Otto Ernst
Heidéde!
Otto Ernst

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.

Abiturium mit Faxen – Heidéde im Urwald – Er liebt mich! – Am Schöpfungsborn – Prügel- und Mordabsichten des Verfassers.

Habt ihr euch einmal klar gemacht, was sich einem Kinde auftut, wenn es Gehen gelernt hat? Das Abiturium, das bestandene Staatsexamen, die Lossprechung des Lehrlings, die Entlassung vom Kommiß, das alles sind Dinge, die mit einem wunderbaren Befreiungsgefühl verbunden sind; aber was sind sie gegen die Loslösung des Kindes vom Gängelband? »Abiturium« heißt bekanntlich Abgang; es gibt kein bedeutungsvolleres Abiturium als das von Mutterarm und Mutterschoß. Die Mutter fühlt diesen Abschied mit Stolz und mit Wehmut; Elternleben ist ein fortgesetztes Abschiednehmen, und glückselig die Alten, denen in ihren Enkeln ein Wiedersehen lacht! Was Heidéde in diesen Zeiten erlebt, das ist mehr als die Entdeckung Amerikas: es ist die Entdeckung der Welt, was sag ich? es ist die Erschaffung der Welt, es ist ein ununterbrochener Schöpfungstag, ein unaufhörliches »Es werde Licht!« »Es sammle sich das Wasser!« »Es werden Lichter an der Feste des Himmels!« »Die Erde bringe hervor Gras, Kraut und fruchtbare Bäume!«

Wir verstehen, was sich in diesem Brustkasten bewegt – »Junge, mit dem Brustkasten kannst du 200 Jahre alt werden!« hat ihm der Arzt versichert – und wir verstehen, daß es heraus muß und daß daher ein Recht auf gesteigerte Lärmerzeugung in gewissen Grenzen gar nicht zu bestreiten ist. Er hat jetzt ein wundervolles crescendo – sein ganzes Leben ist ja bis jetzt ein solches crescendo – aber als geborener Kulturmensch hat er doch auch das Gefühl der certi denique fines; er beobachtet uns gelegentlich daraufhin, wieviel er uns wohl zumuten dürfe. Und eine ganz besondere Freude hab ich an seiner neuesten Leistung: er macht Faxen! Habt ihr je einen richtigen gesunden Jungen gesehen, der keine Faxen machte? Er macht plötzlich Obeine und läuft damit durch die ganze Stube, oder er wirft beim Laufen die Beinchen seitwärts wie ein Hampelmann und stößt dabei ganz neue, unwahrscheinliche Laute aus. Und das kann ich euch sagen: solche Faxen erleichtern ungemein die Diagnose. Wenn ein Kind Faxen macht, könnt ihr über sein Befinden vollkommen beruhigt sein. Ihr könnt daraus schließen, daß es ihm mehr als gut gehe; denn die Kräfte zu diesen Leistungen werden aus den Überschüssen bestritten. Heidéde fühlt sich so wohl, daß er von seinem Wohlsein abgeben kann, und – weiß Gott, das tut er.

Ja – und dieser Ausbund von Frohsinn und Übermut – plötzlich sitzt er mitten im vollen Geräusch unseres Tagestreibens da: fern von uns allen, seherisch versunken wie ein Einsiedler in menschenleerer Welt, mit Augen, die auf einsamsten Wegen wandern. Und dann, ich sag es ohne Übertreibung, fühl ich vor seiner Andacht eine innigere Ehrfurcht als vor dem sinnenden Schweigen des Forschers, vor der brütenden Schöpferstille des Künstlers. Dann möcht ich allen ringsrum zurufen: Still: hier webt sich eines Menschen Welt! Still: hier wächst eine Seele! Haltet den Atem an: hier wandern zwei Kinderfüßchen im Urwald der Schöpfung, unter Blumen und Vögeln, zwischen Schatten und Lichtern, sich verirrend .... bis die laute Welt sie zurückruft! Oh, ich weiß es noch gut, was Kinderaugen in solchen Augenblicken träumen und sehen: alle Dinge sind noch gütig und rein; um alle Dinge schweben Feste aus Luft und Licht, Feste, die noch heute, mit der Liebe der Meinen zusammen, mein bester, sicherster Besitz sind.

