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Nach den ersten Gläsern wurde der Lotsenälteste mitteilsamer. Aber er sprach anfangs so rätselhaft und unverständlich, daß der Segelmacher ihn ernstlich für betrunken hielt. Und da der Segelmacher meinte, daß er hinter dem andern nicht zurückzustehen brauchte, fing ein eifriges Nippen an den Gläsern an.
»Das war schön von dir, daß du aufgestanden bist«, sagte der Lotsenälteste. »Das werde ich dir nie vergessen, prost! Ich mochte nicht länger allein daheim bleiben. Ich mußte mit jemandem reden. Du weißt, ich bin sonst so gerne in meinem kleinen Heim. Ich kann es mir so recht gemütlich machen mit meiner Pfeife – und mit einem ganz winzig kleinen Gläschen.«
Er maß die Größe des Glases zwischen zwei Fingern, und dieses Maß schien unwahrscheinlich klein für den schwer angeheiterten Mann.
»Mir fehlt es nie an Gesellschaft,« fuhr er fort, »meistens habe ich an mir selbst genug. Ich habe an soviel zurückzudenken, an all meine Erlebnisse in der Jugendzeit. Ich habe ein schönes Stück Welt gesehen.«
»Das hast du«, sagte der Segelmacher, der die Natur hatte, es mit allen zu halten. Er merkte, daß der Lotsenälteste aus einem bestimmten Grunde gekommen war und sich jetzt nicht entschließen konnte anzufangen – wie es die Art der Menschen hier war.
Der Lotsenälteste stieß mit ihm an und trank, dann blieb er eine Weile sitzen und betrachtete das leere Glas in seiner Hand. Endlich sagte er:
»Aber das Allermerkwürdigste habe ich doch heute abend in meiner Stube erlebt.«
»Etwas Unangenehmes?« fragte der Segelmacher mit so schneidend falschem Mitgefühl, daß es sich anhörte, als wollte er eigentlich sagen: es wird sich doch nicht so verflucht glücklich fügen, daß ihm ein Malheur zugestoßen ist?
Der Lotsenälteste hob warnend die Hand:
»Noch habe ich nichts gesagt. Merke wohl! Noch kann niemand von mir behaupten, daß ich mein Wort gebrochen habe. Aber die Last wird mir vielleicht doch zu schwer. Ich hätte ihm nicht versprechen sollen zu schweigen. Aber anfangs habe ich nicht darüber nachgedacht. Ich war zu überwältigt von diesem merkwürdigen Ereignis, von diesem Besuch. Aber wie ich nur wieder allein war, begann es mir aufzudämmern, wie schwer es für einen Menschen ist, ein solches Geheimnis für sich zu behalten. Da war auch vieles, das ich nicht verstand. Ich sagte zu mir selbst: Darüber kannst du nachdenken, wenn du im Bett liegst. Begib dich nun zur Ruhe! Aber ich hatte eine Art Fieber im Blut. Es war mir unmöglich, zur Ruhe zu gehen. Und das Schlimmste war, daß mir das Alleinsein unbehaglich zu werden anfing. Das ist doch zum Lachen – haha! Das ist mir nicht vorgekommen, seit ich ein kleines Kind war und erschreckt wurde. Ich bin eigentlich nie darauf gekommen, womit ich erschreckt worden bin, aber heute abend erinnerte ich mich so deutlich daran. Dieselbe Angst kam wieder über mich alten Mann. Aber auch heute abend konnte ich nicht verstehen, woher das Unheimliche kam.«
»Es wird die Unruhe von der See sein«, sagte der Segelmacher. »Manchmal kann auch über mich so etwas kommen.«
»Nein, das ist nicht die Unruhe von der See. So etwas spüre ich immer ganz anders. Wie oft habe ich in Unwetternächten am Fenster gestanden und auf Trauerkunde vom Meer gewartet, aber das war immer ein ganz anderes Gefühl. Heute abend hatte ich auch die Vorahnung eines Unglücks, aber eines Unglücks, das näher war. Das gewissermaßen in meiner eigenen Stube daheim war. Vielleicht hat es etwas mit der Luft zu tun gehabt. Es ist eine wunderlich drückende Luft heute abend, findest du nicht, Segelmacher, die Sterne verschwinden einer nach dem andern, und der Himmel im Osten ist schon ganz schwarz. Und außerdem ist ein so wunderbarer Geruch in der Luft, jedenfalls spürte ich es so in meiner Stube, ein Geruch wie von fauligem Kielwasser. Sieh doch nach, wie das Wetter ist, Segelmacher.«
»Ja, ja«, flüsterte der Segelmacher, ganz verwirrt von den ungewöhnlichen Worten des Lotsenältesten, und schleppte sich zwischen Segeln und Tauenden zum Fenster, um einen Spalt zu öffnen. Sein Räuspern und seine schleichenden Schritte machten den Eindruck, als wäre er auf dem Wege, sich auf seinem eigenen Dachboden zu erhängen.
