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Wenn Harald Vik sich über die Balustrade lehnte, die das Dach umgab, konnte er in die höchstgelegenen Zellen hineinblicken. Da entdeckte er die Gefangenen, die in dem kleinen Raum hin und her schritten und dann und wann ans vergitterte Fenster traten; aber nur ein .Stückchen Himmel sehen konnten, wenn sie das Gesicht an die Scheibe preßten.
Der Flüchtling mußte jedoch vorsichtig sein; denn gar zu leicht hätte er beobachtet werden können.
Solange es noch hell war, verbarg er sich hinter den Ruinen des alten Wachtturmes. Von hier aus hatte er eine großartige Aussicht über Stadt und Hafen, und hier hatte er nicht zu befürchten, gesehen zu werden.
Er entdeckte hier einen neuen unbenutzten Schornstein, von welchem er annahm, daß er nicht in die eigentlichen Gefangenenabteilungen hinabführte. Wenn die Uhr zwölf schlüge und die letzte Runde vorbei war, wollte er es versuchen, durch diesen Schornstein in das Innere des Gebäudes zu gelangen. Mochte kommen, was da wollte. Er mußte sich Nahrung verschaffen, wollte er nicht Hungers sterben.
Die Sonne ging unter. Es begann hier oben im Freien kälter zu werden, eine schwache Dämmerung verwischte die Konturen in der Ferne.
Der Flüchtling beugt sich vorsichtig über eine der Schießscharten hinaus und sieht hinab in den Gefängnishof, wo gerade die Gefangenen nach der ›Abendpromenade‹ wieder hineingeführt werden. Sie gehen langsam in ungeheuer langen Reihen. Keiner spricht zum andern; die meisten blicken auf ihre großen Holzschuhe hinab, die gegen die Steine klappern. Auf kleinen Erhöhungen stehen Aufseher, die für Ordnung sorgen und darauf achten, daß die Vorschriften innegehalten werden. Der Einmarsch dauerte eine halbe Stunde; erst dann ist die ungeheure Anzahl der Gefangenen wieder im Gefängnis verteilt. Jeder befindet sich in seiner Zelle. Der Anblick dieses großen Heeres Unglücklicher machte auf den jungen Norweger einen starken Eindruck. Langsam glitten seine Augen über das nächstliegende Gefängnisgebäude. Jedes einzelne Stockwerk barg Hunderte von Gefangenen. Und es waren viele Stockwerke. Harald Vik zählte: acht – zehn – zwölf –. Beugte er sich noch ein wenig weiter über die Balustrade, konnte er in die Zellen hineinsehen.
Plötzlich schrak er zusammen; größtes Entsetzen erfaßte ihn und ließ ihn schaudern.
Dort – hinter einem der nächsten Gitterfenster entdeckte er ein Gesicht, das ihn anstarrte.
Schnell zog sich Harald Vik zurück. Es war jedoch zu spät; denn das Gesicht hinter dem Gitter hatte ihn schon lange beobachtet. Der Flüchtling erinnerte sich nicht, jemals ein so sonderbares, ausdrucksloses und doch hartes Gesicht gesehen zu haben.
Wer mochte das sein? Selbstverständlich ein Gefangener. Eine tiefe Traurigkeit bemächtigte sich seiner. Er kannte das Streben der Gefangenen, sich während ihrer Gefangenschaft Vorteile zu verschaffen; und er wußte, daß der Betreffende, der Harald Viks Versteck angeben konnte, reich belohnt würde. Das Gesicht hinter dem Gitter, diese gefühlsrohe Fratze, ließ nichts Gutes vermuten.
Von unwiderstehlicher Neugier getrieben, wollte Harald Vik in Erfahrung bringen, ob sich der Mann vom Gitter zurückgezogen hätte. Er lehnte sich nochmals über die Balustrade.
Ein Gefühl des Entsetzens, das ihn erstarren ließ, durchjagte von neuem seinen Körper. Das Gesicht hatte sich auch nicht im mindesten von seinem Platz entfernt. Es stand noch immer da hinter dem Gitter und starrte ihn an; genau in derselben Stellung wie vordem. Nicht der geringste Ausdruck des Ueberraschtseins oder der Neugier lag in diesem Gesicht. Eher eine beobachtende Aufmerksamkeit. Die Augen waren direkt auf Harald Vik gerichtet, der sich von dem hypnotisierenden, starren Blick des Mannes unangenehm berührt fühlte.
