Otto Ernst
Heidéde!
Otto Ernst

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XIII.

Weihnachten, Indianer und Hampelmann – Schmeißer & Co. – Ein Mißerfolg – Wir Neureichen – Trompetenduett – Was ist Modernität? – Rollerolle auf zwei Gipfeln.

Weihnachten! Ihr sagt, es sei ein Fest für die Kinder. Schwindelt doch nicht! Es ist ein Fest durch die Kinder und ist vor allem ein Fest für euch! Es ist ein Fest durch das Gotteskind von Bethlehem und durch die junge Sonne, die es bringt, und durch alle Kinder, die sich an diesem Tage freuen.

Einen Vorboten der Weihnachtsfreuden hat Heidéde entdeckt, sowie er am Morgen den Fuß ins Speisezimmer setzt. »Date! Date!« ruft er mit Leidenschaft. »Date« ist bekanntlich der Imperativ Pluralis von »dare« und heißt »Gebt!«, und so ist klar, wie recht die Altphilologen haben, wenn sie den lateinischen Unterricht der Kinder für das Natürlichste von der Welt halten. Am gegenüber befindlichen Türpfosten hing nämlich ein Hampelmann. Den hatte der Indianer Heidéde mit dem ersten Blick erfaßt, und schon nach fünf Minuten hatte der Hampelmann ein Bein verloren. Nicht weil Heidéde etwa ein Zerstörer aus Grundsatz wäre, sondern weil er Kraftmensch ist. Einen großen, gewaltigen Kleiderschrank fand Heidéde eines Morgens an einem andern als dem gewohnten Platze. Er ist aber ungeheuer ordnungsliebend und, wie die Kinder im allgemeinen, konservativ; alles muß seinen richtigen Ort haben, und so stemmte er sich sofort gegen den Schrank, um ihn wieder an die alte Stelle zu schieben. Es gelang ja nicht; aber in magnis et voluisse sat est, in großen Dingen ist auch schon das Wollen verdienstlich. So hat er mir auch schon wiederholt die Ärmchen um die Beine geschlungen, um mich dorthin zu tragen, wo er mich haben wollte. Das erste, was not ist zur Tat, das hat er: den Mut zum Anpacken.

Und das wißt ihr ja auch alle: Jungenskraft wirkt sich in kaum einer Beschäftigung lieber aus als im Werfen oder, wie man in diesem Falle sagen muß: im Schmeißen! Mir war ehemals ein Gegenstand ehrfürchtiger Bewunderung ein Schulkamerad, der aus freier Hand einen Stein über ein vierstöckiges Haus hinwegschleudern konnte. Was in unserm Hause plötzlich alles fliegen kann, davon macht man sich keinen Begriff; manchmal möcht ich an den Spuk von Resau glauben. Und Rollerolle, in allem seinem erhabenen Vorbilde nachahmend, hat den Ehrgeiz, hinter seinem Erzieher nicht zurückzubleiben.

Weihnachten! Alle Eltern werden euch erzählen können, daß sie sich an den ersten Weihnachtsfesten ihrer Kinder oft verrechnet haben. Ich will gar nicht von Vätern sprechen, die ihrem Söhnchen am Tage der Geburt ein Schaukelpferd mitbringen – sogar Großväter sollen das fertiggebracht haben; wie kann man –! – Nein, ich denke an den Tannenbaum! Welches junge Elternpaar dächte nicht Monate voraus mit strahlenden Augen an die strahlenden Augen, die das halbjährige, das ganzjährige, oder doch gewiß das 17, das 19 Monate alte Kind beim Anblick des Lichterbaumes machen werde! Meine Frau und ich haben uns darin wiederholt und schwer getäuscht. Und als die beiden Buzi in die Weihnachtsstube gehüpft waren und vor dem Baum standen, da zeigte der erste auf eine in der Ecke stehende brennende – – Lampe und sagte: »Licht!« und dann stürzte er sich sofort auf ein hölzernes Schaf und rief begeistert »Dira!« (»Dira«, wie man weiß, ist unsere Wolfshündin und sind alle Tiere), und der Tannenbaum war erledigt, und nicht anders wirkte er auf den zweiten. Ich habe mich dann auf die Lauer gelegt und gewartet, ob, wenn nicht das sprunghaftere Wölfle, so doch vielleicht der beschauliche Heidéde einmal zum Tannenbaum zurückkehren und ihn mit seinen andächtigen Augen bestaunen werde – nichts dergleichen geschah. Ich habe keine Erklärung dafür. Vielleicht ist des Lichtes zu viel, als daß sie zu einem wohlbegrenzten Bilde, zu einer runden, abgeschlossenen Wahrnehmung und Vorstellung kommen könnten; vielleicht sehen sie das Licht vor Lichtern nicht. Am Tage, als er nicht brannte, bewiesen sie dem Baume mehr Aufmerksamkeit; sie erkannten die einzelnen Gegenstände, die daran hingen, und betasteten sie mit Neu- und Habgier.

