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VIII.

Dann werden sich öffnen die Augen der Blinden und die Ohren der Tauben
sich erschließen. Der Lahme soll
springen, wie ein Hirsch, und des
Stummen Zunge sich lösen.

Jesaias XXXV, 5.

 

Mit nackten Beinen, ein weisses Tuch um die Schultern, auf dem Kopf einen grossen Papierhut zog Gino durch die Gassen, er trug ein langes Holzschwert in der Hand. An kurzer Leine schleppte der taubstumme Junge eine Ziege hinter sich her, die am Halse und am Schwanze, an den Hörnern und allen vier Beinen grosse Schellen trug. Um den Leib hatte man ihr eine Decke gebunden und darauf rittlings, das Gesicht zum Schwanze hin, eine grosse Puppe befestigt. Sie war primitiv genug aus Werg und schwarzen Lappen gefertigt; zwei rote Perlen dienten ihr als Augen. Sie hatte zwei Hörner, eine lange rote Zunge und einen grünen Schwanz; die Leute begriffen, dass sie den Satan darstellen sollte.

Gino krächzte seine heiseren Laute, dazu schlug er mit dem Schwert auf den Teufel los. Die Ziege meckerte ängstlich und läutete dabei mit elf lauten Schellen. So zogen sie durchs Dorf, und hinter ihnen liefen die Kinder und Weiber. Zuweilen griff der Junge in seine Tasche und verteilte kleine Zettel unter die Leute.

Teresa stellte das Brot auf den Tisch und ging ans Fenster. »O,« rief sie, »sie haben einen Aff aus dem armen Kind gemacht!«

Frank Braun trat zu ihr. »Das hat gewiss der Amerikaner getan.« lachte er. »Es ist eine Erinnerung an das Yankeeland. Er macht Fortschritte, der Mister Peter, er ist der Barnum von Val di Scodra! – Siehst du nicht, dass der Gino den Erzengel Gabriel vorstellen soll?«

Teresa lief hinaus. Sie löste der Ziege die Schellen und die drückende Decke und warf den schwarzen Puppenteufel in die Gosse. »Armer Junge!« rief sie und streichelte ihn. »Was haben sie mit dir angestellt?«

Aber der Erzengel Gabriel schien gar nicht so mitleidbedürftig, seine Rolle hatte ihm augenscheinlich Freude gemacht. Die Tränen standen ihm in den Augen, als ihm Teresa die Mütze und das Holzschwert abnahm, und ihn bedeutete, die Ziege hinauszuführen zur Weide. Trotzdem gehorchte er, warf dem Teufel einen sehnsüchtigen Blick nach und schlich davon.

»Seit wann spielst du Dorfpolizei und untersagst öffentliche Aufzüge?« fragte Frank Braun lachend. »Gib ihm doch seinen Säbel zurück.«

»Ich werde ihm etwas geben, das er lieber hat.« antwortete sie. Sie winkte Gino wieder heran, ging ins Haus und machte ihm ein grosses Butterbrot.

Der taubstumme Junge grinste und biss gierig hinein. Dann griff er in die Tasche und gab Teresa alle die Zettel, die er noch hatte. Sie warf einen Blick darauf und schleuderte sie auf den Boden.

»Warum so wild?« lachte Frank Braun. Er hob einen der Zettel auf und las ihn. Da stand, mit kantigen unbeholfenen Buchstaben:

Heute abend 8 Uhr pünktlich
Im Versammlungslokale

Grosse Teufelsschlacht.
Alle Christen sind herzlich geladen.

Elias, der Prophet

»Sieh doch, der Amerikaner kommt in Schuss!« rief er. »Wollen wir hingehen, Teresa?«

»Nein.« sagte das Mädchen.

»Doch!« bestand er. »Wir wollen hingehen. Er wird gewiss eine Ueberraschung haben heute abend; ich habe ihm neulich ein paar gute Lehren gegeben.«

Das Mädchen bat ihn: »Ich möchte nicht hingehen.«

»Und warum nicht?« fragte er. »Das ganze Dorf wird dort sein, warum willst du allein nicht hinkommen?«

»Vater ist auch nicht da.« wandte sie ein. Er lachte. »Dein Vater? Nun, ich werde ihm zwanzig Kronen geben, dann wird er gewiss mitkommen.«

Sie schwieg, das Blut stieg ihr ins Gesicht.