»Die Liebe der Meinen.« Ich kann es nicht lassen – ich glaube auch, ich bin jetzt lange genug nicht eitel gewesen – also kurz und gut: Heidéde umarmt nicht nur seine Mutter, seinen Vater und seine Großmutter; er hat jetzt auch mir gänzlich unvermittelt, aus eigenstem Antrieb, ohne jede Aufforderung, rein durch den Zauber meiner Persönlichkeit bezwungen, beide Ärmchen um den Hals geschmiegt und mich geküßt. »Er liebt mich! Er liebt mich! O seligste der Stunden!« Man soll das Urteil der Welt im allgemeinen verachten, und das besorge ich redlich. Aber zweierlei Urteil ist mir wertvoll: das der Hunde und ganz vor allem das der Kinder. Die Hunde begegnen mir im allgemeinen mit berechtigtem Vertrauen; bei Kindern aber hab ich in jüngster Zeit Erfolge erzielt, daß ich mir geradezu wie der typische Großvater, der »Großvater an sich« vorkomme und mich Abraham (»Vater der Menge«) nennen könnte. Erst dieser Tage lief auf der Straße ein reizender kleiner Junge auf mich zu und rief glückstrahlend: »Dooschpapa!« – ich hätte das Kerlchen vom Fleck weg adoptieren mögen! Und als ich lesend in der Bahn saß, rief ein etwa zweijähriges Mädel, nachdem es mich eine Weile beäugt hatte: »Opapa a be te!« (Großpapa liest ABC!) »O du Kindermund, o du Kindermund, unbewußter Weisheit froh!« Ich bin wirklich noch immer nicht über das ABC hinausgekommen.

Schon als Junge war ich ein – wie man's so nennt – »Kindernarr«; ich war dauernd entzückt von meinen jüngeren Geschwistern und beschäftigte mich gern mit kleinen Kindern. Und ich glaube, daß mir das nicht geschadet hat, vielmehr, daß Rohes und Wüstes, wie es so leicht in einem Jungen aufschießt, durch diese reinen Freuden veredelt oder im Keime erstickt worden ist. Man sollte Knaben und Jünglinge – die Frauen haben's kaum nötig – recht viel mit kleinen Kindern verkehren lassen; ein junger Mann, der recht in ein Kinderauge geschaut hat, sollte er wohl leichtfertig sein Blut vergiften und das Gift einem Kinde vererben, Leiden und Tod über das Haupt eines Kindes bringen können?

Ich hab es schon anderswo gesagt, daß man ein Kinderauge nicht beschreiben kann; natürlich kann man es ebensowenig malen. Das Ergebnis jedes Künstlerlebens ist die Erkenntnis, daß man das Beste nicht ausdrücken kann, daß man Arm und Werkzeug ohnmächtig sinken läßt. Mein ehrgeizigster, schmerzlichster Wunsch wär es, ein Kinderauge beschreiben zu können – und wiederum ist es gut, daß mir's nie gelingen kann.

»Was ausgesprochen ist, das ist verblüht.
Das Wort ist Frucht, Frucht aber ist Erfüllung
Und Ende.«

Nun kann ich jeden Tag mit neuem Staunen hineinblicken und aus Gottes unergründlichem Schöpfungsborn trinken.