Also das war im ganzen eine Enttäuschung; aber sonst hatten wir glänzend kalkuliert. Jedes unserer Geschenke hatte ins Weiße des Kinderherzens getroffen; jedes war ein voller Erfolg, sogar das Paar Stiefelchen, das der Knecht Ruprecht für Heidéde hingestellt hatte, das er mir staunend zeigte und dann durchaus mir anziehen wollte. Da ich keine junge Dame bin, hab ich gar nicht erst den Versuch gemacht. An Augenmaß, wie man sieht, fehlt es Buzi dem Großen noch sehr. Durch die vielen Verwandten und Freunde ist die Zahl der Geschenke – fast hätt ich gesagt: leider – recht groß geworden; es ist fast wie bei Raffkes oder Neureichs, und doch zählen wir nur auf Grund der beiden Buben zu den Neureichen. Aber die meisten Spielzeuge werden nach dem Feste beschlagnahmt und nur nach und nach und einzeln freigegeben. Wenn man seinen Kindern ein recht sprunghaftes und flatterhaftes, unstetes, oberflächliches, stumpfes, gelangweiltes, Phantasie- und geistloses Wesen beibringen will, so braucht man sie nur mit Spielzeugen zu überschütten. Gebt einem Kinde ein Spielzeug, abwechselnd auch zwei oder drei, und es kann sich ein Jahr lang daran freuen und entwickeln; gebt ihm zwölfe, und es verlangt morgen nach dem dreizehnten und vierzehnten und hat auch am hundertsten keine Freude mehr. Der Sinn des Spiels ist Sammlung, nicht Zerstreuung.

Am ersten Weihnachtsfeiertag hab ich mir dann, wie mir keiner verdenken wird, einen guten Tag gemacht, hab mich an dem Drama, das ich weiterbringen, an dem Baumkuchen von Briefen, die ich erledigen sollte, mit scheuem Verbrecherblick vorbeigedrückt, mich auf den Fußboden zu den beiden gesetzt und gespielt. Umsonst ist dieses Vergnügen freilich nicht, das glaubt mir; manchmal fühl ich die Großvaterliebe in allen Knochen. Besonders Buzi I. gibt keine Ruhe, bis seine Tagesordnung bis auf jedes Tipfelchen erledigt ist; er ist in allen Dingen für eine »erschöpfende« Behandlung. Und das ist das Schöne an Kindern: morgens, wenn sie aufstehen, ist man glücklich, und abends, wenn sie im Bett liegen, ist man's auch.

Den größten Treffer scheinen wir doch mit den beiden Baukästen gemacht zu haben; ich muß bauen und bauen, damit sie umschmeißen können, und jedesmal muß ich vor Schreck mit umfallen, und jedesmal gibt es ein gar nicht auszuquietschendes Vergnügen. Aber auch sie bauen schon mit Andacht und Kühnheit. Anstrengend sind sodann die beiden Trompeten. Jeder von ihnen hat eine Trompete bekommen, auf der man den Pilgerchor aus dem Tannhäuser, die Holländer-Ouvertüre, Beethovens »Die Himmel rühmen,« die Erlösungsfanfare aus dem »Fidelio«, den 1. Akt des Don Juan, kurz: die köstlichsten Werke der Musik anfangen kann. Mit besonderer Leidenschaft bläst Rollerolle; in ihm scheint überhaupt ein Musiker zu stecken; er wiederholt einen vorgesungenen Ton vollkommen richtig und tutet auf allem, was eine Öffnung hat. Vielleicht steht in ihm der Kapellmeister und Tondichter auf, den ich in mir ersticken mußte. Allerdings wird man bei ihm auf das Modernste gefaßt sein müssen. Wenn eine meiner Töchter Klavier spielt und singt, greift er plötzlich einen Baß dazu, der unserer Zeit weit vorauseilt und heute wenigstens noch nicht erlaubt ist. Eines Tages, als Heidéde meiner Tochter andächtig zugehört hatte – »Tatte tut tut!« hatte er allen laut verkündet –, betätigte Rollerolle sich wieder kontrapunktisch; da aber zog ihm sein Musiklehrer, auch hierin konservativ, die Hände von den Tasten und rief ernstlich verweisend »Bäbii! Bäbii!«, umklammerte ihn wie einen Kartoffelsack, schleppte ihn eine ganze Strecke weit fort, setzte ihn dann nieder und hörte wieder andächtig zu.

