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Der Fremde stützte den Kopf in die Hand und beschattete die Augen mit der Handfläche, so als ob das Licht der Paraffinlampe ihn belästigte.
»Haben Sie schlechte Augen?« fragte der Lotsenälteste.
»Ja,« sagte der Fremde. »Ich habe mir einmal die Augen in einem japanischen Gaswerk verdorben. Aber mit dieser starken Brille sehe ich doch so halbwegs. Nur kann ich grelles Licht nicht vertragen, ich gehe womöglich nicht bei Tag aus, und ich wohne gern in solch alten, dunklen Gasthäusern wie diesem.«
Oben konnte man Johannes und die Fährwirtin hin und her gehen hören. Sie waren damit beschäftigt, das Zimmer des Reisenden instand zu setzen. Hie und da hielten die Schritte inne, und es wurde dort oben ruhig, so als ob das Ehepaar beisammen stünde und in der Stille irgend etwas überlegte. Der Lotsenälteste und der Fremde horchten unwillkürlich auf, vielleicht auch weil sie nichts Rechtes miteinander zu sprechen hatten. Der Lotsenälteste wollte ungern gehen, etwas Unfaßbares hielt ihn zurück, ein seltsames Interesse für den Fremden; er versuchte sich ein Bild von seinen Gesichtszügen zu machen, aber es war ihm gleichsam unmöglich, etwas anderes zu erfassen, als daß es ein mageres, blasses Antlitz war. Irgendwie blieb es im verborgenen. Der Bart verdeckte etwas, die Brillen verdeckten etwas – und dann diese Hand, diese flache Hand, die freilich vor dem Lampenlicht schützen sollte, aber die auch das Gesicht verbarg. Der Fremde schien das Schweigen plötzlich peinlich zu empfinden, er kehrte zu seinem früheren Thema zurück.
»In einem alten Hause wie diesem, ja,« murmelte er, »habe ich mich viele Jahre gesehnt zu wohnen. So dunkel und still, die Wände aus dicken Eichenplanken, durch die Lärm und Stimmen nicht dringen können, jedes Zimmer wie eine abgesonderte Welt für sich. Und dann der ewig strömende Fluß vor den Fenstern, ist das nicht, als ob die Zeit selbst in erbarmungsloser Unabwendbarkeit vorbeiglitte – eigentlich bin ich viele Jahre auf der Wanderschaft gewesen, um ein solches Haus zu finden.«
»Bleiben Sie lange hier?« fragte der Lotsenälteste.
»Nein, nein«, erwiderte der Fremde beinahe erschrocken. »Nicht lange, meine Natur ist nicht so beschaffen. Ich kann nicht lange an einem Orte sein.«
»Vielleicht veranlaßt Sie Ihr Beruf, immer neue Orte aufzusuchen?«
»Mein Beruf, tja ... das kann man vielleicht sagen, ich erfülle meine Bestimmung, und insofern ist es mein Beruf.«
»Sie sind wohl viel in der Welt herumgekommen?«
»Viel, unermeßlich viel.«
»Kommen Sie jetzt aus Amerika?«
»Ich komme aus England. Ich komme aus einem kleinen englischen Dörfchen, das Coltherge heißt, haben Sie davon gehört? Ach nein, das werden Sie wohl nicht. Es ist ein ganz kleines Dörfchen. Äußerst selten kommt ein Fremder hin. Es liegt ganz abgesondert an einem Flüßchen, das sich in langsamen Windungen dahinschlängelt – ah, diese englischen Flußufer mit ihren Eichen und den einsamen Fischern in der Dämmerung, das ist eine Welt für unglückliche Menschen.«
»Ungefähr so wie dieser Ort hier?«
»Ja«, antwortete der Fremde mit plötzlicher Hast in der Stimme. »Vielleicht wie dieser Ort hier.«
»Wenn Sie sich hier niederlassen,« sagte der Lotsenälteste sanft, »dann werden Sie nicht der einzige Unglückliche hier sein.«
»Ich konnte nicht umhin, ein bißchen von den Reden der Leute heute abend hier aufzuschnappen«, sagte der Fremde. »Hat man denn gar nichts mehr von dem Schiff gehört, das vor so vielen Jahren verschwunden ist?«
»Nichts.«
»Nicht einmal eine Nachricht, daß es gestrandet oder gesunken ist?«