Und was ist gar ein Kinderauge, das aus dem Schlafe kommt und in diese grelle Welt schaut, gebadet im dunklen See des Schlafes, noch feucht und klar von seinem geheimen Glück! Das ist so überirdisch schön, daß selbst ich in Versuchung kommen könnte, ein schlummerndes Kind zu wecken. Ich sage: »in Versuchung kommen könnte« – tun werd ich's niemals. Und nur einem könnt ich's verzeihen: einem Vater, der sein Kind niemals wachend sieht als etwa am Sonntag. Ein Verdurstender darf auch vom Abendmahlswein trinken.

Ihr wißt aber, daß auch bei profanem Wein und Braten, wenn gnädige Frau große Gesellschaft geben, zuweilen Kinder herumgereicht werden, die um Mitternacht frisch aus den Kissen geholt wurden zur höheren Ehre der Eltern. In diesem Zusammenhang muß ich etwas vom Prügeln sagen.

Ein Schulmeister wird oft gefragt: »Was halten Sie von der Prügelstrafe?« Ich pflege dann von jenem frühen Schlag zu sprechen, der dem Kinde die Grenzen seines Willens zeigt, der es lehrt, daß die ultima ratio aller menschlichen Zucht leider keine ratio, also keine Vernunft, kein Beweismittel, sondern noch immer eine vis, d. h. Gewalt ist, spreche von jenem wundertätigen »Klaps«, der einen Menschen vor dem Schlag des Scharfrichters bewahren kann. Ich pflege hinzuzufügen, daß ich im ganzen von dem erzieherischen Wert der Prügelstrafe verzweifelt wenig halte, daß es eine lange Stufenleiter bis zu diesem verzweifelten Mittel gebe, daß ich indessen die Prügelstrafe nicht ganz und gar verwürfe, sie aber weniger bei Kindern als bei Eltern angewendet sehen möchte. Ich muß das erklären.

Heidéde hat den Schnupfen, ist aber ganz vergnügt dabei. Heidéde möchte das Messer da auf dem Tische haben; Kinder wollen mit Vorliebe das haben, was ihnen nicht taugt; darin sind sie ganz wie die Erwachsenen. Als er das Messer nicht bekommt, brüllt er kraftvoll. »Er ist erkältet,« meint jemand, »er fühlt sich nicht wohl.« Das ist möglich; untersuchen wir die Sache. Ich lasse den Mundtuchring über den Tisch rollen und zwar fast ganz an die Kante, dann greif ich mit großartig gespieltem Schreck zu und erwische ihn – welch ein Glück! – noch im letzten Augenblick! Heidéde will sich totlachen. Der Ring rollt noch einmal und noch einmal; ich erschrecke jedesmal heftiger, und Heidéde will sich immer töter lachen. Also der Schnupfen ist es nicht. Als der Ring nicht mehr rollt, will Heidéde wieder das Messer haben. Er gibt seine Sache noch nicht verloren, und das ist an sich nur löblich. Aber als er nichts erreicht, brüllt er noch kraftvoller, und nun befolgen wir einen wirklich guten Gedanken Rousseaus: Wenn Emil nicht guttut, wird er bekanntlich nicht getadelt und nicht bestraft, sondern man läßt ihn die natürlichen Folgen seines Tuns fühlen. Wer brüllt, macht sich für die menschliche Gesellschaft unmöglich; Heidéde wird deshalb nach Sibirien verbannt. »Sibirien« ist im selben Zimmer, einen Schritt von seiner Mutter Platz entfernt. Er wird einfach mit seinem ganzen Stühlchen umgedreht und an die nahe Wand geschoben, so daß er dieser das Gesicht zukehrt. Er hat noch nicht den Ort seiner Verbannung erreicht, als sein Gebrüll abgeschnitten ist wie mit einem Rasiermesser. Ein Beweis, daß es keinem tiefgründigen Schmerze entstammt. Und keine drei Sekunden vergehen, bevor er sich zu uns umdreht und »Kiiiik??« ruft, um sich wieder anzubiedern. Er wird dann auch ohne weiteres begnadigt, und sobald er wieder am Tische sitzt, ruft er mit glückstrahlendem Gesicht: »Daaa!«, was soviel bedeutet wie »Da bin ich wieder!« So viel kann man mit so wenig erreichen. O ja, es ist eine stufenreiche Leiter bis zu Schlagen. Ich hab auch bemerkt, daß, wo es sich um Vorbeugung handelt, ein Blick oder ein Ton mehr wirkt als ein Schlag. Ein Schlag ist eine vollendete Tatsache, deren Wirkung sich überblicken läßt; hinter einem ernsten Blick, einem drohenden Ton liegt das Unbestimmte, und das Unbekannte schreckt mehr als das Bekannte.