Wenn beide zugleich blasen, wirkt es weniger schön, zumal da die Instrumente nicht gleich gestimmt sind; aber man erträgt es, weil es ja nicht lange dauern wird. Kindertrompeten bringen es im Durchschnitt auf ein Alter von zwei, höchstens drei Tagen; dann verstummen sie für immer. Und in diesem Punkte ist Heidéde nicht konservativer als Rollerolle.

Als ein vollkommen modernes Kind erwies sich Rollerolle an einem Tage, da er das Taschentuch seiner Großmutter ergriff und ihr die Nase putzte. Denn was heißt »Modernität«? »Modernität« heißt Fortschritt, und worin besteht aller Fortschritt? Darin, daß die Säuglinge den Eltern und Großeltern die Nase putzen.

Zum Glück schreitet Rollerolle noch in andrer Hinsicht vorwärts und aufwärts. Seitdem er damals die Schlüsselbeine der Großmutter mit Führer erstiegen, hat er sich mächtig entwickelt und ohne Führer, Eispickel und Seil die Dreistufenspitze »gemacht«, den Tritt zu meiner Bücherei, und hat es mir, als er den Gipfel erreicht hatte, mit Jauchzen verkündet wie der Knab vom Berge.

Und noch einen andern Gipfel hat er kürzlich erklommen, den der Frechheit. Auch er strebte mit lüsternen Fingern die große Papierschere an, und ich sagte: »Nein«!

»Nein?« fragte er ironisch lächelnd.

»Nein!« wiederholte ich.

»Ja!!« versetzte er.

Dabei machte er ein Gesicht, daß ich ihn, wenn es nicht gegen alle Disziplin gewesen wäre, fürchterlich abgeküßt hätte. In diesem – ich hätte beinah gesagt: geistvollen – Amoretten-Lächeln war nämlich gar keine Frechheit, höchstens ein Anflug von Keckheit, vor allem aber die Frage: »Hab ich da nicht einen ausgezeichneten Witz gemacht?« Er »uzt« sich überhaupt über die Maßen gern mit mir, versucht es auf jegliche Art, mich zu necken, »Streit« mit mir anzufangen, und ich gehe immer mit großer Zornmütigkeit darauf ein, weil ich mir sage: Was sich neckt, das liebt sich.

Geist bedeutet es wirklich, daß dieses Häuflein schon den Gegensatz von »Ja« und »Nein« begriffen hat.

Und überrascht hat mich an jenem Weihnachtsmorgen noch ein andres. Buzi II. ist nicht so beharrend im Spiel wie der Erste; er sucht häufiger Abwechslung. So gab ich ihm wieder einmal meine Uhr. Er hielt sie ans linke Ohr und horchte. Dann mußt' ich sie aufmachen, zumachen, aufmachen, zumachen usw., und nach einiger Zeit hielt er sie wieder ans Ohr, aber diesmal ans rechte! Das ist merkwürdig. Er weiß schon, wenigstens instinktiv, daß man auf beiden Seiten des Kopfes hören kann. Vielleicht hat man ihn von Anfang an die Uhr rechts und links hören lassen, so daß schon Gewöhnung vorliegt; aber für ein Kind im Alter von 17 Monaten wäre es ohne Zweifel näherliegend, die Uhr immer ans gleiche Ohr zu halten.


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