Mit einem Male machte der Flüchtling eine neue Entdeckung. Er bemerkte, daß das Gitterfenster, hinter welchem sich das unheimlich starrende Gesicht befand, viel größer als die übrigen Fenster desselben Gebäudes war. Es lag am allerhöchsten, in der obersten Etage. Harald Vik erhob sich wieder und betrachtete die ganze Gefängnisanlage. Von dem eigentlichen Hauptgebäude, auf dessen Dach er sich befand, gingen sieben andere, kleinere Gebäude strahlenförmig ab. Der Flüchtling zählte diese Gebäude; er begann mit Nummer 1, das neben dem großen Gefängnisportal lag. Das Seitengebäude, das gerade vor ihm lag, war demnach Nummer 5. War ihm nicht einmal zu Ohren gekommen, daß sich im fünften Gebäude die Zelle der zum Tode Verurteilten befände? Nun wurde es ihm klar, warum dies Gitterfenster, durch welches das Gesicht ihn anstarrte, größer war als die anderen in dem Flügel. Es war die Zelle der zum Tode Verurteilten. Es war das Gesicht eines solchen Unglücklichen.
Von neuem warf er einen Blick nach dem Gitterfenster hinüber – und richtig – das Gesicht war wieder da. Noch ebenso gefühllos, ebenso kalt. Die Dunkelheit nahm unmerklich zu; der Lärm der Großstadt legte sich. Ein unheimliches Gefühl beschlich den Norweger. Das Gesicht kam ihm gespensterhaft, unwirklich vor. Plötzlich verschwand es vom Fenster; der Mann war in die Zelle hineingegangen.
Dann aber kam er wieder zum Vorschein; und abermals starrten ihn die sonderbaren, kalten Augen an. Jetzt schien es ihm aber, als ob etwas Fragendes im Blick des Mannes wäre. Ein Gedanke erfaßte ihn.
Harald Vik wußte, daß die zum Tode Verurteilten in den Tagen vor der Exekution immer eine sehr gute Verpflegung hatten. Wenn es ihm gelang, mit dem Mann dort drüben in der Zelle in Verbindung zu kommen, wäre es vielleicht nicht ausgeschlossen, von ihm Lebensmittel zu erlangen. Möglicherweise könnte er ihm als Gegenleistung bei einem Fluchtversuch behilflich sein. Auf jeden Fall mußte er sich in dieser oder jener Weise mit dem Verurteilten zu verständigen suchen.
Der Flüchtling kroch ganz an den Dachrand, so daß der Mann in der Zelle seine Bewegungen deutlich sehen konnte.
Durch Zeichen versuchte Harald Vik dem andern verständlich zu machen, daß er hungrig sei. Er wies auf seinen Mund und streckte ihm bittend die Hände entgegen.
Der andere blickte ihn eine Zeitlang an, ohne eine Miene zu verziehen. Dann aber nickte er, als wollte er damit sagen, daß er die Gebärden des Flüchtlings verstanden hätte, worauf er vom Fenster verschwand. Nach einigen Sekunden zeigte er sich von neuem hinter dem Gitter. Nun zeigte er Harald Vik ein Brot. Er legte sofort das Brot von sich und blieb wie vorhin stehen, die Augen unverwandt auf den Flüchtling dort oben auf dem Dache gerichtet.
Eine grenzenlose Freude bemächtigte sich des jungen Norwegers. Nun wußte er, daß der Verurteilte gewillt sei, ihm zu helfen. Wie aber sollte er nun das Brot in die Hände bekommen? Daß es nur durch das Gitterfenster geschehen könnte, war ihm klar.
Noch war es zu hell, als daß der Flüchtling sich oben auf dem Dache frei bewegen konnte. Nach einer halben Stunde aber würde es so dunkel sein, daß er auf das Dach des Seitengebäudes klettern konnte, ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Von da aus konnte es gar nicht so schwierig sein, mit dem Verurteilten in Verbindung zu treten.
Harald Vik wartete ungeduldig. Vorhin schien es ihm, die Dunkelheit käme so schnell; nun aber kam es ihm vor, als ob sie lange mit dem Tageslicht kämpfte, bevor sie Ueberhand bekam.
