Otto Ernst
Heidéde!
Otto Ernst

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III.

Der Zauberspiegel und der erste Zahn des Geistes – Die Büchse mit Fruchtmus wird zugeklappt und Heidédes Charakter gebrochen.

Aber eins erfüllt mich mit hohem, berechtigtem Stolz: Dieser lebensprühende kleine Kerl, der zwitschern und lachen kann wie Kuckuck und Lerche, kann auch stundenlang schweigend in seinem Bettchen sitzen und sich ganz allein mit ein paar Hölzern, d. h. mit sich selbst beschäftigen: Und dies ist wieder ein Gebet, mein Kind: diese Kraft möge bleiben in dir und wachsen! Solange es Menschen gibt, hat man die lichten Seelen daran erkannt, daß sie allein sein konnten. Menschen sind zuweilen gut und unentbehrlich; aber sie nicht brauchen, ist eine der größten Gnaden des Himmels. Sich niemals langweilen können, solange man allein ist, das ist der beste Lebensunterhalt. Sich vor der Welt da draußen zuschließen können, weil man drinnen für hundert Jahre Proviant hat, das ist Reichtum.

Also die mens ist sana; ob das corpus wohl auch sanum ist? Ich sollt es denken. Der Kinderwagen wird bald ausgedient haben; sein Bewohner zeigt immer häufiger Neigung und Befähigung, über Bord zu klettern. Und hier kann ich nun auch endlich die Mitteilung los werden, die mir schon lange auf der Seele liegt, daß nämlich aus dem häßlichen jungen Entlein ein rosig weißer Schwan, aus dem neugeborenen Äffchen längst ein hübscher Kerl geworden ist. Raffael oder Andrea della Robbia hätten hohe Modellgelder für ihn gezahlt. Ich kann für seine Schönheit schriftliche und gestempelte Zeugnisse völlig unbeeinflußter Personen beibringen, sogar überraschte Bewunderungsausbrüche von anderen Müttern. Natürlich bemerke ich das alles ohne jede Spur von Eitelkeit und nur deshalb, weil von dem Großvater nicht ohne weiteres auf einen schönen Enkel zu schließen wäre. Der Junge soll mir allerdings merkwürdig ähnlich sehen; aber das sagt bekanntlich nichts; ich könnte verblüffend dem Endymion ähneln, ohne daß Selene mich nächtlicherweile aufsuchte und mir 50 Töchter schenkte. Auch sprech ich von der Schmuckheit des Buben nicht, weil ich sie für ein zweifelloses Glück hielte. Körperliche Schönheit ist die beste Visitenkarte, sagt man; aber das ist's eben: diese überall gültige Einlaßkarte verschafft ihrem Inhaber zu leicht den Zutritt zum Jahrmarkt des Lebens, erspart ihm aber, wenn's Ernst wird, keine Kosten. Abschreckende Häßlichkeit hat zwar immer mein tiefstes Mitleid erregt; eine mäßige Häßlichkeit aber scheint mir, wenigstens bei Männern, einer jener wertvollen Steine im Wege, die zum Springen nötigen. Überdies verschwindet eines Menschen Häßlichkeit sogleich, wenn man ihn liebgewonnen hat; dies ist das wahre Geheimnis der Kosmetik. Daß ich bei alledem als Mensch und Künstler an dem Burschen meine Schönheitsfreude habe, will ich natürlich nicht leugnen. Das würde schon daraus hervorgehen, daß ich mich gelegentlich nicht entbrechen kann, in seinen Wagen hineinzurufen: »Du Zuckerkerl!!« mit besonderem Nachdruck auf dem »Zucker«. Aber das berichte ich eigentlich aus einem anderen Grunde. Jedesmal, wenn ich ihm mit einer kräftigen, schnellen Beugung des Oberkörpers zurufe: »Du Zuckerkerl!« lacht er laut aus Herzensgrund. Warum? Er versteht weder, was »Zucker« noch was »Kerl« noch was »Zuckerkerl« ist, und am wenigsten weiß er – gottseidank! – daß er selbst einer ist; sonst würd ich's ja nicht zu ihm sagen; er soll ja nicht Operntenor, sondern nur Bariton werden. Also was an meinem Zuruf ist ihm erheiternd und komisch? In dem plötzlichen Vorneigen des Körpers und der Stärke meines Tones liegt zunächst der Bestandteil der Überraschung, und die Überraschung, sagt man, sei ein wesentliches Merkmal der Komik und des Witzes. Aber es gibt auch plötzliche Bewegungen und Laute, die ihn erschrecken und zum Weinen bringen; also kann es nicht die Überraschung allein sein. Er empfindet ohne Zweifel aus meinem Ton und meiner Miene die Freundlichkeit der Annäherung heraus; es ist also eine freundliche Überraschung, sozusagen ein leichtes, angenehmes Erschrecken, das ihm gefällt. Weitere Merkmale der Komik vermag ich hier nicht zu entdecken. Den Unterschied zwischen freundlichen und strafenden Mienen, zwischen schmeichelnden und strengen Tönen fühlt er seit langem, fühlen Kinder überhaupt sehr früh; sie können diese Unterscheidung nicht gut machen auf Grund logischer Schlüsse aus begleitenden Handlungen, wo solche Handlungen nicht vorliegen; auf den bloßen heiteren Zuruf brechen sie in Lachen aus; auf den bloßen drohenden Blick und Ton verstummt ihr willkürliches Geschrei – und dies Vermögen scheint mir eines der zahlreichen Wunder, die der Mensch bei seiner Geburt mitbringt. Auch über meine komischen Gesichter lacht Heidéde frei und unwillkürlich heraus; keiner hat's ihn gelehrt. Ich glaube auch nicht, daß er sich in solchem Falle sagt: »Das Komische ist eine aus zwei Elementen zusammengesetzte Erscheinung, von denen das eine unberechtigter Weise einen Wert beansprucht, der durch den Widerspruch des anderen zerstört und aufgelöst wird.« Ich denke, den empfänglichen Zauberspiegel für das Komische setzt uns der Schöpfer ins Herz, sobald wir empfangen werden (oder früher), wie die Spiegel für Raum, Zeit, Kausalität und andere Dinge.

