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Harald Vik beobachtete, wie sich des Alten Antlitz aschgrau verfärbte. Er hörte ihn flüstern:
»Den Revolver, den Revolver – er liegt in der Hütte.«
Der Fremde war eine große, sehnige Erscheinung. Er näherte sich den beiden Entwichenen um einen Schritt. Anfänglich war er selbst ziemlich bestürzt; es schien jedoch, daß er schnell darüber im klaren war, wen er vor sich hatte.
Der Alte und Harald Vik zogen sich langsam zurück, Schritt für Schritt, die Augen fest auf den Fremden gerichtet, der den Revolver in der erhobenen Hand hielt.
»Er folgt«, sagt der Norweger. »Bald sind wir am Rande des Daches, dann müssen wir uns entweder hinabstürzen oder uns ergeben.«
»Gott sei Dank«, murmelte der Alte.
»Sagten Sie: Gott sei Dank?«
»Ja, Gott sei Dank, denn er folgt uns.«
»Das ist aber doch gerade das Schlimmste, was passieren kann.«
»Das ist nicht das Schlimmste. Er hat unser Versteck gesehen.«
»Ja, er sah uns beide dort herauskommen.«
»Nun, so muß er sterben«, flüsterte der Alte heiser.
In seinem Blicke flammte ein Glanz auf, welcher Harald Vik schaudern ließ.
»Ergeben Sie sich!« rief plötzlich der Fremde, indem er den Hahn des Revolvers spannte.
Die beiden waren nun bis an den Rand des Daches gelangt, und der Fremde war kaum fünf Schritte von ihnen entfernt. Immer näher kam er ihnen.
»Wer sind Sie?« fragte der Gelehrte.
Der Blick des Alten frappierte scheinbar den Fremden; er hielt inne und antwortete zögernd:
»Ich bin Beamter des Gefängnisses.«
»Was machen Sie denn hier oben auf dem Dache?« fragte der Gelehrte in scharfem, befehlendem Ton.
»Die Telephonleitung«, entfuhr es dem Beamten.
»Verflixt«, murmelte der Alte. »Ich war nicht vorsichtig genug. Unser Telephon scheint ein schicksalsschwerer Luxus gewesen zu sein.«
Harald Vik hatte nun jegliche Hoffnung auf Rettung aufgegeben.
Höhnisch lächelnd wandte sich der Gefängnisbeamte an den Gelehrten:
»Sie können sich's sparen, mich so scharf anzusehen, Herr Ingenieur, ich kenne Sie beide ganz gut.
Trotz der augenblicklichen großen Spannung nahmen diese Worte Harald Viks ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. ›Ingenieur‹ hatte er den Alten genannt.
»Ich bin bewaffnet,« fuhr der Beamte fort, »und nach mir kommen noch andere herauf. Ergeben Sie sich!«
Der Alte lachte – nicht verbissen oder höhnisch, sondern gütig und verzeihend. Harald Vik merkte sofort, daß er schauspielerte, und bewunderte seine Geistesgegenwart.
»Wir sind zwei«, sagte der Alte und nickte wohlwollend. »Sie sind nur einer.«
»Ich schieße augenblicklich, wenn Sie sich nicht ergeben. Zuerst erschieße ich Sie.«
»Ich sehe Sie im Besitz einer Waffe,« entgegnete der Gelehrte, indem er beide Hände vorstreckte, »aber haben Sie auch Handfesseln?«
Der Beamte trat hinzu und legte die Fesseln um die mageren schmutzigen Hände des Alten.
»Derartiges haben wir gewöhnlich bei uns; aber selten mehr als ein Paar.« Er schielte bei diesen Worten mißtrauisch zu Harald Vik hinüber.
»Ich werde den Revolver immer bereit halten«, fügte er ernst hinzu. »Gehen Sie nach rechts.« befahl er, »immer fünf Schritte vor mir her.«
Die beiden Flüchtlinge taten, wie er ihnen befahl. Noch immer hielt der Wächter den geladenen Revolver in der rechten Hand.
»Vorwärts!« kommandierte er.
»Nach welcher Seite?« fragte der Alte ruhig.
Der Beamte gab die Richtung an.
»Dahin,« sagte er, »Sie müssen mit nach der anderen Seite des Daches, von wo aus ich mich mit dem Gefängnishof verständigen kann.«
»Sie sagten aber doch, daß noch jemand hinter Ihnen herkäme.«
»Nicht sogleich.«
Sie näherten sich nun dem Dachrande an der entgegengesetzten Seite.
