Josef Ettlinger
Benjamin Constant - Der Roman eines Lebens
Josef Ettlinger

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VII. In Lebensfluten

(1795–1799)

Die unvermeidlichen Enttäuschungen sollten ihm bei diesem ersten Schritt in die politische Arena nicht erspart bleiben. Gleich zu Anfang mußte er einen beträchtlichen Teil seiner mitgebrachten republikanischen Illusionen als Ballast über Bord werfen und sich überzeugen, daß der Durchzug durch das blutrote Meer der Revolution das französische Volk noch keineswegs in das gelobte Land der Freiheit und Gesittung geführt hatte, daß die Nation vielmehr von Zivilisation und Wohlfahrt noch himmelweit entfernt war. Und zu dieser allgemeinen Ernüchterung gesellten sich unliebsame Erfahrungen persönlicher Natur. Man stand im Begriffe, die sogenannte Konstitution des Jahres III einzuführen, zu deren Bestimmungen es gehörte, daß zwei Drittel der bisherigen Konventsmitglieder in das neue Parlament mit übergehen sollten. Die Provinzen waren dafür; in Paris, wo nach Robespierres Sturz das royalistische Element sich wieder stärker regte, überwog die Stimmung dagegen. Constants Unerfahrenheit wurde dazu ausgebeutet, ihn ebenfalls gegen dies Gesetz einzunehmen, so daß er es in drei scharfen Zeitungsartikeln (in den von Suard herausgegebenen »Nouvelles politiques«), die beträchtliches Aufsehen erregten, öffentlich bekämpfe. Erst der laute Beifall der royalistischen Gruppe ließ ihn erkennen, wessen Geschäfte er besorgt hatte, und so schlug er sich gleich mit seinem ersten Debüt als politischer Publizist eine für sein Selbstgefühl ziemlich schmerzhafte Beule, die er sich fortan als Lehre dienen lieh.

Frau von Staël, die zeitlebens ein Publikum, ein Auditorium gebrauchte, einen größeren Kreis, vor dem sie ihre geistige Lebendigkeit sprühen lassen konnte, hatte sehr bald nach ihrer Rückkehr in das schwedische Gesandtschaftshotel ihre Salons wieder zum Mittelpunkt der politischen und literarischen Welt gemacht. Angehörige aller Parteien trafen sich hier, Konventsmitglieder, heimgekehrte Emigrierte, Künstler und Schriftsteller, mißvergnügte Journalisten, Diplomaten des In- und Auslands, ehrgeizige Frauen, die eine politische Rolle zu spielen wünschten, alles überhaupt, was der unhaltbaren herrschenden Zustände überdrüssig war und so oder so einen Wandel der Dinge herbeiwünschte. Inmitten dieser blasierten oder leichtsinnigen, verkniffenen oder neugierigen Physiognomien nahm sich die überschlanke, hohe, schon etwas Vornüber geneigte Gestalt Benjamin Constants mit den langen rötlichen Haarsträhnen, die an einen deutschen Studenten erinnerten, und den kurzsichtigen Augen, die er meist mit einem Lorgnon bewaffnen mußte, einigermaßen seltsam aus, aber sehr bald hatte er sich hier eine Position gemacht, die seinem Selbstgefühl wohl schmeicheln durfte. Zeugen jener Zeit bestätigen es, daß, wer ihn noch im vorangehenden Jahre in Lausanne gesehen hatte, ihn jetzt in Paris kaum wieder erkannte. War er bis dahin in größerer Gesellschaft oft bis zur Unhöflichkeit wortkarg und schweigsam gewesen, so entwickelte er jetzt zeitweilig eine Suada, ein Brillantfeuer an Beredsamkeit, eine treffende Schlagfertigkeit und Bereitschaft des Ausdrucks, in der ihm nur Frau von Staël selbst ebenbürtig war. Das wunderbare geistige Ergänzungsverhältnis dieser beiden Menschen, das noch durch den Zauber erotischer Anziehung gesteigert und beschwingt wurde, hat, wie in diesen ersten Jahren, so auch später noch, als jener Zauber längst geschwunden war, auf viele Augen- und Ohrenzeugen wie ein Phänomen gewirkt, und Frau von Staël selbst hat öfters bezeugt, daß sie bei niemandem je diese unvergleichliche Resonanz ihres eigenen Wesens gefunden und daß niemand ihr so unfehlbar ihr Stichwort zu bringen verstanden habe, wie Benjamin. Umgekehrt war sie es, deren befeuernde und beflügelte Einwirkung ihm erst den Anreiz gab, aus sich herauszugehen, seine ungewöhnlichen Gaben zu entfalten und zu nutzen.