Aber er liess sie nicht los. »Glaubst du nicht, dass ers tun wird?«

Sie richtete sich auf und sah ihn an: »Ja, ich weiss wohl, dass er dann gehen wird. Ich weiss, dass er alles tut für Geld. Und ich weiss auch, dass er Geld von dir nahm, für – für mich – –« Ihre Brust ging hoch, sie rang nach Atem. So gefiel sie ihm gut und er liess wieder die Peitsche fallen, sie weiter zu treiben. Er sagte: »Nun, war es nicht sein Recht – seinen Anteil an dir zu Gelde zu machen?«

Sie wich einen Schritt zurück, hob die Arme und schloss sich die Ohren mit den Händen: »Schweig still!« rief sie. »Schweig still, ich will es nicht hören! – Er ist mein Vater.«

»Dein Vater ist ein Schuft,« sagte er lachend, »und du weisst es gut.«

Da brach sie zusammen. Sie warf sich schluchzend auf die Bank. »Was willst du von ihm? – Und was willst du von dem schmutzigen Amerikaner? – Ist es nicht genug, dass du mich hast?«

Er fragte: »Willst du mitkommen heute abend?«

Sie nickte.

* * *

Er liess sie allein und ging auf sein Zimmer. Er war sehr unzufrieden mit sich und pfiff ärgerlich durch die Zähne. Warum nur quälte er dieses Mädchen? Was wollte er mit seiner kindischen, aufgeblasenen Herrschsucht, die so leer und töricht war, so kaum Augenblicke ausfüllend? Ach ja: er war Caesar im Tale von Scodra. Er beherrschte den giftigen Pietro Nosclere, den Propheten, und mit ihm seine ganze Gemeinde. Was machte es aus, dass der Heilige in seinen Träumen sich selber fand, so sehr, dass er ihn bis zur Vernichtung hasste? Wenn er nur im Wachen seinen Willen tat!

Mit seinem Gelde aber beherrschte er den geizigen Raimondi, mit seinem Blicke das Mädchen, das ihn liebte. Wirklich: er war der König.

Er lachte bitter. Er wusste wohl, was ihm fehlte: nur ein wenig guter, dummer Köhlerglauben. Wenn er nur glauben könnte, dass dieser alte fleckige Lappen ein Purpur wäre – so war es ja ein Königsmantel! Sein Wille geschah, wohin er nur blickte in diesem Tale, o – warum konnte er nicht glauben an diesen einen Willen? Nur einmal stark und fest glauben an sich und seinen Willen zur Tat!

Ach, nicht einmal das war nötig! Nur ein wenig, ein ganz klein wenig brauchte er von dem wilden Glauben, der hier im Tale üppig blühte und wucherte. Val di Scodra glaubte für ihn, stark und unerschütterlich: Pietro an seine Sendung, Raimondi an die unermesslichen Schätze des Fremden. Das Mädchen aber an seine Liebe.

Drei grosse Lügen –

Waren es wirklich Lügen? Hatte sie der grosse Glauben des Tales nicht längst zur Wahrheit gemacht? Ach, wenn er selbst daran glauben könnte, einen kleinen Augenblick nur, so standen sie schon da, blank und klar, wie je eine grosse Wahrheit.

Er fühlte es wohl: nur der Glauben gab ein Glück. Er hätte hingehen mögen zu dem letzten kielkröpfigen Bettler und ihn anflehen: »Barmherzigkeit! Gib mir von deinem Glauben!« – Ein Quentchen Glauben war mehr wert als alle grosse Vernunft.

Er warf sich auf sein Bett und wühlte den Kopf in die Kissen. Er peitschte alle Gedanken zusammen, trieb sie in die Hürde, wie eine Rinderherde. Er liess sie einander begatten und Frucht tragen, immer neue tolle Bilder zur Welt werfen.

Pietro war der Prophet, der Jan Bockelson der Berge, der Zionskönig von Val di Scodra. Und Teresa wurde zur Heiligen, zugleich Divara und die Rose von Lima. Wunder geschahen und seltsame Taten in dem einsamen Tale, ein Hexensabbath hub an und ein toller Tanz aller wilden Wahne. Die ganze Welt war geladen zu diesem Schauspiel; er aber sass in seinem Kasten und zog die Drähte seiner Puppen.

War es nicht doch wert zu leben für dieses Narrenspiel?

Er sprang auf und rief nach Teresa; atemlos kam sie in sein Zimmer.

»Was soll ich?« fragte sie.