Der Gelehrte flüsterte Harald Vik zu:
»Stellen Sie irgend etwas auf! Machen Sie eine verdächtige Bewegung oder fallen Sie um!«
»Mund halten!« rief der Beamte. »Was sagten Sie dem Skandinavier?«
»Nur etwas, was Ihnen von Nutzen sein kann«, entgegnete der Alte sanft. »Ich fragte meinen Freund, ob wir es Ihnen nicht sagen wollen, wo der Schaden an der Telephonleitung ist.«
Harald Vik merkte nun, worauf er hinauswollte. Er erwartete mit Spannung den günstigen Augenblick, wo er eingreifen konnte.
»Das ist recht«, sagte der Beamte. »Sie stehen sich besser dabei, wenn Sie sich fügen. Zeigen Sie mir den Schaden.«
Der Alte streckte die mit Fesseln versehenen Hände aus und wies auf die Telephonleitung, von wo aus er heute nacht an den ›Herald‹ telephoniert hatte.
»Dort. Sie sehen, daß eine der Porzellanglocken verschwunden ist. Es ist ein ziemlicher Schaden. Sehen Sie nur.«
Gleichzeitig rief der Alte dem Norweger zu: »Nun!«
Harald Vik tat, als ob er von Krämpfen befallen wurde, und sank um.
Den Beamten verwirrte dies alles. In der Verwirrung senkte er unwillkürlich den Revolver.
Gerade dies hatte der Alte aber beabsichtigt. Schnell wie ein Tiger hatte er sich über ihn geworfen.
Harald Vik sah einen Körper durch die Luft wirbeln und hörte einen halbunterdrückten, unheimlichen Schrei.
Er stand auf.
Der Beamte war über den Rand des Daches verschwunden.
Der Alte lag flach auf dem Dache und starrte in den Gefängnishof hinab.
Entsetzt kroch der Norweger an die Balustrade und blickte in den ungeheuren Abgrund hinunter.
Weit unten auf dem Pflaster erblickte er undeutlich einen schwarzen Gegenstand, der unbeweglich lag. Menschen kamen herbeigelaufen, darunter eine Frau mit flatternder, weißer Schürze.
»Das wird seine Frau sein«, hörte er den Alten flüstern.
Die Menschen dort unten sahen aus wie Ameisen. Immer mehr kamen hinzu; schließlich hatte sich um den Toten ein großer, beweglicher Klumpen gebildet. Nach Verlauf weniger Minuten setzte sich die Menschenmasse in Bewegung und verschwand in einem der kleinen Bürogebäude. Nun lag der Gefängnishof wieder grau und öde da. Man hatte den Toten weggetragen.
Harald Vik richtete sich auf und blickte den Gelehrten an. Er war noch ganz entsetzt von dem, was vorgefallen war.
»Na, Sie sind aber blaß«, sagte der Alte verächtlich.
»Es war entsetzlich«, gab Harald Vik zurück. »War dies Mittel nötig?«
»Es war nötig«, antwortete der Alte. »Es verlief ja auch alles schnell und leicht. Und mein erster Mord war es ja nicht«, fügte er hinzu, wobei er so unheimlich lachte, daß es Harald Vik durch Mark und Bein ging. »Er starb ja auch sofort und ohne Schmerzen. Der Luftdruck hat ihn getötet. Der arme Kerl war ein einfältiger Mensch, ein Dummkopf. Er mußte sterben.«
Plötzlich streckte er seine gefesselten Hände weit von sich und lachte abermals.
»Das ist doch sonderbar«, sagte Harald Vik erstaunt, »ich habe noch nie darauf geachtet, daß Ihre Hände so krumm und mißgestaltet sind.«
»Das habe ich auch noch nie beachtet«, entgegnete der Alte. »Sehen Sie nur.«
Sofort erhielten seine Hände wieder das gewohnte Aussehen. Die Fesseln glitten ab und fielen klirrend aufs Dach, als wären sie zu weit gewesen.