»Und andere Dinge!« Z.B. den Rhythmus. Heidéde hat jetzt das »Gesamtkunstwerk«, die »Synthese der Kunst« vollendet: er macht zu seiner Musik und Dichtung mit Vorliebe rhythmische Bewegungen; Malerei und Plastik sind durch seine eigenste Körperlichkeit würdig vertreten. Sein Rhythmus ist zwar noch einfachster ¾-Takt wie der des Uhrpendels; aber er ist richtig gemessen, und so dämmert mir die süße Hoffnung, daß Heidéde musikalisch werde. Für die Tonhöhe kann das Ohr sich schärfen, und der unreine Sänger kann durch Übung reinlich werden; wo aber nicht eingeborener Rhythmus ist, da kommt in Ewigkeit keiner hin, und oleum et opera der vereinigten Musiklehrerschaft sind an solchem windschief Geborenen verloren. Heidéde scheint auch seelisch regelmäßig gewachsen zu sein; hat er doch auch Freude am Uhrpendel und ahmt seine Bewegung nach mit Vergnügen und Geschick.

Und dann? Als meine Frau ihm eines Tages mit Pendelbewegung ihres Körpers vorsagt:

»Ticke-tacke-ticke-tacke« – was geschieht da? Er wendet jäh den Kopf und blickt nach der Wanduhr! Die Sonne ist ihm aufgegangen, die Sonne unserer Welt! Die erste Verbindung von Wort und Vorstellung ist da; Heidéde beginnt unsere Sprache zu verstehen! Den ersten Zahn feiert man wohl mit einer Flasche Wein. Mit weit größerem Recht könnte man diesen ersten Zahn des Geistes, diese aufflammende innere Erleuchtung mit äußerer Festbeleuchtung, Fanfaren und Feuerwerk feiern, wenn – ja: wenn es ein Glück ist, daß das Kind sich uns Erwachsenen nähert, daß es unsere Weisheit lernt und aus dem Paradies den ersten Schritt in unsere Welt tut. Diese Frage müßte vor dem Feste gelöst werden.