»Es trübt sich,« meldete er heiser vom Fenster her, »wir bekommen morgen früh Unwetter, aber noch ist es still.«
Der Segelmacher kehrte auf seinen Platz zurück. Der Lotsenälteste hatte ihn sehr neugierig gemacht. Aber seine Neugierde hatte auch einen Anstrich von Schadenfreude, teils, weil der Lotsenälteste zuviel getrunken hatte, und teils, weil er so wirr herumredete – der Lotsenälteste, der sonst einen so überlegenen Ton anschlug, er war ja die höchste Instanz an diesem Orte.
Auch jetzt vergaß der Lotsenälteste nicht die Würde zu wahren, die seinem Alter und seiner Weisheit anstand. Schon die Haltung der beiden Männer brachte dies zum Ausdruck: der Lotsenälteste saß hochaufgerichtet, gleichsam auf einem höheren Sitz, während der Segelmacher mit krummem Rücken über den Tisch vorgebeugt dahockte.
»Ja, bald bekommen wir ein Unwetter,« sagte der Lotsenälteste abschließend, »solch ein Unwetter, wie es in den Tropen häufig ist, aber wie es auch manchmal hier oben in unseren Breitengraden vorkommen kann.«
Er wischte sich die schweißfeuchte Stirn mit dem Taschentuch.
»Das legt sich wie eine furchtbare Last auf das Gemüt,« fuhr er fort, »verflucht, daß das gerade heute nacht kommen mußte.«
In die Augen des Lotsenältesten war plötzlich ein hilfloser, verwirrter Ausdruck gekommen, der nicht vom Trinken allein herrührte.
»Als ich drüben in meiner Stube saß,« sagte er, »mußte ich an die alten Geschichten von der See denken. Wir zwei kennen die See einigermaßen, was, Segelmacher, aber was wissen die Landkrabben von dem Leben der Meere und der Schiffe. Sie machen große Reisen, um Wüsten und Bergketten zu erforschen, sie schreiben dicke Bücher mit Berichten über fremde Völkerschaften, aber die See, die kennen sie nicht. Was wissen sie von dem Nebelleben auf der Doggerbank oder von der furchtbaren Seelenangst, die sich vor einem Tropensturm über das Meer ausbreitet? Oder von all den Signalen? Den Signalen, die auf irgendeine unergründliche Weise von Schiff zu Schiff gehen? Was wissen sie von diesen geheimnisvollen Besuchen, die die Schiffer auf dem Meere bekommen? Diesen Besuchen, von denen wir Seeleute nicht gerne sprechen, wenn wir auf festem Land sind, weil sie hier gleichsam so abenteuerlich und lügnerisch klingen, aber die draußen auf der See mit zur Ordnung der Natur gehören. Obgleich –«
Er sah sich um.
»Obgleich es hier drinnen auch wie auf der See ist. Dein Dachboden erinnert an ein Wrack, das verlassen ist. Solch ein sturmgepeitschtes Wrack mit herabhängenden Segelfetzen, wie es einem in einer Mondscheinnacht auf dem Meere begegnen kann, das liegt akkurat so still wie die Werkstatt hier. Alle Seeleute fürchten sich vor solchen Wracks und weichen ihnen im Bogen aus, um nur nicht das Verdeck mit den gebrochenen Masten sehen zu müssen. Hier drinnen leben unsere alten Geschichten wieder auf. Akkurat so war es auch heute abend bei mir. Das machte dieser verdammte Geruch von fauligem Meerwasser.«
Er sah zum Segelmacher hinüber, der nur nickte. Der Segelmacher spürte immer Freudenschauer, wenn von den mystischen Ereignissen auf dem Meer die Rede war.