Ein naher Bekannter der Frau von Charrière, der Benjamin schon in deren Hause gekannt hatte und jetzt in Paris wieder traf, schildert ihn der vereinsamten Herrin von Colombier als derart toll verliebt, wie man es sonst höchstens mit achtzehn Jahren zu sein pflegte, dazu eifersüchtig wie ein Tiger. Von zwei Uhr mittags bis drei Uhr morgens komme er nicht aus ihrem Salon, und er schreibe ihr schon wieder, kaum daß er vom Schlaf aufwache. Unter allen Muscadins und Incroyables der Gesellschaft von 1795 war er einer der elegantesten, was er sich allerdings leisten konnte, denn bei der heillosen Papiergeldwirtschaft der Revolution und der ungeheuren Teuerung war das Bargeld derart im Kurse gestiegen, daß ein Schweizer Louisdor in Paris achthundert Franks wert war. Wenn dabei ein Diner hundert Franks, ein Anzug dreitausend Franks kostete, so lebte man noch billig. Benjamin hätte nicht der passionierte Spieler sein müssen, der er seit früher Jugend war, wenn es ihn nicht gereizt hätte, aus dieser Wirtschaftskonjunktur Nutzen zu ziehen. Er hatte ursprünglich noch nicht die Absicht gehabt, dauernd in Paris zu bleiben, jetzt verlockten ihn die lächerlichen Preise, zu denen die Nationalgüter losgeschlagen wurden, sich anzukaufen, wenn auch nur in der spekulativen Absicht, die Besitzungen später mit Gewinn wieder loszuschlagen. Etwas vertrauter mit den Verhältnissen geworden, ließ er sich in eine förmliche Terrainspekulation ein und legte einen beträchtlichen Teil seines flüssigen Kapitals in Grundstückwerten an, wofür er sich in einem Briefe an seine Tante Gräfin Nassau einen Jahresnutzen von zwanzig Prozent herausrechnet. Die Verwaltung dieser Güter gedachte er seinem Vater zu überlassen, um diesem einen neuen Wirkungskreis zu schaffen. Er selbst wollte entweder auf einer der neuerworbenen Besitzungen nahe bei Paris mit einem Teil seiner Bibliothek oder auf seinem Landgut La Chablière bei Lausanne den Winter verbringen; doch sollte es beinahe Weihnachten werden, ehe sich Frau von Staël, mit der er die Rückreise machte, von Paris trennen konnte. Der Abschied war auch diesmal nicht freiwillig, denn nachdem sie allmählich durch ihre vermittelnde Haltung zwischen den alten konstitutionellen Freunden und den Republikanern in beiden Lagern Mißtrauen geweckt hatte, war Baron Staël, der schon seit dem Frühjahr wieder in Paris weilte und mit den revolutionären Machthabern geflissentlich fraternisierte, von der neuen Regierung beauftragt worden, seine Gemahlin aus Paris zu entfernen.