Er schrie sie an: »Glaubst du? Glaubst du? – An was glaubst du?«

Sie sah ihn an, ängstlich und scheu. »An, was willst du, dass ich glauben soll?«

Er nahm ihren Arm und schüttelte sie. »Ich will wissen, an was du glaubst. Nenne mir alles, woran du glaubst! – Glaubst du an Gott?«

»Ja.« sagte sie.

»Und an Jesum Christum, seinen Sohn?«

»Ja – ja.«

»Und an den heiligen Geist? Und an die Madonna? Und an die Heiligen?«

Sie zitterte. »Ja,« rief sie, »ja, ja!«

»An die Auferstehung der Toten? An den Himmel? An das Fegefeuer?«

Sie nickte.

»An alles, was die Kirche lehrt?«

»Ja,« sagte sie, »an allles was sie lehrt. – Warum fragst du?«

Aber er fuhr fort, seine Worte schlugen hart auf, wie Hagelkörner: »Glaubst du an die Liebe? Glaubst du, dass die Erde rund ist? Glaubst du, dass das da ein Stuhl ist? Und das ein Tisch? Dass du ein Mensch bist? Glaubst du, dass es ein Glück gibt auf dieser Welt?«

Sie erschrak, wich fast zurück vor ihm. »O, lieber Herr –« sagte sie.

Er schrie: »Gib Antwort!«

Da sagte sie furchtsam: »Ja, ich glaube das alles.«

Er lachte wild. »Alles, alles? – Du kannst alles glauben! – Wenn ich dir sage, dass heute der Pfarrer kommt, wirst du es glauben?«

»Ja – warum sollte ich es nicht glauben, wenn du es sagst.«

»Natürlich – warum nicht?! Ich werde dir sagen, die Sonne wird vom Himmel stürzen und du wirst es glauben. Ich will dir sagen, dass ein Wurm durch mein Hirn kriecht – du glaubst es – – du wirst ihn sehn und ihn fangen!«

Sie trat dicht zu ihm, streichelte leicht seinen Arm.

»Du bist krank,« sagte sie.

»Nein,« schrie er, »nein! Ihr seid krank – ihr alle: euer Glaube ist eure Krankheit! – Erschrick nicht, es ist eine gute selige Krankheit, und doch die ansteckendste, die es wohl gibt. Und ich sage dir, Kind, dass ich nichts sehnlicher wünsche, als angesteckt zu werden von ihr! Aber siehst du, das ist das Schlimme – ich bin immun!« Er lachte bitter.

Er setzte sich auf das Bett und zog sie zu sich. »Du bist der Glauben.« sagte er. »Ich will dich trinken, ich will mich baden in dir. – Weisst du, was ein Moorbad ist? Krüppel gehen hin und Lahme, kommen an Stöcken und Krücken und werfen sich nackt in den schmutzigen Schlamm. Und sie steigen heraus und recken die Glieder und gehen frei in alle Welt. – Ich bin nackt und bin rein und will mich nun baden in dem Schmutze des Glaubens. Ich kann nicht mehr gehen, siehst du, und alle meine Glieder sind lahm und steif. Küsse mich, Mädchen, nimm mich und küsse mich! Lass mich baden in deines Glaubens Schlamm.«

Er zog sie an sich, drängte sich an ihre Brust. »Antworte doch, antworte! Fühlst du denn nicht, was ich will? Du hast soviel starken Glauben, und ein bisschen, ein kleines bisschen nur sollst du mir geben! So viel Glauben nur, dass ich darauf stehen mag, oh, so viel nur, um mich festzugreifen mit einer schwachen Hand!«

»Liebster,« sagte sie, »Liebster! Ich will zur Madonna beten – Tag und Nacht –«

Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein, sie kann mir nicht helfen! Du musst es selbst tun, du! – Du bist die Madonna!«

Sie erschrak, ihre Arme zitterten. »Ich – bin – die Madonna –?« stammelte sie.

»Ja!« rief er. »Jeder hat seinen eigenen Gott. Und eines jeden Menschen Gott sieht so aus, wie er selbst ist. Niemand mag ihn schaffen nach fremdem Bilde. Deines frommen Beichtvaters Gott ist gut und milde, wie er selbst. Des Amerikaners Gott ist klein und schmutzig, wie er selber ist. Und deine Madonna ist voller Liebe – wie du!« – Er kniete und warf den Kopf in ihren Schoss. »Alle Menschen,« schluchzte er, »haben einen Gott, an den sie glauben dürfen. Nur ich habe keinen, nur ich nicht. – – Ich kann nicht glauben!«

Seine Stimme gellte, wie eines Ertrinkenden Schrei, brannte ihr wie ein Blitzschlag seine Verzweiflung ins Herz. »Nimm mein Leben!« hauchte sie.