Als die Glocken von den vielen Kirchtürmen neun Schläge erschallen ließen, verließ Harald Vik sein Versteck Er tastete sich vorwärts, bis er zu einem Blitzableiter gelangte; an diesem ließ er sich herab, bis er an das daranstoßende Dach stieß. Vorsichtig kroch er weiter, bis er meinte, er müßte in gleicher Höhe mit der Zelle des zum Tode Verurteilten sein.
Vom Dach riß er zwei Schieferplatten los; auf die eine schrieb er, so gut es ihm die Dunkelheit erlaubte:
»Ich sterbe vor Hunger.«
Wie aber sollte er diese Mitteilung in die Zelle des Verurteilten befördern? Soweit er konnte, beugte er sich über das Dach hinaus und sah hinunter. Ja, er befand sich gerade über der Zelle.
Dann erhob er sich und riß sich das Jackett vom Leib. Mit Hilfe der Stahlsäge, die ihm schon früher von großem Nutzen gewesen war, schnitt er Streifen aus dem schwarzen Futter, die er zusammenfügte; daran befestigte er die Schieferplatte, so daß das Ganze eine Art Schlinge bildete.
Er ließ die Schieferplatte nun so weit herab, daß sie sich vor dem Zellenfenster befand; dann ließ er die Schnur hin und her pendeln.
Es war seine Absicht, das kleine Fenster entzwei zu schlagen, das außerhalb des Gitters angebracht war.
Er wußte wohl, daß der Wachtposten um elf Uhr kommen würde; aber in der Dunkelheit würde er unmöglich entdecken können, ob das Fenster entfernt sei oder nicht. Die Luft war ganz still, Zugwind würde in die Zelle nicht hineinkommen.
Nun hörte er, daß die Scheibe mit leisem Klirren zersprang und die Glasscheiben in die Fenstervertiefung fielen. Die Mauer, worin sich das Fenster befand, war etwa einen halben Meter dick; deswegen fielen keine Glasscherben in den Gefängnishof, wo selbst das geringste Geräusch Verdacht erregt hätte.
Der Flüchtling wartete zwei Minuten, da er aber keinen Ton hörte, begann er wieder die Schnur hin und her zu schwingen. Nun war die Schieferplatte innerhalb des Gitters. Zu seiner großen Freude merkte Harald Vik, daß die Platte drinnen festgehalten wurde. Er ließ die Schnur schlaff hängen. Plötzlich wurde an der Schnur gezogen, und er gab nach, soweit die Schnur reichte. In äußerster Spannung wartete er Minute auf Minute. Endlich wurde dreimal energisch an der Schnur gezogen.
Das muß ein Signal] sein, dachte der Flüchtling und zog die Schnur an.
Die Schnur bewegte sich wieder frei, und nun bemerkte Harald Vik in der Dunkelheit, daß außer der Schieferplatte noch eine weitere Last daran hing.
Noch einen Moment – und alles war in seinen Händen. Neben der Schieferplatte war ein großes Stück Brot befestigt.
Sein Hungergefühl war so gewaltig, daß er sich sofort daran machte, das Brot zu verzehren. Es schmeckte ihm wunderbar.
Sowie er seine bescheidene Mahlzeit beendet hatte, ergriff er die Schieferplatte, um zu sehen, ob der Verurteilte ihm etwas aufgeschrieben hätte.
Der Mann in der Zelle hatte von der Platte einen kleinen Splitter abgebrochen und auf die Rückseite geschrieben:
»Wer sind Sie? Wie sind Sie aufs Dach entwischt?«
Harald Vik löste ein Stück Schiefer vom Dach und antwortete:
»Ich bin einer der ›Verschwörer‹. Bin durch den Schornstein entflohen. Sagen Sie dem Wachtposten, der um elf Uhr revidiert, daß Sie selbst die Scheibe eingedrückt haben. Wer sind Sie?«
Dann ließ er die Schieferplatte abermals hinab, und es gelang ihm auch, sie ins Fenster hineinzuschleudern.