»Wenn ich Sie so betrachte, wundert mich nur eins«, bemerkte Harald Vik, nachdem er sich von seinem Erstaunen erholt hatte, »wie hat man Sie überhaupt fassen können?«
»Nur durch Verrat«, murmelte der Alte bitter. »Aber lassen Sie uns darüber nicht reden. Augenblicklich befinden wir uns in außerordentlich gefährlicher Lage, Verehrtester. Wir können auf Besuch rechnen.«
Der Norweger fuhr zusammen. »Sollen noch mehr Mordtaten begangen werden?«
»Nein. Die Leute dort unten glauben natürlich, daß der Gefängnisbeamte durch einen Unglücksfall vom Dache gestürzt ist. Sein Mund ist für immer geschlossen; aber die Frage betreffs der Telephonleitung ist ja noch ungelöst. Die eine Leitung, mit der ich heute nacht experimentierte, funktioniert also nicht mehr. Ich glaubte, ich hätte alles wieder in Ordnung gebracht; es muß jedoch noch irgendwo ein Fehler sein, den man dort unten in den Bureaus entdeckt hat. Selbstverständlich darf man sich von einem Mißgeschick wie diesem nicht abschrecken lassen. Das Telephon muß wieder in Ordnung gebracht werden.«
»Und dabei wird man uns entdecken«, wandte Harald Vik ein.
»Nein, wir kriechen in unsere Hütte hinein und bringen die Steine an ihren Platz. Niemand wird uns entdecken. Bedenken Sie, niemand ahnt ja, daß sich hier oben auf dem Dach noch lebende Wesen befinden. Sie werden sich gar nicht einmal danach umsehen.«
»Aber die Telephonleitung?«
»Ich werde es schon so einzurichten wissen, daß es den Anschein hat, als habe der Sturm die Drähte zerrissen. Im übrigen können uns diese Besuche hier oben auf dem Dach nur zum Vorteil gereichen.«
»Zum Vorteil?«
»Jawohl. Denn irgendwo müssen die Leute doch heraufkommen, und höchstwahrscheinlich geschieht das nicht durch den Schornstein. Es muß sich also hier in der Nähe eine Luke befinden, die wir noch nicht entdeckt haben. Durch ein Loch in der Mauer müssen wir unsere Gäste im Auge behalten. Ich gehe jetzt zu der Telephonleitung hinüber,« schloß der Alte, »mittlerweile löschen Sie unsere Spuren hier draußen und sammeln Steine zusammen.«
Der Gelehrte kletterte sofort am Blitzableiter auf's Seitendach hinab und näherte sich den Drähten.
Nach kaum halbstündiger Arbeit hatte Harald Vik alle Beweise ihres Aufenthalts zusammengesammelt und in die Hütte gebracht. Die Steine stapelte er zu einem großen Haufen direkt am Eingang auf und kroch dann in die Ruine hinein.
Gleich darauf kam auch der Alte selbst.
Während Harald Vik außerordentlich gespannt darauf war, was nun geschehen würde, bewahrte der Gelehrte vollkommene Ruhe.
Er benahm sich, als ob er in stiller Mitternacht in seinem Studierzimmer experimentierte.
Zuerst verschloß er die Oeffnung ganz und gar; dann zog er einen Stein heraus, so daß ein Loch entstand, durch das man das ganze Dach überblicken konnte.
So verging eine halbe Stunde.
»Sie lassen auf sich warten«, murmelte der Alte, während er intensiv durch die Oeffnung blickte.
Endlich kam Leben in ihn, so daß Harald Vik vermutete, nun müßten die Telephonarbeiter oben angelangt sein.
»Aha, da haben wir die Luke,« sprach der Gelehrte leise vor sich hin; »sie ist vollkommen unauffällig im Zinkdach angebracht. Sieh da, Nummer zwei – und da Nummer drei Das ist ja eine stattliche Anzahl. Wie sorglos die Leute sind! Nicht einmal Waffen haben sie bei sich. – Der vorige hatte sich doch damit versehen. – Nun begeben sie sich an die Telephonleitung. – Was mag das für ein Mensch sein, der Neugierige dort, die stattliche Erscheinung mit dem weißen Ledergurt? Es sieht ja beinahe aus, als wollte er den Fall näher untersuchen. Jetzt beugt er sich über die Drähte und ruft die andern herbei.«
In dieser Weise sprach der Gelehrte mit sich selbst, und daraus entnahm Harald Vik, was draußen auf dem Dach vor sich ging.
