam noch jemand in das Schankzimmer. Es war eine Frau. Sie kam aus dem Treppenhaus, und sie bewegte sich in einer ganz merkwürdigen, lautlosen, gleitenden Art durch das Zimmer. Sie hatte eine Art Filzpantoffeln an den Füßen, so daß ihre Schritte nicht zu hören waren. Ihr Erscheinen erregte keine sonderliche Aufmerksamkeit bei den in der Stube Sitzenden. Nur der Segelmacher sagte halblaut:
»Da kommt Signe von den Schären zurück.«
Dann nickte er ihr zu und grüßte:
»Guten Abend, Signe.«
Sie erwiderte nichts, sie sah ihn nicht einmal an, sie glitt durch das Zimmer zum Fenster hin, wo sie versuchte, durch die Zipfel der gemusterten Gardine irgend etwas dort draußen zu sehen, und obgleich das Fenster hinter der Gardine ganz dunkel lag, starrte sie doch lange in die Finsternis. Über ihrem hoffnungslosen Beginnen lag etwas so Eifriges und Zielbewußtes, als sei sie in einer bestimmten Absicht gekommen, die sie allein anging und niemand anderen. Daß ihr Erscheinen an dieser Stelle nichts Ungewöhnliches war, konnte man an der Gleichgültigkeit der Leute merken. Eher wurde sie mit Abneigung empfangen, insoweit ein verstocktes Schweigen Abneigung ausdrücken kann.
Sie mochte etwa vierzig Jahre alt sein, vielleicht war sie jünger, aber irgend etwas Abgerackertes in Gesicht und Gestalt gab ihr dieses Alter; sie war ziemlich blaß, ihr Haar war glatt von den Schläfen zurückgestrichen und ihre Kleidung sehr ärmlich, die Ärmel zu kurz, so daß die mageren Hände weit hervorragten. Als sie eine Zeitlang durch das schwarze Fensterglas gestarrt hatte, glitt sie wieder in die Stube zurück. Einen Augenblick blieb sie an der Tür zum Flur stehen und stützte das Kinn in die lange Hand, vollständig versunken in Nachdenken, in ein stummes, ratloses Nachdenken, dann ging sie in den dunklen Flur hinaus – dies war Signe, wie der Segelmacher sie genannt hatte –, und sie war Ann-Maris Mutter.
Doch eine Person hatte ihre seltsame Wanderung durch das Schankzimmer mit einer gewissen Aufmerksamkeit verfolgt, das war Kaisa. Aber nicht aus Interesse, sondern mehr aus Ärger. Die alte Hexe stieß hie und da ein verächtliches Schnauben aus, sie bewegte ihren Kopf mit den baumelnden Ohrgehängen im Takt zu Signes Wanderung, wie um zu markieren, wie widerwärtig ihr deren ganze Erscheinung war, und als Signe in den Flur verschwand, schlug die Alte eine harte Lache auf.
Einer der Männer am Tisch bemerkte:
»Es ist sonderbar, daß sie nie etwas redet, dabei geht sie immer herum wie vollgepfropft mit Neuigkeiten.«
Ein anderer erwiderte:
»Das ist, weil sie um diese Jahreszeit immer ihre Ahnungen hat. Sie kommt jetzt sicher wieder von den Schären zurück, wo sie nach Laternenschein auf dem Meer ausgelugt hat. Sie leidet an derselben Krankheit wie die Hexe Kaisa dort drinnen und der Segelmacher – sie hofft noch.«
Ein Dritter wendete ein:
»Aber ich finde mich trotz alledem mit Signe besser zurecht, weil ...«
Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern machte eine bezeichnende Bewegung nach der Stirn.
»Sie ist nicht recht klug, jawohl,« flüsterte der Schuster mit seiner heiseren Stimme. Er fügte hinzu: »Als ob das die Sache besser machte. Man sollte sie hier nicht so herumlaufen lassen, sie hat so etwas Verstimmendes an sich, sie ist wie einer dieser grauen Nebelvögel, die im Herbst draußen auf den Schären sitzen.«
Einer der Ältesten im Kreise, einer, der bisher stumm dagesessen und an seiner Pfeife gekaut hatte, erhob sich jetzt; es war der Lotsenälteste, eine feste, breitschultrige Gestalt, deren sanfte, ganz hellblaue Augen so wundersam kindlich in dem braungebrannten, von einem roten Bart überwucherten Gesicht glänzten. Er war sicher über die Siebzig, aber gesund und knorrig wie ein Eichenstamm. Alle sahen ihn erstaunt an. Man war es nicht gewohnt, Leute aufstehen und wie in einer Versammlung auftreten zu sehen, ein paar der Jüngeren unterdrückten ein Kichern. Der Lotsenälteste stand da und sog an seiner Pfeife; als er die Munterkeit der anderen bemerkte, zuckten ein paar rasche, weiße Blitze durch das Blau seiner Augen, dann begann er leise, so leise, daß er unwillkürlich Aufmerksamkeit erzwang, und alle verstummten und lauschten.