Ende 1795 traf sie in Benjamins Begleitung in Coppet wieder ein, wo sie während des ganzen folgenden Jahres blieb, ihrem Vater, ihren Kindern, ihren Freunden und ihren literarischen Arbeiten gewidmet, von denen die große Studie »über den Einfluß der Leidenschaften auf das Glück der Individuen und der Nationen«, das erste Dokument der romantischen Psychologie, im Laufe des Sommers erschien. Constant seinerseits teilte die ersten Monate des neuen Jahres zwischen Coppet und Lausanne, um dann allein nach Paris zurückzukehren, wohin ihn seine wirtschaftlichen Interessen riefen. Sein publizistisches Gesellenstück, die unter Frau von Staëls Mitwirkung entstandene Schrift »Sur la force du gouvernement actuel de la France et de la nécessité de s'y rallier«, die erhebliches Aufsehen erregte, erschien in eben dieser Zeit und war dem Direktorium für seine Zwecke so wertvoll, daß es sie im offiziellen »Moniteur« in Fortsetzungen drucken ließ. (In deutscher Sprache nahm sie Huber etwas später in seine Zeitschrift ›Neue Klio‹ auf). Diese offene Unterstützung der Direktorialregierung machte ihn, der sich jetzt besonders an Marie-Joseph Chénier, den Faublas-Verfasser Louvet und andere anschloß, zur Zielscheibe von allerhand Angriffen der royalistischen und jakobinischen Kreise, die ihn mit dem Hinweis darauf unschädlich zu machen suchten, daß er kein französischer Bürger sei. Tatsächlich war er es durch ein schon im Dezember 1790 erlassenes Dekret, das den Nachkommen der ihrer Religion wegen aus Frankreich vertriebenen Refugiés ihr französisches Bürgerrecht zurückgab, falls sie zurückkehrten und den Bürgereid leisteten; aber da das Gesetz für diejenigen, die länger als sieben Jahre außerhalb Frankreichs gelebt hatten, einen ständigen Aufenthalt von gleicher Dauer zur Vorbedingung machte, vermochte er vom Direktorium nicht ohne weiteres die Bestätigung seiner französischen Nationalität zu erlangen. Erst die im Jahr darauf erfolgende Einverleibung Genfs in die französische Republik machte, da er das Genfer Bürgerrecht besaß, dieser Schwierigkeit ein Ende. Im übrigen erschien ihm Paris im Sommer und ohne Frau von Staël samt ihrer ganzen Sphäre öde und uninteressant, und er zog sich in der heißen Zeit auf sein Landgut in Herivaux zurück, allerdings nicht für lange: ein besonders scharfer Zeitungsangriff wurde Mitte Juli die Veranlassung, daß er dessen Verfasser zum Zweikampf forderte, der – es war nicht sein erster und sollte nicht der letzte sein – für ihn selber glücklich ablief. Frau von Staël hatte von dem Ehrenhandel in Coppet nur durch eine Zeitung Kenntnis erhalten, und ihre Briefe an Rosalie von Constant aus diesen Tagen lassen die wahnsinnige Angst erkennen, in der sie sich um das ihr jetzt teuerste Leben verzehrte. Sie selbst mußte sich bei der fortgesetzt feindseligen Stimmung der Direktorialregierung, der sie durch ihre Verbindungen mit Emigrierten verdächtig blieb, nach wie vor der Hauptstadt fernhalten, obwohl sie schwer genug unter dieser Ausschließung litt und sich vorkam, wie der Fisch auf trockenem Lande.

Anfang August befand sich Benjamin mit heiler Haut wieder in Coppet, wo er mit den üblichen Unterbrechungen, die sein zeitweiliger Aufenthalt in Lausanne nötig machte, bis zum Beginn des folgenden Jahres blieb. Vom Spätherbst ab weilte auch Baron von Staël noch einmal für längere Zeit bei den Seinen in Neckers Hause, nachdem er bei dem eben zur Regierung gelangten König Gustav IV. in Ungnade gefallen und seines Pariser Gesandtschaftspostens enthoben worden war: es sollte das letzte längere Zusammensein der beiden Gatten sein, die längst nur noch die äußere Form als solche verband, denn im Laufe des nächstfolgenden Jahres trennte sich Baron von Staël auch offiziell von seiner Gemahlin, als seine politischen und materiellen Zukunftsinteressen ihm diesen Schritt nützlich erscheinen ließen.