»Worauf sie jetzt wohl warten? – Dachte ich es mir nicht? Jetzt sind sie beruhigt. – Sie nicken sich gegenseitig zu. Natürlich, der Sturm hat's getan. Ha, ha! – So, nun beginnen sie mit der Reparatur. – Im Grunde ist es nur eine Kleinigkeit. – Ich sehe, wie sie ärgerlich sind. – Deswegen drei Mann hoch aufs Dach zu kommandieren! – Nun sind sie fertig; sie gehen zurück zur Luke. – Noch stehen sie, mit den Händen die Augen schützend, und betrachten die Aussicht. – So, nun steigen sie hinab. – Sie sind verschwunden.«
Der Sicherheit wegen warteten die beiden Flüchtlinge noch eine halbe Stunde, bevor sie die Hütte verließen. Als sie wieder draußen auf dem Dach standen, schlug es neun von den vielen Kirchtürmen der Stadt. Der Alte zählte die Schläge.
»Neun Uhr,« sagte er, »nun ist es Zeit. Lassen Sie uns nach der Stelle gehen, von wo aus wir auf den Exerzierplatz hinabblicken können.«
Einen Augenblick später standen sie da.
Tief unten auf der ungeheuren Ebene erblicken sie die vielen Hunderte der Gefangenen, die sich dort Bewegung verschaffen. Einzeln marschieren sie unaufhörlich vorwärts, wobei sie Schleifen und Ringe bilden. Inmitten dieser Ringe sind Erhöhungen angebracht, worauf Wärter stehen, die darauf achten, daß die Gefangenen nicht miteinander sprechen. Am Außenrand des Platzes befindet sich ein größeres Militäraufgebot; die Soldaten, auf die Gewehre gestützt, betrachten die traurige Vorführung.
Von seinem erhöhten Standpunkt betrachtete der Alte dies Exerzieren mit größtem Interesse.
»Haben Sie diese Menschen beobachtet, die auf den Erhöhungen stehen?« fragte er den Norweger.
»Jawohl, es sind die Aufseher, die darauf zu achten haben, daß die Vorschriften innegehalten werden.«
»Nicht alle sind Aufseher. Wären Sie mit dem System hier im Gefängnis vertraut, dann müßten Sie wissen, daß auch gewöhnliche Gefangene diese Plätze einnehmen können. Es ist dies ein Vorrecht der Gefangenen, die sich durch besonderen Fleiß oder gutes Betragen ausgezeichnet haben. Sie werden dann Hilfsaufseher. Sehen Sie den Mann dort bei dem roten Materialschuppen, der ist zum Beispiel ein Gefangener. Beobachten Sie einmal, wie die Sonne die gelben Streifen seines Gefangenenanzuges hervorhebt.«
»Jawohl, ich sehe«, erwiderte Harald Vik.
»Beobachten Sie ihn einmal genau.«
»Ich beobachte ihn ganz genau.«
»Verstehen Sie nun, was mit der Frage gemeint ist, die heute nacht im Gefängnis die Runde machte, nämlich: ›Sind alle über die Hände unterrichtet‹?«
Harald Vik nahm die kleine gelbe Gestalt dort hinten am roten Materialschuppen noch näher in Augenschein.
»Nein,« entgegnete er, »das verstehe ich nicht.«
»Finden Sie nichts Außergewöhnliches an ihm?«
»Es kommt mir vor, daß dieser eifriger ist als die andern, die auf den Erhöhungen stehen. Es mag wohl ein besonders gewissenhafter ›Hilfsaufseher‹ sein.«
»Ganz recht, er ist eifriger. Aber sehen Sie nicht, was er macht?«
»Mit den Händen schlägt er den Takt.«
»Nun haben Sie's endlich. Jawohl, mit den Händen. Nun?« Der Alte wollte weitersprechen, hielt jedoch plötzlich inne und starrte angestrengt auf den Platz hinab. Es schien Harald Vik so, als ob er die Lippen bewegte.
»Gut!« sprach er leise. »Ausgezeichnet!«
An Harald Vik gewandt, fuhr er fort:
»Also er schlägt den Takt mit den Händen.«
»Nun ja, die Gefangenen müssen nach Takt marschieren, so lautet die Vorschrift.«
»Schon recht; aber dieser da schlägt nicht nur den Takt mit den Händen, gleichzeitig tut er auch noch etwas anderes damit.«
»Und das wäre?«
»Er redet damit,« entgegnete der Gelehrte. »Still, nun sagt er wieder etwas.«