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Das brennende Schiff

Der Kleine stand auf und faßte Harald Vik energisch am Arm. »Derartige Kinderstreiche«, sagte er, »werden unsere Pläne über den Haufen werfen.«

Der Norweger blickte ihn höhnisch an.

»Ich bin nicht zum Tode verurteilt«, entgegnete er. »Ich wage es dennoch.«

»Was wagen Sie?«

»Ich will versuchen, sie zu retten.«

»Das ist Ihnen vollkommen unmöglich.«

»Oh.« sagte der Norweger überlegen, »ist es mir gelungen, Sie aufs Dach zu lotsen, so wird es mir auch wohl gelingen, sie hierher zu bringen.«

Zitternd vor Wut stand der Alte da.

»Was mir möglich ist,« rief er, »ist andern ein Ding der Unmöglichkeit. Außerdem war es für Sie nur ein Glück, daß ich herkam. Wäre ich nicht gewesen, wären Sie schon längst vor Hunger und Durst gestorben, oder Sie hätten sich ergeben müssen, Sie Undankbarer. Und nun wollen Sie leichtsinnigerweise uns beiden die Sache verderben!«

Der eindringliche Ernst des Alten legte der Erregtheit des andern einen Dämpfer auf.

»Sie haben sie nicht gesehen«, sagte der Norweger.

»Ich habe auch kein Verlangen, sie zu sehen.«

»Sie sitzt in Ihrer Zelle.«

»Also ist sie zum Tode verurteilt.«

»Und ganz jung ist sie – kaum zwanzig Jahre.«

»Das ist mir gleichgültig. Ich will nichts mehr von ihr hören.«

»Das schwöre ich Ihnen,« sagte der junge Mann mit Nachdruck, »ich verlasse diesen Ort nicht, bevor ich den Versuch gemacht habe, sie zu befreien.«

Aufmerksam blickte ihn der Gelehrte an. Zu Anfang schien es, als ob er wutentbrannt auf ihn losspringen wollte; dann aber bezwang er sich.

»Ist das Ihr Ernst?« fragte er.

»Ich war noch nie so ernst wie jetzt«, erwiderte der Norweger.

»Wenn ich Ihnen nun garantiere, daß Sie im Laufe von vierzehn Tagen die Freiheit erlangen und nicht wieder aufgegriffen werden?«

»Dann bin ich Ihnen sehr dankbar.«

»Versprechen Sie mir dann, sich um die zum Tode verurteilte Gefangene nicht zu kümmern?«

»Nein.«

»Zum Teufel! Was wollen Sie denn? Was gedenken Sie zu tun?«

»Ich werde mich mit ihr in derselben Weise in Verbindung zu setzen suchen, wie ich mich mit Ihnen in Verbindung setzte.«

»Sogleich?«

»Nein, jetzt nicht. Das hat keinen Zweck. Sie steht nicht mehr am Fenster. Aber morgen werde ich mich so weit aufs Dach vorwagen, daß ihr Blick auf mich fällt.«

Der Alte schlug die Hände zusammen, daß es laut hallte.

»Großartig!« rief er. »Ganz ausgezeichnet! Himmel, was seid ihr jungen Leute doch für Schafsköpfe! Sagten Sie nicht, ihr Haar sei schwarz?«

»Ja, sie hat rabenschwarzes Haar.«

»Und merkwürdige Augen, die auf slawische Herkunft schließen lassen?«

»Sie kennen sie also?«

»Wissen Sie,« fragte der Alte, »daß sie Nihilistin ist? Zwei Jahre lang hat die Polizei sie gesucht, weil sie im Verdacht steht, an der Ermordung des Präsidenten MacKinley teilgenommen zu haben.«

»Ich weiß nur,« entgegnete der Norweger, »daß ich niemals ein unglücklicheres Gesicht als das ihre hinter dem Gitterfenster gesehen habe.«

»Dann wird's wohl wenig Zweck haben, Sie zu überreden?«

»Gar keinen.«

»Wollen Sie einen guten Rat von mir annehmen?«

»Ja.«

»Und ihn befolgen?«

»Ja, unter einer Bedingung.«

»Sagen Sie.«

»Daß Sie mir behilflich sind, das junge Weib zu retten.«

Der Alte lächelte, indem er den langen grauen Rock fester um sich zog. Harald Vik aber fuhr zusammen, als er dies Lächeln gewahrte.