Außer der Politik, den Vermögens- und Herzensangelegenheiten, hinter denen seine Bücherarbeit zurücktrat, beschäftigten Constant in dieser Zeit verschiedene Prozesse, deren er sich auch in seinem ferneren Leben noch so manchen zuziehen sollte, und die Lage seines mehr als siebzigjährigen Vaters, der sich anscheinend nicht mehr zu einem festen Aufenthalt entschließen konnte. Trotzdem das kriegsgerichtliche Verfahren nach endlosem, fast zehnjährigem Instanzenzug mit seiner Rehabilitation und seiner formellen Ernennung zum General der batavischen Republik geendet hatte (von der er keinen Gebrauch mehr machte), war er noch mehrfach dieser Dinge wegen in Holland und in Paris gewesen, wo ihn Benjamin vergeblich festzuhalten suchte, dann wieder nach der Schweiz gekommen, um schließlich zu seiner neuen Familie nach Brevans bei Dôle zurückzukehren. Sein Tätigkeitsbedürfnis war noch immer rege genug, um ihm den dauernden Aufenthalt in dem weltfernen Juradorfe schwer erträglich dünken zu lassen, zumal er dort den großen Standes- und Geistesunterschied zwischen sich und seiner zweiten Frau schärfer empfand, als früher. In den folgenden Jahren führte er zu Benjamins Bekümmernis das unruhige Wanderleben fort, kaufte sich vorübergehend in dessen Nachbarschaft bei Paris an, um bald darauf den neuen Besitz mit Übereilung und Verlust wieder loszuschlagen, und setzte sich schließlich doch wieder in Brevans fest. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war nach wie vor das einer verleugneten Zärtlichkeit: Benjamin ließ es an liebevoller Sorge für seinen mißvergnügten alten Herrn nicht fehlen, aber so oft sie zusammen waren, stellte sich besonders auf des Vaters Seite die alte Zurückhaltung und Befangenheit ein. General Constant verhielt sich im übrigen den intimen Beziehungen Benjamins zu Frau von Staël gegenüber durchaus ablehnend und vermied es bei seinem Aufenthalte in der Schweiz geflissentlich, ihr zu begegnen. Benjamin seinerseits nahm ihm diesen Starrsinn nicht weiter übel, setzte dafür aber dem Projekte des Vaters, ihn mit einer seiner weitläufigen Cousinen zu verheiraten, ebenso bestimmten Widerstand entgegen.

Bald nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt ließ er im April 1797 eine neue politische Schrift erscheinen (»Des réactions politiques«) und hatte die Genugtuung, das erste Tausend binnen drei, das zweite binnen vierzehn Tagen vergriffen zu sehen, ein Beweis für die Beachtung, die sein Name nun bereits genoß. Sie wurde bald ins Deutsche übersetzt und kam in dieser Gestalt auch Kant in Königsberg zu Gesicht, der einen darin enthaltenen, gegen ihn gerichteten Passus einer ausführlichen Antwort in der »Berliner Monatsschrift« würdigte. (Unter dem Titel »Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen« ist sie später in Kants kleine anthropologisch-praktische Schriften übergegangen.) Der Königsberger Weise hatte irgendwo den Satz aufgestellt: selbst wenn ein Mörder bei der Verfolgung eines unserer Freunde uns frage, ob dieser sich in unserem Hause verborgen halte, seien wir nicht berechtigt, dem Freunde zuliebe den Mörder zu belügen.