»Du fragtest mich vorhin, Segelmacher, warum ich heute abend so still dasitze und gar nichts rede. Ich dachte nach, denn ich war mit dem Vorsatz hergekommen, ein ernstes Wort mit euch Männern zu sprechen, und ich wußte nicht recht, wie ich die Sache anpacken sollte. Es fällt so schwer, offen von dem zu sprechen, was uns alle im tiefsten Innern bewegt. Aber ich glaube, es tut jetzt not. Ich habe länger hier im Fährdorf gelebt als einer von euch anderen, ich kann mich an den kleinen Ort mehr als ein halbes Jahrhundert erinnern, und ich kann es nicht anders sagen, wir waren damals glücklicher, viel glücklicher, sowohl die, die in den armseligsten kleinen Hütten wohnten, wie jene, die es reichlicher hatten. Damals war hier Zusammenhalt, gute Kameradschaft, alle freuten sich daran, den Ort wachsen zu sehen, auch an der Arbeit selbst hatte man seine Freude. Und damals gab es Barmherzigkeit unter den Menschen. Ich weiß noch, wenn es einem von uns schlecht ging oder wenn das Unglück eine Familie heimsuchte, dann waren alle bereit, zu helfen und zu trösten und es mit tausend Freuden zu tun. Überhaupt hatten alle einen frohen Glauben an die Arbeit und die Zukunft, die Verhältnisse waren freilich äußerst bescheiden, aber da jeder in enger Zusammengehörigkeit mit seinem eigenen Beruf lebte, herrschte durchgehends Zufriedenheit und vor allem ein starker, unerschütterlicher Zukunftsglaube. Ja, ja, dieser felsenfeste Glaube an die Zukunft ... Ist es vielleicht nicht wahr, was ich sage? Die meisten von euch werden sich daran erinnern.«
Alle zögerten mit der Antwort. Sie rückten unruhig auf den Stühlen und starrten da und dort hin, doch keiner sah den anderen an. Aber die allgemeine Verlegenheit löste ein so heftiges Paffen an den Pfeifen aus, daß neue Ströme von gelblich-weißem Rauch sich durch die Luft zu schlängeln begannen, sie bildeten Wellenlinien und mächtige Figuren, zerstreuten sich zu hängenden Schleiern, die unter den Strahlen der Petroleumlampe in vielerlei Farben schillerten.
In diesem Rauchschleier erschien plötzlich Ann-Mari wieder, die Arme voll frischgefüllter Bierkrüge. Vielleicht war es der Schein der verräucherten Luft, der eine ungewöhnliche Farbe über ihr junges Gesicht breitete, eine lodernde Rosafarbe, eine Zornesröte; ihre Augen blickten den Schuhmacher mit jenem offenen, seltsamen Blick an, der gekränkten Kindern eigen ist. Ann-Mari war ja die Tochter der närrischen Signe, und sie hatte durch die offene Tür die bösen Worte des Schusters über ihre Mutter gehört. Der Schuhmacher merkte den Vorwurf, aber er brummte nur: »Na, Kleine? Was willst du denn?« und wandte sich ab. Ann-Mari ging mit den leeren Krügen hinaus.