»Nein, nichts. An jenem Morgen vor zwanzig Jahren standen wir alle miteinander draußen auf den Schären und sahen die Brigg mit vollen Segeln auslaufen. Sie können mir glauben, es war ein stolzer Anblick, der unsere Herzen höher schlagen ließ. Niemand hat ihn seither vergessen können. Dieses schöne Bild lebt unauslöschlich in unserer Erinnerung, und es ist den Menschen zum Fluch geworden. Das letzte, was wir von dem Schiff sahen, als es draußen am Horizont verschwand, waren die Mastspitzen und die Wimpel – seltsam, nicht wahr? Es war förmlich, als segelte es mit einem Male spurlos in die Ewigkeit hinein. Und das ist es gerade, was die Gedanken der Überlebenden behext hat: daß keiner das Schiff mehr gesehen hat, keiner in der ganzen weiten Welt mit ihren langen Küsten und ihren Tausenden von Inseln und zahllosen Schiffen. Die Menschen hier grübeln und grübeln und können sich nicht von dem Gedanken befreien, daß das Schiff irgendwo unter geheimnisvollen Himmelsstrichen dahinzieht, in einer Art Verwunschenheit, von der es aber einmal erlöst werden wird, um heimzukehren.«
»Die Weltmeere sind unermeßlich groß«, meinte der Fremde. »Es ist gar nicht so verwunderlich, daß ein Schiff verschwindet. Die meisten hier hatten wohl Angehörige an Bord?«
»Die meisten. Ja. Und fast lauter Jugend. Man hat nie eine so wunderbare Besatzung an Bord eines Schiffes gesehen: alle, vom Kapitän bis zum kleinsten Matrosenjungen, waren von glühender Begeisterung für das Schiff erfüllt und empfanden es als einen Teil ihres Eigentums. Und das war es ja auch.«
»Hatten auch die Fährleute hier jemanden an Bord?« fragte der Fremde zögernd.
»Einen Jungen, den einzigen Sohn. Er war damals wohl etwa achtzehn Jahre.«
Sie saßen eine Weile schweigend da. Die Stille wurde nur von den Schritten dort oben auf den Planken unterbrochen. Dann fuhr der Lotsenälteste leise fort:
»Es ist ein Teil des Fluches, der auf diesem Orte ruht, daß er den Sinn der Menschen hier ganz verändert hat. Früher einmal waren die Fährleute arbeitsame, brave Menschen, umgängliche, friedfertige Leute. Mit den Jahren sind sie immer eigentümlicher geworden. Jetzt nennen wir alle die Fährwirtin nur die Hexe Kaisa, vielleicht kommt es daher, daß Zigeunerblut in ihr ist. Sie kann den Gedanken nicht fahren lassen, daß der Sohn einmal zurückkommen wird, im Gegenteil, der Gedanke hat nur immer tiefer und tiefer in ihrem Sinn Wurzel geschlagen. Ihr einziges Sinnen und Trachten ist jetzt, so viel Geld zusammenzuscharren, daß sie dem Sohne, der als jüngster Jungmann ausfuhr, ein neues Schiff geben kann, wenn er wiederkehrt. Überall im Fährdorf herrscht jetzt nur Armut und Elend, das Gasthaus hier verschlingt den ganzen Verdienst der Leute, fragen Sie nur all die armen blassen Frauen, was sie von der Hexe Kaisa halten. Aber es ist so, als könnte sie einfach nie genug bekommen, das ist bei ihr eine Art Wahnsinn geworden, der Fluch des Wahnsinns – das Schiff, das sie dem heimkehrenden Sohne bauen will, wird in ihrer Phantasie immer größer und prächtiger. Weiß Gott, was sie sich unter einem Schiffe vorstellt, aber jetzt fabelt sie jedenfalls von einem Fahrzeug mit vergoldeten Mastspitzen. Ich weiß jedenfalls, daß es traurig wäre, an Bord eines Schiffes zu gehen, das für solches Geld gebaut ist. Frau Sorge wird auf den vergoldeten Mastspitzen hocken und weinen.«
»Aber das junge Mädchen, das vorhin da war, wer ist die?«
»Das ist Ann-Mari«, erwiderte der Lotsenälteste mit merklicher Wärme in der Stimme, »ihre Enkelin. Das ist der Sonnenstrahl in der Fähre. Es ist erstaunlich, daß ein solches Kind in dieser Nacht des Hasses und des Elends aufwachsen konnte.«
Plötzlich wurde der Lotsenälteste auf eine Bewegung des anderen aufmerksam.