Diese schroffe Theorie bekämpft Constant – übrigens ohne Kants Namen ausdrücklich zu nennen – mit dem Hinweis: der Begriff der Pflicht sei untrennbar von dem Begriff des Rechts. Eine Pflicht sei, was bei einem Wesen den Rechten eines anderen entspreche. Die Wahrheit zu sagen, sei also eine Pflicht; aber nur dem gegenüber, der ein Recht auf die Wahrheit habe. Kein Mensch aber habe ein Recht auf eine Wahrheit, die anderen schade. Diese relative Zulassung der Unwahrheit verdammt Kant in seiner gegen Constant gerichteten Abhandlung mit aller Entschiedenheit und erklärt jede wissentliche Unwahrheit für verwerflich, weil sie dazu beitrage, daß dann Aussagen überhaupt keinen Glauben mehr fänden, und so eines der wichtigsten sittlichen Fundamente der ganzen Menschheit, die Grundlage aller Verträge, untergraben helfe.

In einer anderen Broschüre desselben Jahres (»Des Effets de la Terreur«) unternahm Constant den Nachweis, daß die Schreckensherrschaft für die Begründung der Republik keineswegs notwendig oder gar nützlich gewesen, daß die Republik vielmehr nicht dank, sondern trotz dem Schrecken zustande gekommen sei, der die Sache der Freiheit nicht gefördert, im Gegenteil gehemmt, gefährdet und kompromittiert habe. In solchen wirkungsvoll vorgetragenen Beweisführungen lag eine starke Rechtfertigung der derzeitigen republikanischen Machthaber, und Constant, der in der Politik frühzeitig die Kunst des Möglichen erkannte, kam durch diese Unterstützung des Direktoriums vorübergehend in einen gewissen Gegensatz zu seiner Freundin, die mit den Regierungskreisen einstweilen noch auf gespanntem Fuße stand, weil sie ihren politischen Überzeugungen die Anhänglichkeit an ihre alten Freunde nicht zu opfern willens war.

Sie verweilte seit März 1797 wenigstens wieder in der Nähe von Paris, auf einer Besitzung Mathieus de Montmorency bei Hérivaux, wo sie sich in Benjamins nächster Nachbarschaft befand und ihre Pariser Freunde häufig bei sich sah, darunter auch wieder den im Jahre zuvor aus Amerika und Hamburg zurückgekehrten Talleyrand. Dieser war um jene Zeit die Seele des »Cercle constitutionnel«, eines politischen Klubs, der zur Bekämpfung des royalistischen Klubs von Clichy 1796 begründet worden war. Auch Constant gehörte dem »Cercle« als Mitglied an, zu dessen Sekretär er gewählt wurde, und entwickelte in den hier geführten Debatten zuerst sein bedeutendes rednerisches Talent, dessen bald größere Aufgaben warteten. Daß speziell Talleyrand, der Mitte Juli auf Betreiben der Frau von Staël von Barras zum Minister des Auswärtigen berufen worden war, diesem Talent seine besondere Aufmerksamkeit und großes Vertrauen schenkte, geht aus einer Erwähnung in Mallet du Pans Geheimberichten an den Wiener Hof hervor, in der dieser »junge Schweizer namens Constant« ausdrücklich als ein Protégé des ehemaligen Bischofs von Autun und als Mann von Wissen und Begabung, aber auch als »le plus pervers des hommes avant trente ans« bezeichnet wird; mehr noch aus einem Briefe Talleyrands selbst an den in Italien weilenden General Bonaparte, worin er ihm auf seine Anfrage nach einigen geeigneten Persönlichkeiten, die für die neuerrichtete Cisalpinische Republik eine Verfassung ausarbeiten und organisieren könnten, nächst Sieyès in erster Linie Benjamin Constant empfahl. »Er ist ein Mann ungefähr in Ihrem Alter, eifriger Freiheitsverfechter und ein Talent ersten Ranges. Er hat einige kleinere Werke veröffentlicht, die in energischem und glänzendem Stile geschrieben sind, reich an feinen und scharfsinnigen Bemerkungen. Sein Charakter ist fest und gemäßigt, seine Gesinnung unbedingt republikanisch und liberal." Bonapartes Aufbruch aus Italien ließ es jedoch nicht dazu kommen, daß diese Empfehlung praktische Folgen hatte, und es sollten volle achtzehn Jahre vergehen, bis Napoleon in den letzten hundert Tagen seines Kaisertums die Gelegenheit fand, von Constants Talent noch Gebrauch zu machen.