»Ich bin gewillt, auf Ihre Bedingungen einzugehen.«

»Dann bin ich andererseits auch gewillt, Ihrem Rate zu folgen.«

»Meinen Befehlen?« fragte der Alte mit Nachdruck.

»Nun ja – Ihren Befehlen.«

»Erstens«, sagte der Gelehrte, »dürfen Sie sich der Dame nicht vor Ablauf von achtundvierzig Stunden, von nun an gerechnet, zu erkennen geben.«

»Vorausgesetzt, daß wir das Dach nicht vorher verlassen.«

»Selbstverständlich.«

»Gut, das verspreche ich.«

»Zweitens müssen Sie heute nacht in einen der außer Betrieb gesetzten Schornsteine hinabsteigen. Ich selbst steige in den Schornstein hinab, aus dem es noch raucht.«

»Dazu bin ich allenfalls bereit.«

»Nun gut,« sagte der Alte, indem er sich auf dem Dach niederließ, »betrachten wir inzwischen den wunderbaren Sonnenuntergang. Bevor die Dunkelheit hereinbricht, läßt sich nichts unternehmen. Sehen Sie doch nur, wie märchenhaft der Himmel dort im Westen aussieht. Und wie still es nach und nach in der großen Stadt wird.«

Harald Vik blieb stehen. In diesem Augenblick fühlte er sich dem kleinen, schmutzigen Gelehrten gegenüber unsicherer als je.

Fast schien es, als ob der Alte seine Gedanken erraten hätte; denn plötzlich blickte er auf und sagte:

»Sie schenken mir also keinen Glauben? Ich verstehe es wohl. Vermutlich neigen Sie zu der Auffassung, daß ich entweder verrückt oder ein fürchterlicher Schwerverbrecher bin.«

Diese Rede verwirrte den Norweger.

»Nun, nun,« fuhr der Alte fort, »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich Ihr Freund bin.«

Der Norweger konnte eine Bemerkung nicht unterdrücken.

»Ihr Ehrenwort?« sagte er.

Der Alte wandte sich von ihm ab.

»Noch niemals habe ich es gebrochen«, entgegnete er bescheiden. »Aber das können Sie nicht verstehen. Zum Beweise, wie hoch ich Sie schätze, werde ich Ihnen dies zeigen.«

Er griff in die Tasche und holte einen weißen Gegenstand hervor, den Harald Vik schon früher bemerkt hatte.

Der Norweger nahm ihn und betrachtete ihn genau. Es war eine kleine Porzellanglocke, wie man sie an den Telegraphenpfählen zu Isolierzwecken benutzt.

»Ich sah, daß Sie die Glocke in der Hand hatten, als Sie von der Telephonleitung kamen«, sagte Harald Vik. »Wozu wollen Sie sie eigentlich benutzen?«

Der Alte ließ sich die Porzellanglocke wieder zurückgeben und streichelte sie gewissermaßen.

»Wenn alles schief geht, dann soll die uns helfen. Sie wird unser Telephon werden.«

»Telephon?«

»Ja, sehen Sie denn nicht, daß sie ausgehöhlt ist? Das gibt ein großartiges Mikrophon. Wenn ich die Glocke erst mit meinem Handschuhleder versehen habe, dann ist es nur Sache eines Augenblicks, sie an dem Telephondraht zu befestigen. Haben Sie noch nie gesehen, wie die Telephonarbeiter, wenn sie die Leitungen reparieren, die Verbindung mit der Zentrale herstellen? Sie führen einen besonderen Apparat mit sich. Da jedoch der Fernsprecher im Grunde zu den allereinfachsten Erfindungen gehört, ist es eine Kleinigkeit, einen primitiven Apparat herzustellen, besonders wenn man über Leitungsdraht und Elektrizität verfügt. Heute nachmittag war ich dort an der Leitung und machte diese Glocke los. Den dazugehörigen Draht befestigte ich an einer anderen Glocke, achtete aber genau darauf, daß kein Kurzschluß entstehen konnte, sonst hätten wir sie gar bald hier oben auf dem Dache gehabt.«

Harald Vik hatte das peinliche Gefühl, den Alten mit der höhnischen Erwähnung des Ehrenwortes gekränkt zu haben. Er glaubte, es sei nur, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, daß der Gelehrte so viel Worte über den Fernsprecher verlor. Harald Vik, der sich nie mit Elektrotechnik abgegeben hatte, wußte nicht, worauf das Gespräch abzielte.