Man konnte sehen, daß der Lotsenälteste kämpfte, um seine Ruhe zu bewahren. Er trank den großen Krug nachdenklich halb leer, und dann fuhr er in demselben langsamen Tempo wie früher fort:
»Dann kam der Plan mit der ›Glücksprobe‹, der Brigg, die flotter sein sollte als irgendein anderes Schiff an der Küste. Vielleicht liegt eine Vermessenheit in einem solchen Gedanken, aber daß dieses herrliche Schiff von den Leuten rings um das Fährhaus gebaut und bemannt wurde und von keinen anderen, das war doch jedenfalls ein Zeichen des Zusammenhaltes und des Geistes, der unter uns herrschte. Jeder von uns brachte sein Bestes dar. Der Segelmacher dort drüben denkt heute noch an das feine Takelwerk, und auch der Zimmermann, der Schmied, der Schiffsbauer und all die anderen können ihre Arbeit nicht vergessen. Wir steckten alles in die Brigg, unsere Arbeit und alle unsere Sparpfennige. Und noch mehr, wir gaben unsere beste Jugend an Bord. Als dann das Schiff an jenem Tage vor zwanzig Jahren aus dem Sunde fuhr, da segelte es mit unserem Glauben an Bord. All unsere Hoffnung blieb zurück. Das Schiff kam nie wieder, wir sollten es nicht mehr sehen. Das letzte, was wir von ihm sahen, waren die Wimpel am Horizont, und dann nichts mehr. Aber die Hoffnung blieb zurück. Und diese Hoffnung und unsere Träume von dem verschwundenen Schiff haben uns allen hier den Mut genommen, und im Laufe dieser zwanzig Jahre haben sie Elend über den ganzen Ort gebracht. Ja, so ist es, Kameraden, der Mut ist euch gebrochen – ihr habt alles hingegeben und immer gewartet, daß ihr es zurückbekommt. Aber in dieser Sehnsucht kann keine Arbeitsfreude aufkommen. Mißmut, Bosheit, Armut und Mutlosigkeit schlagen über uns zusammen. Wenn wir nicht alle diese Hoffnung fahren lassen, gehen wir alle zugrunde. Wir müßten nur einmal mit uns selbst und unserem Herrgott einig werden, daß es nichts mehr zu hoffen, nichts mehr zu träumen gibt. Und dann müssen wir die Vergangenheit liegen lassen, diese Vergangenheit, die wie ein Alp über uns hängt, die müssen wir lassen, und uns dann entschließen, mit neuem Mut an der Zukunft zu arbeiten.«
Er wurde von einem Schrei unterbrochen, einem heiseren, beinahe brüllenden Schrei, das war die alte Kaisa, die in die Schankstube gekommen war und nun mit gekrümmten Fingern vor ihm stand. Es war förmlich, als ginge ein Frostschauer des Hasses durch den Raum. Das närrische Mädchen hatte sich stumm und böse starrend auf der Schwelle niedergesetzt. In den Tabakswolken glich sie wirklich einem jener seltsamen, grauweißen Nebelvögel weit draußen auf den Schären.
»Du hast uns gar nichts zu sagen!« zischte die Schankwirtin wütend. »Was hast du zum Schiff beigesteuert? Nichts! Aber wir haben unsere Söhne gegeben. Tobias und Elias und der Schmied und andere haben ihre Söhne gegeben. Auch ich habe meinen einzigen Sohn gegeben. Achtzehn Jahre war er damals, der jüngste Jungmann auf der ›Glücksprobe‹. Wenn er wiederkommt, dann soll er sein eigenes Schiff haben, eine neue stolze Brigg, noch schmucker als die ›Glücksprobe‹. Du darfst uns nicht die Hoffnung nehmen, Lotsenältester, dazu hast du kein Recht. Hörst du?«
Sie ging dicht an ihn heran. Es war, als wollte sie ihn mit ihren Zigeunerkrallen an der Kehle packen. Der Lotsenälteste wich zurück, nun hatte ihn die Beherrschung verlassen:
»Verdammte Hexe!« rief er. »Hier draußen trägst du mehr als irgendein anderer dazu bei, das Elend durch deine Hirngespinste und deinen Branntwein noch zu vergrößern.«
In diesem Augenblick wurde die Haustür aufgerissen, und in schweren Wasserstiefeln kam der Herbergsvater Johannes herein. Er blieb stehen und warf einen prüfenden Blick über die Stube.
»Na, ist es schon wieder so weit?« murmelte er. Laut fragte er über die Köpfe der Leute:
»Ich höre die Fähre über den Fluß kommen, wer ist ausgefahren?«
»Sigvard«, antwortete jemand. »Man hat vom andern Ufer gerufen.«
»Wer kann so spät kommen?« wunderte sich der Fährmann. Der Lotsenälteste sah sich um:
»Wer fehlt heute abend hier? Der alte Gottfried?«
»Der kann es nicht sein. Der liegt da und kämpft mit dem Tode, hieß es heute mittag.«
»Dann vielleicht der neue Pfarrer?«
»Auch nicht, der wird wohl bei Gottfried sein.«
»Es kann auch ein Fremder sein«, sagte der Lotsenälteste.
Die alte Schlaguhr begann zum Schlage auszuholen, ein langes, heiseres Röcheln, dann kamen die Schläge, eintönig und melodisch, wie die alte Uhr den Menschen nun durch mehr als zwanzig Jahre die Zeit verkündet hatte.