Nach einigen Minuten wurde dreimal an der Schnur gezogen; die Antwort lautete:
»Ich will heute nacht entfliehen. Zeigen Sie mir den Schornstein. Ein Korridor führt von hier nach dem Hauptgebäude. Ich bin ein zum Tode Verurteilter.«
Dem jungen Norweger wurde sonderbar zumute, als er diese bestimmten, befehlenden Worte las. Es mußte wohl ein ganz merkwürdiger Mann sein, der dort unten in der Zelle saß. Er kroch wieder denselben Weg zurück, den er gekommen war. Unter Zuhilfenahme des Blitzableiters gelang es ihm, sich auf das Dach des Hauptgebäudes zu schwingen. Hinter dem Gitter sah er undeutlich das Gesicht des Verurteilten.
Harald Vik begab sich an den Schornstein und lehnte sich dagegen. Er sah, daß der Verurteilte ihm verständnisvoll zunickte. Dann sprang er wieder auf das tieferliegende Dach hinunter und ritzte in die Schieferplatte die Worte:
»Im achten Stockwerk befindet sich eine Tür zum Schornstein, die sich von außen öffnen läßt. Haben Sie Werkzeug nötig?«
Als das Stück Schiefer zurückkam, stand darauf nur das eine Wort:
»Nein.«
Mittlerweile war es ganz dunkel geworden. Gegen elf Uhr wurde der Mond am Himmel sichtbar, der seinen gespensterhaften weißen Glanz über die Gefängnisdächer dahingleiten ließ. Nach und nach legte sich aller Lärm unten aus der Stadt.
Harald Vik dachte: Wenn der Mann dort unten in der Zelle wirklich fliehen will, so kann das nur nach zwölf geschehen, wenn die Patrouille vorüber ist. Am besten ist es, wenn ich mich direkt über seiner Zelle aufhalte; ich könnte ihm gegebenenfalls von Nutzen sein.
Er legte sich platt aufs Dach und wartete in ungeduldiger Spannung.
Endlich schlug es zwölf von den Kirchtürmen. In demselben Augenblick hörte er unter sich ein schwaches Geräusch. Eine Tür wurde geöffnet.
Es ist der Aufseher, der in die Zelle tritt, dachte Vik. Es kommt die Zeit heran, wo der Unglückliche mit seinem Fluchtversuch beginnen wird. Sobald der Aufseher gegangen ist – –
Hier wurde er durch das Geräusch mehrerer Stimmen in seinem Gedankengang unterbrochen. Es waren zwei, die miteinander sprachen. Dort unten in der Zelle mußte es sein.
Vik legte sich so weit über das Dach hinaus, wie er vermochte, um aufzufangen, was gesagt wurde.
Nun hörte er auch ganz deutlich eine Stimme sagen: »Ich finde es hundekalt hier in der Zelle.«
Das wird der Aufseher sein, dachte Vik.
Eine andere Stimme antwortete, merkwürdig trocken und klanglos war sie; aber ruhig.
»Ich befinde mich nicht wohl. Hier war ja kaum zu atmen. Darum schlug ich die Scheibe ein.«
Der Aufseher antwortete:
»Die Scheibe? Sind Sie denn verrückt. Mann? Haben Sie wirklich die Scheibe entzweigeschlagen? Das ist ein grobes Zuwiderhandeln gegen die Vorschrift.«
»Leute in meiner Lage«, entgegnete der Verurteilte, »haben es nicht nötig, sich in allem und jedem nach den Vorschriften zu richten.«
»Das geht denn aber doch nicht, die Scheiben zu zertrümmern. Wie konnten Sie das? War das Gitter denn nicht im Wege?«
»Sehen Sie sich die Scheibe an; dann werden Sie schon entdecken, wie es vor sich gegangen ist.«
Harald Vik horchte angestrengt. Er hörte, daß sich unter ihm jemand mit Glasscherben zu schaffen machte; vermutlich war der Aufseher ans Fenster getreten. Gleich darauf hörte er die erstaunte Stimme des Aufsehers ganz deutlich: »Tatsächlich, die ganze Scheibe ist zertrümmert. Das ist das stärkste –«
Hier brach die Stimme ab, und der Flüchtling hörte nur noch einen unterdrückten Aufschrei, dessen Bedeutung ihm nicht gleich ganz klar war. Einige Sekunden lang hörte er Lärm; dann wurde plötzlich alles still.
Nach einiger Zeit hörte er in der Zelle eine Stimme: »Seien Sie ganz ruhig. Machen Sie den geringsten Versuch, zu rufen, dann erwürge ich Sie.«
Es war die Stimme des zum Tode Verurteilten.