Endlich begann die Dunkelheit über Stadt und Gefängnis hereinzubrechen. Immer dichter wurde sie, und schließlich lag die Stadt unter ihnen mit ihren Tausenden von flimmernden Lichtern da, und über allem wölbte sich die schwarzblaue, sternenlose Himmelskuppel.

»Nun ist es Zeit«, sagte der Alte. »Kriechen Sie jetzt in den unbenutzten Schornstein.«

Harald Vik erhob sich. Er blickte auf die Stadt und spürte, wie der Lärm des abendlichen Verkehrs von unten zu ihm heraufgetragen wurde. Ganz leise aus der Ferne hörte er das Geräusch der Droschken auf dem Straßenpflaster; ein Eisenbahnzug kam angestöhnt; dann und wann ertönten die Warnungssignale der elektrischen Straßenbahn, und das summende Geräusch der Menschenmassen stieg und fiel wie das Brausen ferner Brandung. Ein wunderbar schöner Abend war es. Die Luft war rein und machte jeden Ton leicht vernehmlich. Er sah, wie sich unten in der Tiefe, im Gefängnishof, ein paar Laternen hin und her bewegten, und vernahm die Schritte der Schildwache. Alle Gefangenen waren nun zur Ruhe gegangen.

»Verlieren Sie doch keine Zeit,« sagte der Alte, »ich bin schon längst bereit.«

Harald Vik schreckte zusammen.

»Dort, jener Schornstein!« sagte der Gelehrte, auf einen weisend.

Kurz darauf war der junge Norweger in dem schwarzen Loch verschwunden.

Es war dies das dritte Mal, daß er durch den Schornstein niederstieg. An beiden vorhergehenden Malen war er nur bis zum fünften oder sechsten Stock gelangt, nun aber wollte er ganz hinunter, bis zum Keller – falls ihm nicht ungeahnte Hindernisse in den Weg kamen.

Es wurde ihm diesmal viel leichter als sonst. Er hatte sich schon fast an die Stufen gewöhnt. Bis zum siebenten Stockwerk war er nun gelangt. Hier aber mußte er plötzlich innehalten; denn nun vernahm er ein Geräusch, das er bisher noch nicht bemerkt hatte. Er verhielt sich mäuschenstill, sich mit Händen und Füßen festhaltend, um zu horchen.

Menschliche Stimmen waren es nicht, die er da vernahm. Er erinnerte sich eigentlich nicht, jemals ein ähnliches Geräusch gehört zu haben. Es war gleichsam, als ob Stöße in gewissen Zwischenräumen den ganzen ungeheuren Bau durchzitterten. Hinterher erfolgte eine Art Kratzen oder Knirschen, als ob irgendwo in dem großen Gebäude ein mächtiges Tier läge und mit den Zähnen fletschte. Harald Vik wurde es unheimlich zumute; war er doch weit unten im Schornstein, so daß er unwillkürlich von Entsetzen erfaßt wurde. Es kam noch hinzu, daß es dort unten vollkommen dunkel war. Er sah nicht mehr den blauen, viereckigen Ausschnitt des Himmels über sich. Es war Nacht geworden; der Himmel war schwarz und deckte die Oeffnung des Schornsteins wie eine schwarze Haube.

Plötzlich verstummte das merkwürdige Geräusch; es war nichts mehr zu hören; aber auch die Stille war ihm nicht recht. Niemals zuvor war ihm seine Lage so hoffnungslos und traurig erschienen als in diesem engen, übelriechenden, unbenutzten Schornstein. Als ihm zum Bewußtsein kam, daß er sich hier mitten in dem ungeheuren Gebäudekomplex, diesem großen Steingrab befände, worin ein ganzes Heer von Menschen lebendig begraben war, überfiel ihn ein Gefühl der Angst und Niedergeschlagenheit.