»Aber Sie zittern ja«, sagte er. »Sie frieren. Sie müssen auch müde sein. Warum gehen Sie nicht hinauf und legen sich schlafen?«
»Wenn ich so recht müde bin,« meinte der Fremde, »habe ich Angst vor dem Schlaf. Die Träume sind ja unser zweites Leben, niemand kann im vorhinein wissen, was ihm da begegnen wird. Das junge Mädchen«, fuhr er fort, »ist also die Tochter des Sohnes, der verschwunden ist?«
»Ja.«
»Und ihre Mutter?«
»Sie waren nicht verheiratet. Sie kamen nicht dazu, bevor er abreiste, das Mädel war ein armes Ding aus dem Fischerdorf, und vielleicht hatte der Sohn auch Angst, seiner strengen Mutter von dem Verhältnis zu erzählen. So kam denn das Unglück, nachdem das Schiff verschwunden war. Sie wissen, solche Dinge werden in abgelegenen Orten strenger beurteilt als anderswo in der Welt. Es ist wirklich ein Unglück und eine große Schande.«
»Aber die Mutter?«
»Das ist Signe. Wir nennen sie hier die ›Hellsichtige‹, man behauptet, sie kann Dinge sehen, die sonst kein menschliches Auge erblickt. Aber das ist bei ihr wohl nur so eine Art Verrücktheit. Das Unglück und die Sehnsucht nach dem verschwundenen Geliebten haben dem armen Ding den Kopf verdreht. Sie ist nicht eigentlich menschenscheu, sie mischt sich unter uns andere, aber es ist doch so, als ob sie in einer unermeßlichen Einsamkeit lebe. Sie geht immerzu herum und sucht, in ihren Augen liegt beständig etwas eigentümlich Suchendes und Starrendes, so daß man ihr am liebsten aus dem Wege geht. Oft steht sie ganz weit draußen auf den Schären und sieht über das Meer hin, als ob sie erwartete, daß sie wieder am Horizont auftauchen, die Mastspitzen und die Wimpel. Heute den ganzen Tag hat sie unter einer furchtbaren Unruhe gelitten, hin und her, aus und ein, aber man läßt sie gewähren, denn sie ist ja nicht ganz richtig im Kopf. Sturm und Wind, Sonne oder Regen, das ist ihr ganz einerlei. Vor einer Stunde kam sie aus den Schären zurück, ganz verstört, stumm, gejagt, zitternd. Jetzt ist sie sicher wieder hingegangen. Wissen Sie, daß sie die Letzte ist, die etwas von dem Schiff gehört hat ... das heißt,« fuhr der Lotsenälteste flüsternd fort, »damit ist es nicht so ganz geheuer. Sie ist eben hellsichtig. Sie hat Stimmen vom Schiff gehört.«
»Was waren das für Stimmen?«
»Ja, Stimmen, die melden sollten, daß das Schiff in Gefahr war. Es war eine Sturmnacht, das ist nun so manches liebe Jahr her. Wir saßen unser viele um den Tisch hier, akkurat wie heute. Da kam sie hereingestürzt und rief:
›Nun habe ich es gehört! Die Stimmen vom Schiff! Es geht unter!‹«
Der Fremde schlug den Pelzkragen bis über die Ohren auf. Es begann wirklich kalt zu werden, nächtlich kalt. Die Holzklötze im Kamin glühten nur und rauchten.
»Und wie stellten sich die Leute hier dazu?« fragte der Fremde.
»Sie gaben gar keine Antwort. Sahen sie nur an und schwiegen. Dann fing einer zu lachen an. Dann lachten wohl die meisten mit. Aber es war ein unheimliches, gekünsteltes Lachen.«
Der Fremde erhob sich plötzlich. Die Schritte kamen die Treppe hinunter. Bald darauf erschien Johannes mit einer brennenden Kerze in der Hand. Die Fährwirtin hatte sich vor dem Fremden noch nicht gezeigt, sie war in die dunkle Küche gegangen.
»Ihr Zimmer ist bereit,« sagte Johannes, »soll ich Sie hinauf begleiten?«
»Ist nicht notwendig«, sagte der Fremde und nahm ihm die Kerze aus der Hand. »Ich finde schon selbst.«
Draußen im Stiegenhaus hob er die brennende Kerze hoch über seinen Kopf und rief in die stockfinstere Küche:
»Hallo, ist niemand da? Mir scheint, ich höre jemanden hier?«
Aber da er keine Antwort bekam, ging er weiter, die Stiege hinauf, die unter seinen Schritten knarrte.