»Erinnerst du dich noch«, fuhr der Lotsenälteste fort, »an den Steuermann auf der ›Elida‹, der mitten auf dem Atlantischen Ozean einen fremden Mann in der Kajüte des Kapitäns sah? Er stürzte auf das Verdeck, um den Kapitän zu holen, und als sie wieder in die Kajüte hinunterkamen, war niemand da, aber sie sahen, daß jemand einen neuen Kurs auf der Karte eingezeichnet hatte. Ja, du erinnerst dich an diese Geschichte, wie ich sehe. Der Mann kam von einem Schiff in Seenot, viele Meilen weit weg. Und noch lange nachdem er unten in der Kajüte gewesen war, hing dieser scharfe Geruch an den Kajütenwänden. Viele solche Erinnerungen kamen heute abend über mich. Höre nun –«
Er lehnte sich über den Tisch vor und legte seine Hand vertraulich auf die des Segelmachers.
»Ich hatte heute abend den Besuch eines Mannes,« sagte er, »der mir ein Geheimnis anvertraute. Aber nachdem er fort war, fühlte ich ganz deutlich, daß auch andere zu Besuch in meiner Stube weilten, aber andere, die ich nicht sehen konnte, so wie es nachts auf der See vorkommen kann. Sie kamen erst, nachdem er fort war. Und ich hatte vergessen, ihn zu fragen, wie viele tot waren und wie viele noch am Leben.«
»Um Himmels willen, wovon redest du eigentlich?« fragte der Segelmacher.
»Von den Toten. Ich kann ja nicht wissen, wie viele tot sind. Davon hat er nichts gesagt.«
»Welche Toten meinst du?«
»Die von der ›Glücksprobe‹.«
Der Segelmacher fuhr zusammen. War der Lotsenälteste übergeschnappt? Wäre es nicht am besten, die Alte zu wecken?
Der Lotsenälteste sagte leise und ernst, so ernst, daß seine Stimme zitterte:
»So sollte sich am zwanzigsten Jahrestag doch etwas begeben.«
»Aber was hat sich denn begeben, Lotsenältester?«
»Ja, was hat sich begeben? Was hat sich ereignet?«
Der Lotsenälteste sprach nun halb zu sich selbst und strich sich gedankenvoll den Bart:
»Ich habe keinen Eid geschworen«, sagte er. »Ich bin nicht meineidig. Ich habe ihm mein Versprechen gegeben. Aber er hat mir keinen Schwur abgenommen.«
Plötzlich rief er laut:
»Er ist zurückgekommen! Einer von ihnen ist zurückgekommen.«
*
Der Segelmacher sah ihn erschrocken an, aber von dem Lotsenältesten ging ein so eindringlicher Ernst aus, daß der Segelmacher unwillkürlich unter seinen Bann geriet. Der Lotsenälteste fuhr fort:
»Ich hatte heute abend den Besuch von Andreas von der ›Glücksprobe‹.«
Als der alte Segelmacher diesen Namen hörte, begann er zu zittern.
»Gestern ... das Wirtshaus«, murmelte er, aber er beendete den Satz nicht. Sein Blick sprach deutlich genug. Gestern im Wirtshaus hatte doch gerade der Lotsenälteste alle davor gewarnt, noch weiter an die alte Brigg zu denken. Er hatte den Fluch an die Wand gemalt. Und nun ... so stand es im offenen Blick des Segelmachers zu lesen ... nun hatte sich der Lotsenälteste selbst im Netz des Fluchs verstrickt.
»Von diesem Schiffe kommen wir nie los, Lotsenältester«, flüsterte der Segelmacher. »Wir können dagegen ankämpfen soviel wir wollen, wir werden nie damit fertig.«
Der Lotsenälteste stand auf. Er wankte, und der Segelmacher eilte herbei, um ihn mit seiner schiefen Schulter zu stützen.