Anders nach vollendetem Verbrechen. Da macht ein zürnender Blick wenig Eindruck, und die Sühne darf drastisch sein wie die Tat. Heidéde hat trotz Verbots einen seiner Bettvorhänge abgerissen. Die Mutter gibt ihm dafür einen Patsch, und er schreit. Dann schaut er sich nach seinem Vater um, faßt ihn prüfend ins Auge und – reißt den zweiten Vorhang herunter. Aber die Berufungsinstanz weist ihn ab, und gibt ihm einen zweiten Klaps. Er schreit abermals; aber die Vorhänge haben seitdem Ruhe vor ihm.

Sanfte Violenseele, weine nicht, und du, wilder Freiheitsknabe, grolle nicht ob dieser barbarischen Zucht! Auch an diesen Schlägen ist das Physische nicht das Wesentliche; der Schmerz ist sicherlich höchst unbedeutend; das, worauf's ankommt, ist die ultimative Mahnung: »Jetzt ist's aber die höchste Zeit, einzulenken, sonst –!« Und dieses »sonst –!« ist nicht inhaltlos; besonders für das reifere Kind steht hinter den Schlägen eine noch viel längere Leiter von Strafmitteln, wenn es traurigerweise zum Strafen kommen muß, von Strafmitteln, die härter sind als Prügel.

Aber der Charakter? Ja, der wird natürlich gebrochen.

Laßt es euch gesagt sein, Teuerste: Kinder, die nicht gehorchen lernen, werden gar nicht Charaktere, sondern Bestien. Ungezügelter Wille wird nämlich nicht stark, sondern schwach. Er mag stark gegen andre werden: aber er wird schwach gegen das Ich, wird also ausgeprägtes Lumpentum. »Strenge gegen andere und Milde gegen sich selbst macht den wahrhaft verächtlichen Charakter aus.«

Und nun kommt's: Eltern, die ihre Kinder mitternachts beim Festmahle herumreichen oder die sie stundenlang über die Zeit wachhalten, weil sie »recht viel von ihnen haben wollen« (Spaß nämlich), die sie mit auf den Tanzboden und in die Kneipe nehmen, weil sie sonst ihr Vergnügen abkürzen müßten, Eltern, die ihre schwabblige Schwäche, mit der sie jeder Laune ihres Kindes nachgeben, oder die Faulheit, mit der sie sie in allem gewähren lassen, weil Erziehung Arbeit ist, als »Liebe« bezeichnen, und jene pädagogischen Schwätzer endlich, die ohne jeden Blick für die Tatsachen der Kindesseele und ohne alles Gewissen für das, was sie anrichten, die schrankenlose Freiheit des vernunftlosen Kindes predigen und die natürliche Ehrfurcht vor dem reiferen Menschen in ihm ersticken – für sie muß die Prügelstrafe erhalten bleiben, nicht für die bejammernswerten Opfer ihrer »Liebe«. Jene zärtliche Mutter aber, die ihren Sohn peinigte, weil er in der Klasse nicht der Erste, sondern »nur« der Zweite geworden war, werde ich mit Vergnügen persönlich erdrosseln, sobald ich die obrigkeitliche Genehmigung dazu erhalten habe.


 << zurück weiter >>