Dieser fand inzwischen eine ungewohnte Freude daran, sich auf seinem neuerworbenen Tuskulum in Hérivaux bei Luzarches – etwas nördlich von Paris, unweit den Ufern der Oise – als Agrarier zu fühlen. Das administrative Amt eines Kantonspräsidenten, zu dem ihn das Vertrauen der Kreisbewohner gewählt Hatte, gab ihm das Gefühl heimatlicher Seßhaftigkeit, seine Bibliothek hatte er teilweise aus Lausanne kommen lassen und in dem kleinen alten Hause untergebracht, das ihm als Wohnung diente, und so oft es irgend im Laufe des Jahres die politische Beschäftigung erlaubte, flüchtete er aus der Hauptstadt hierher in die ländliche Stille, gab sich horazischen Stimmungen hin und suchte in der Tätigkeit eines Gutsbesitzers, in der Durchführung wirtschaftlicher Meliorationen, in der Anlage neuer Obst- und Weinpflanzungen und ähnlichen Dingen Erfrischung für die ermüdeten Lebensgeister.

Seine seelische Verfassung machte ihm ein häufiges Alleinsein gerade in diesen Monaten zum Bedürfnis und ließ es ihn als Wohltat empfinden. Das nun im dritten Jahre währende Verhältnis zu Frau von Staël fing an, ihm nachgerade zur schnürenden Fessel zu werden; zugleich aber war er sich ihrer Macht über ihn und der eigenen Schwäche hinlänglich bewußt, um zu fühlen, daß er nie die Willenskraft besitzen würde, sich aus eigener Initiative dieser Fessel zu entledigen. Eine legitime Heirat mit einer andern erschien dem Zweifelnden als der einzige mögliche Ausweg aus dem Dilemma und zugleich als das Mittel, seinem Privatleben überhaupt einen festen Boden zu geben. Recht wie ein großer Junge wandte er sich mit diesem Gedanken vertrauensvoll an seine Tante Adrienne von Nassau in Lausanne, die wie in den ersten Kinderjahren, so auch jetzt noch in allen möglichen Dingen Mutterstelle ihm vertrat, und ging sie alles Ernstes darum an, ihm aus ihren Bekanntenkreisen eine passende Frau auszusuchen. Ihr zuerst und allein gegenüber wagte er (Mitte Mai 1797) das offene Bekenntnis:

»Ein Band, von dem ich mich aus Pflichtgefühl oder auch, wenn Sie wollen, aus Schwäche halten lasse, das ich aber nun einmal, wie die Dinge liegen, nicht eher zu lösen vermag, bevor mich nicht irgend eine höhere Pflicht dazu zwingt, weil ich es nur durch das offene Eingeständnis zerreißen könnte, daß ich seiner schauderhaft müde bin (was mir meine Höflichkeit verbietet); ein Band, das mich in eine mir unsympathisch gewordene Welt mit hineinreißt und mich hindert, ganz meinem geliebten Landbesitz zu leben ... fesselt mich seit nunmehr zwei Jahren. Ich bin isoliert, ohne unabhängig zu sein. Ich bin gebunden, ohne verbunden zu sein. Ich sehe die letzten paar Jahre meiner Jugend dahinschwinden, ohne weder den Frieden der Einsamkeit zu genießen noch die Rechte einer legitimen Herzensneigung. Ich habe ganz vergeblich versucht, mich freizumachen. Ich besitze nun einmal nicht den Charakter dafür, dem Schmerz und den Klagen einer andern zu widerstehen und meinen Willen durchzusetzen, solange mir nichts im Wege steht, meine Selbstbefreiung noch von einem Tag auf den andern zu verschieben. So verbrauche und verzehre ich mich in einer Situation, die weder mit meinen Empfindungen, noch mit meinen Beschäftigungen, noch mit meinem Bedürfnis nach Ruhe im Einklang steht. Andrerseits, wenn der Bruch heute erfolgte, befände ich mich in einer Vereinsamung, die ebenso schwer auf mir lasten würde, wie der Gedanke an den wirklichen oder eingebildeten Kummer, den ich verursacht habe. Um darüber wegzukommen, müßte ich jemanden haben, dem ich ein wenig Glück zu geben vermag ... Erraten Sie, liebe Tante, worauf ich hinauswill? Auf etwas, was mich seit einem Jahr schon beschäftigt, worüber ich wohl schon zwanzig Briefe an Sie geschrieben und wieder zerrissen habe, kurz – darauf, Sie um eine Frau für mich zu bitten. Mein Glück hängt davon ab! Und um ihr von vornherein mit Freundschaft und Achtung begegnen zu können, will ich sie aus Ihrer Hand erhalten. Sie sollen sie mir verschaffen, einer weiteren Motivierung bedarf es nicht. Ich verlange nur wenig Vermögen; der Herkunft nach wäre mir eine Genferin lieber als eine Schweizerin, weil mir als neubestätigtem Franzosen daran liegen muß, eine Französin zur Frau zu haben; Alter nicht über sechzehn Jahre, eine leidliche Erscheinung ohne ausgesprochene Mängel, einfache Lebensgewohnheiten, Ordnungsliebe und die Fähigkeit, auch die strengste Zurückgezogenheit zu ertragen, das heißt acht Meilen von Paris zu leben und es so selten wie möglich aufzusuchen. Was Charakter angeht, so verlasse ich mich auf Sie; was Geist betrifft, so habe ich den Magen davon voll.«

Frau von Nassau war anscheinend klug genug, den ehrenvollen Auftrag liebenswürdig, aber bestimmt abzulehnen, denn sie kannte die Natur ihres Neffen und wußte, wie leicht seine Stimmungen und Entschlüsse wechselten. Wie richtig sie damit urteilte, beweist Benjamins Antwort, sechs Wochen nach dem eben gehörten Briefe. »Sie wollen also durchaus, liebste Tante, daß Ihr getreuer Neffe ein Hagestolz bleibt! Ihr Wunsch ist mir Befehl. Ich füge mich ihm um so lieber, als meine legitime Souveränin wieder zurückgekehrt ist, und damit jeder Gedanke an eine Insurrektion an Tollkühnheit grenzen würde. Ernsthaft gesprochen: ich habe gerade jetzt wieder so große und zwingende Beweise hingebungsvoller Freundschaft von derjenigen erfahren, von der ich mich zu ihrem wie zu meinem Besten etwas absondern zu sollen vorübergehend geglaubt hatte, daß ich ohne die gröblichste Undankbarkeit und ohne das bitterste Unrecht zu tun, jetzt nicht daran denken kann, ihr auch nur mit irgend etwas zu nahe zu treten.«

Man versteht diesen Widerruf auch ohne nähere Kenntnis seiner Veranlassung, wenn man erfährt, daß am 13. Oktober Frau von Staël einer Tochter das Leben gab, die späterhin – wie die Memoiren von Barras und andere zeitgenössische Zeugnisse erzählen – durch die Ähnlichkeit in den Gesichtszügen, der Haarfarbe, der ganzen Haltung überhaupt aller Welt als das frappante Ebenbild Benjamin Constants erschien. Es war Albertine, die spätere Herzogin von Broglie, die nachmals ihrer Mutter bis zu deren Tode eine unzertrennliche Begleiterin bleiben sollte.


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