Und aber eine göttliche Gabe ersprießt offenbar schon mit dem ersten Keim des Kindes, wenigstens eines gesunden Jungen: das nie zu ersättigende Bedürfnis nach Radau. Das ist nun freilich etwas sehr Selbstverständliches; mit jedem lebendigen Wesen wird lebendige Kraft geboren, die sich betätigen will. Wir bringen diesem Bedürfnis natürlich weitestgehendes Verständnis entgegen, obwohl Serenissimus bei guter Laune wie eine kleine Schiffszimmerwerft, im Zustande der Begeisterung wie eine Kesselschmiede arbeiten und endlich in höchster Ekstase zum Trommelfeuer übergehen. Und da Atmungs- und Sprechwerkzeuge genau so gut ein Recht auf Arbeit haben wie Arme und Beine, so üben Se. Hoheit auch die Kunst der höheren Musik, will sagen: des Kreischens, Schreiens und Juchzens, nicht nur in altem, sondern in gesteigertem Maße. Nun kann man aber schon aus einem ziemlich kleinen Kinde u. a. auch einen Tobsüchtigen machen, und das liegt nicht in unserer Absicht. Abgesehen davon, daß wir dem Buben, wenn er am Fußboden arbeitet, die besser polierten Gegenstände entziehen und ihm kein Meißner Porzellan zu bearbeiten geben (etwa »weil er es nun doch mal so gern mag«!) – wir erlauben uns auch, gelegentlich seinen Hochgesang abzuschneiden. Und dann begibt sich etwas sehr Bemerkenswertes. Wenn wir mit ernstem Blick und Ton: »Ssst!« oder »Ruhig!« rufen, so geht er zunächst darüber hinweg und kreischt weiter, wenn auch ein wenig gemäßigt. Wenn wir dann mit erhöhtem Ernst Ruhe gebieten, versucht er es mit einem Schrei von halber Dauer. Wenn wir darauf mit abermals erhöhter Strenge Schweigen befehlen, riskiert er noch einen Viertel-Schrei, und bei allem beobachtet er uns auf das schärfste, bis er endlich verstummt. Heidéde nimmt den Kampf mit der Welt auf. Aber vorläufig hilft ihm das nichts; sein »Charakter« wird ohne Gnade »gebrochen«. Ich werde noch weiter davon zu reden haben, in welch empörender Weise der Charakter dieses Kindes gebrochen wird.

Es geht schon aus früher Gesagtem hervor, daß wir in der körperlichen Erziehung des Prinzen den ritterlichen und der Gesundheit so außerordentlich zuträglichen Reitsport nicht vernachlässigen. Täglich mehrere Male unternehmen Hoheit Heidéde – oder, wie Sie sich im engsten Familienkreise auch leutselig anreden lassen: Buzi der Erste – einen längeren Spazierritt auf Vaters oder Großvaters Schenkel oder Schulter. Den Galopp ziehen Hoheit den ruhigen Gangarten vor und begleiten ihn mit Jauchzen. Wenn das betreffende Roß nicht rechtzeitig bereit ist oder nach längeren Strapazen stätisch wird und nicht mehr mag, dann deutet der hohe Herr durch höchsteigene Hopsbewegungen an, daß er zu reiten oder noch mehr zu reiten wünsche; auch gibt er durch beschleunigtes, höheres Hopsen zu erkennen, daß er endlich den Übergang vom Trab in den Galopp zu belieben geruhe. Nachahmung der gewünschten Handlung ist einstweilen sein geläufigstes Verständigungsmittel. Und er weiß seine Wünsche mit erfreulicher Entschiedenheit deutlich zu machen. Ich bilde mir nichts darauf ein, daß er das gekochte Ei auf dem Frühstücksteller und die Büchse mit Fruchtmus sehr genau kennt; denn die Futterintelligenz entwickelt sich überall, auch bei den Tieren, am frühesten und kräftigsten. »Ei?! Ei?!« stößt er hervor, was aber nicht, wie eine eitle Mutter behaupten würde, mit dem lateinischen ovum gleichbedeutend, sondern das bekannte heidédische Empfindungswort des Wohlbehagens ist, das wir in unsere Sprache hinübergerettet haben. Er sperrt dabei das entzückende Mäulchen – da ihr's nicht seht, könnt ihr meine Begeisterung natürlich nicht verstehen – also er sperrt dabei das begeisternde Mäulchen – es gleicht einer roten Knospe, die soeben aufgesprungen ist – er sperrt also das hinreißende, überwältigende Mäulchen – ich komm von dem Mäulchen nicht los! – er sperrt es auf wie ein junger Star, der über den Nestrand der heimkehrenden Mutter entgegenlungert. Aber trotz dieses überirdisch schönen Schnabels bekommt er von dem Ei nur wenig, weil die Ärzte diese Kost in seinem Alter nicht für dienlich halten. Die grenzenlose Liebe, die in ein zartes Kind an Eiern, Milch und Butter hineinschüttet, was hinein will, mangelt uns gänzlich. Bekanntlich gibt es Leute, die den Begriff der Überernährung für eine Erfindung geiziger, entmenschter Kindermörder halten und der Überzeugung leben, daß man alles in der Welt multiplizieren könne. Solche Multiplikationsidioten gibt es übrigens auf allen Gebieten, heute besonders in der Politik. In unvergleichlich reicherem Maße als über das Ei darf Buzi I. über das Fruchtmus verfügen, obwohl er natürlich auch hier nicht unumschränkter Herrscher ist. An einer bestimmten Stelle klappt die Büchse zu; das ist natürlich ein Eingriff in die Freiheit des Kindes, für Magen und Darm aber sehr gesund.


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