»Das ist eine häßliche, drückende Luft hier«, sagte der Lotsenälteste. »Das Atmen fällt mir schwer.«
Um den Hals hatte er ein wollenes Tuch, das er löste. Er ging mühsam zu dem kleinen Fenster hin und riß es auf. Dann sah er hinaus. »Wie ich es mir gedacht habe. Der Himmel ist so dick wie ein Polster.«
Er suchte die Dunkelheit mit seinen scharfen Lotsenaugen zu durchdringen.
»Mir scheint, dort drüben am andern Flußufer bewegt sich etwas. Ist das nicht ein Boot drüben im Schilf?«
Der Segelmacher konnte nichts sehen.
»Ich habe bessere Augen als du,« sagte der Lotse, »vielleicht ist wer da, vielleicht auch nicht. Möglicherweise ist jemand von den anderen gekommen. Mach das Fenster zu!«
Der Segelmacher führte ihn an den Tisch zurück und bemühte sich eifrig um ihn, um ihn zu beruhigen. Dann wischte er den Holzsessel mit dem Rockärmel ab. Aber der Lotsenälteste wollte sich nicht mehr setzen.
»Wir müssen jetzt gehen«, sagte er,
»Ich auch?«
»Ja, du auch. Ich will dich mithaben. Darum bin ich hergekommen.«
»Wo sollen wir hin?«
»Ins Wirtshaus.«
»Zu der alten Hexe? So spät! Sie wird schon zugesperrt haben.«
»Macht nichts. Man wird uns schon aufmachen. Ich muß mit Andreas reden.«
»Andreas!« Dem alten Segelmacher gab es wieder einen Ruck, und er drehte langsam den Kopf über die Schulter zurück, als ob er fürchtete, ein Gespenst aus der Dunkelheit hervortreten zu sehen. Er beeilte sich, die Gläser zu füllen, und trank hastig.
»Andreas ist gekommen. Hast du nicht verstanden?« rief der Lotsenälteste unwirsch. »Ich wollte ihm ja mein Wort halten. Aber dann kam diese furchtbare Ahnung über mich, daß noch andere Gäste in der Stube sein könnten. Die ganze Luft war von Hast und Ungeduld erfüllt. Und diese Ungeduld drang mir ins Herz und setzte sich hier fest.«
Er zog den Rock über der Brust zusammen.
»Und dann kam es mir zum Bewußtsein, daß ich auch gegen die anderen Pflichten habe. Ich hörte jemanden rufen. Wir Seeleute hören oft einen solchen Ruf ohne Worte.«
»Aber wann ist er denn gekommen, dieser Andreas?«
Der Lotsenälteste lächelte ungeduldig über die Begriffsstutzigkeit des anderen.
»Du hast ihn ja selber gesehen«, sagte er. »Er kam gestern abend. Der fremde Mann in dem großen Mantel.«
Der Segelmacher riß die Augen auf. Zum erstenmal wurde es ihm klar, daß, was der Lotsenälteste da sprach, nicht einfach das leere Gerede eines Trunkenen war. Immerhin blieb der Segelmacher noch von Zweifeln erfüllt. Aber er war glücklich in seinem Zweifel. Innerhalb der Grenzen der Möglichkeit war eine große Freude aufgetaucht. Aber durfte er es wagen, an diese Freude zu glauben?
»Nein, der war es?« sagte er langsam und staunend.
»Das war Andreas. Er kam mir gleich so sonderbar vor, so bekannt. Und als er heute abend zu mir hereintrat und mir erzählte, wer er ist, erkannte ich ihn gleich. Fandest du nicht auch, daß er etwas Merkwürdiges an sich hatte, wie er dort drüben im Wirtshaus saß?«
Der Segelmacher, der die Hoffnung nie ganz aufgegeben hatte und oft grübelnd über seiner Arbeit gesessen hatte: Kommt keiner zurück ... sollen wir nie mehr etwas hören ... der Segelmacher gab zur Antwort:
»Doch, ich finde auch, daß er aussah, als brächte er eine Botschaft.«
Und nun wurde auch der Segelmacher von Unruhe gepackt, sie einigten sich darüber, durch den rückwärtigen Ausgang zu gehen, um die Frau des Segelmachers nicht zu wecken. Als sie draußen auf dem Hofe standen, hörten sie hoch oben vom Bergrücken Harmonikatöne. Sie entfernten sich und kamen näher, das war die Jugend, die an Wald und Bergen vorbei über offene Fluren heimwärts zog.