Hier hieß es aber: weiter! Und so kletterte er denn immer tiefer. Als er das vierte Stockwerk erreicht hatte, begann wieder das irritierende, unheimliche Geräusch. So viel war ihm sofort klar: es waren keine Ratten, die umherhuschten. Es wurde nicht nur an einer Stelle geklopft, sondern gleichzeitig an mehreren. Es kam ihm vor, als ob irgendwo in der Ferne klanglose Tasten angeschlagen würden. Etwa eine Viertelstunde dauerte das Geräusch; dann hörte es plötzlich wieder auf. Da stieg Harald Vik weiter hinab.

Als er beim dritten Stockwerk angelangt war, hielt er mit einemmal inne. Sein Herz begann heftig zu klopfen.

Er hatte eine menschliche Stimme vernommen.

Sie schien von unten zu kommen, wahrscheinlich aus dem ersten Stock. Er hörte eine flüsternde Stimme sagen: »Dreihundertvierundfünfzig geladene Revolver.«

Eine andere Stimme ergänzte: »Hundertneununddreißig Aexte.«

Die erste Stimme fuhr fort, diesmal aber noch leiser: »Fünfzehnhundertsechzig Messer.«

Was die andere Stimme darauf sagte, verstand Harald Vik nicht. Wahrscheinlich standen in dem Zimmer, das sich gerade unter ihm befand und von dem aus der Schornstein hinaufführte, zwei Leute, die miteinander sprachen. Anfangs hatten sie in der Nähe des Schornsteins gesprochen, hatten sich aber bald entfernt.

Harald Vik war der Ueberzeugung, daß es zwei Gefängnisbeamte gewesen wären, die dort geredet hatten. Er wagte nicht, noch weiter hinabzusteigen, sondern fand es am ratsamsten, wieder hinaufzusteigen. Schritt für Schritt, so leise wie möglich, stieg er zum Dach empor. Als er in die Nähe der Oeffnung kam, hörte er den Alten flüstern:

»Beeilen Sie sich; beeilen Sie sich!«

Eine Minute später stand er auf dem Dach. Der Alte ergriff seinen Arm; er zitterte vor Eifer.

»Hörten Sie es?« fragte er. »Hörten Sie diese sonderbaren Stöße, die das Gebäude durchdrangen?«

»Ja,« entgegnete der Norweger, »Ich hörte sie. Es war ein ganz unheimliches Geräusch.«

»Das kommt daher,« sagte der Gelehrte, »weil Sie das nicht verstehen. Aber ich verstand es gleich.«

Der Norweger berichtete nun von den beiden Stimmen, die er gehört hatte.

Der Alte strich zuerst mit der Hand verwirrt über die Stirn; dann blickte er gedankenvoll vor sich hin und murmelte leise, wie geistesabwesend: »Waren es dreihundertvierundfünfzig geladene Revolver?«

»Ja.«

»Und fünfzehnhundertsechzig Messer?«

»Ja.«

Plötzlich rückte der Alte ihm näher.

»Dies alles können wir späterhin überlegen,« sagte er und zeigte dabei aufs Meer hinaus, wo eine rote Feuersäule wie ein Leuchtfeuer oder eine Fackel aufflammte.

»Sehen Sie das Licht da draußen?«

»Ja.«

»Das ist ein brennendes Schiff.«

»So?«

»Das würde für den ›Herald‹, dessen erste Ausgabe in einer halben Stunde in Druck geht, eine willkommene Neuigkeit abgeben.«

»Ich verstehe Sie nicht recht.«

»Kommen Sie mit mir.«

Der Alte zog ihn mit sich fort; er befand sich in fieberhafter Erregung. Sie gelangten auf das Seitendach, wo ihn der Gelehrte zu den Telephondrähten führte, an denen er vorhin experimentiert hatte.

»Nun ist mein Telephon endlich in Ordnung,« sagte das Männchen. »Es ist zwar primitiv, und ich muß das Mikrophon sowohl zum Sprechen als auch zum Hören benutzen; aber die Mühe lohnt sich. Jetzt wollen wir einmal einen kleinen Kurzschluß arrangieren.«

Harald Vik konnte in der Dunkelheit undeutlich erkennen, daß sich der Alte mit den Telephondrähten zu schaffen machte. Dann legte er einen weißen Gegenstand ans Ohr und flüsterte ihm gleich darauf zu:

»Sie antworten im Amt.«

Schnell entfernte er dann den weißen Gegenstand vom Ohr und sagte mit ruhiger, klarer Stimme:

»Redaktion des ›Herald‹!«


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