Da sprang er auf und stiess sie zurück. »Ich will dein Leben nicht!« schrie er. »Was nutzt mir dein Leben? – Deinen Glauben will ich, den heissen Glauben! – Gib mir die Kraft an mich selbst zu glauben, so bin ich ein Gott, der dich hoch durch alle Himmel tragen will!«

»Ich glaube an dich.« sagte sie.

Er riss sie auf, griff sie und hob sie auf die Arme. »Du?«

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und bedeckte ihn mit Küssen. Aber er machte den Kopf frei, wiegte sie hin und her wie ein leichtes Bündel. »Du? – Ja, du glaubst an mich! Ihr alle glaubt an mich, dein Vater und Pietro und das ganze Dorf. Sogar dein Pfarrer glaubt an mich. Warum kann ichs selber nicht tun? – Sag mir, bin ich ein König, wenn alle Welt es sagt?«

Sie sah ihn an, aus ihren Augen brach der strahlende Glaube: »Du bist ein König.«

»Und du glaubst an mich? Mehr wie an alles, alles andere?«

Da klang es tief und klingend, wie ein Läuten abgestimmter Glocken: »Nur an dich will ich glauben.«

Ihm schwindelte, seine Füsse schwankten, er liess sich, ohne sie loszulassen auf das Bett fallen.

»Geliebte!« flüsterte er. –

* * *

Ihres Vaters Stimme drang durch das Haus. Sie löste sich aus seinen Armen, setzte sich auf.

»Wo willst du hin?« fragte er.

»Der Vater ruft mich.« sagte sie. Sie ordnete das Haar, strich die Kleider zurecht. Aber er hielt sie fest.

»Nein, du darfst nicht gehen,« rief er, »ich lasse dich nicht.«

Sie lächelte und küsste seine heisse Stirn. »Ich muss das Essen bereiten, Liebster. Wenn du nicht unten essen willst, bringe ich dir alles herauf.« – Sie beugte sich zu seinem Ohre. »Und zur Nacht bin ich wieder in deinen Armen.«

Er schloss die Augen und lachte bitter. »Zur Nacht? – Nein, nein, ich kann dich nicht lassen, du darfst keinen Augenblick von mir gehen!« Seine Lippen verzogen sich, ein grosser Schmerz lag auf seinen Zügen. »Geh nicht, geh nicht, sonst kommt es wieder.«

»Was kommt wieder?« fragte sie.

Er zog ihren Kopf herab und hielt ihn fest. »Höre, Teresa, ich will es so sagen, dass du es vielleicht verstehen magst. Der Zweifel kommt wieder, die Hölle und der Tod. Ich weiss, dass es kommt – es kommt im Augenblick, wenn du gehst, und es frisst das auf, was du mir gabst. Du musst bleiben. Nur so kann ich glauben, dass ich lebe. Du musst bei mir sein, ich muss dich sehen und fühlen.«

Sie lachte still und sicher, sie küsste seinen Mund und beide Augen. Dann sagte sie: »Nun – wenn du willst – so komm mit und hilf mir.«

So einfach kamen ihre Worte, so leicht und gewiss. Und ihm war, als ob der Weg, auf dem sie kamen von ihr, so klein sei und kurz: wie aus seinem Munde sprach sie zu ihm.

»Sags noch einmal!« bat er.

»Ja,« sagte sie, »so hilf mir in der Küche, wenn du magst.«

Er sprang auf, fröhlich wie sie. Hand in Hand eilten sie die Treppe hinab.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. »O wie spät es schon ist!« rief sie. »Wir müssen uns eilen, der Vater wird brummen! – Was willst du essen?«

»Speckpfannekuchen!« rief er.

Sie liess ihn den Teig rühren, dann musste er den Salat anmachen. Sie band ihm eine Schürze um und er trug die Schüsseln ins Gastzimmer.

Nach dem Essen half er ihr im Garten. Sie schnitten die Zweige von den Maulbeerbäumen, und streiften die Blätter für die Seidenraupen ab.

Ihr Vater rief sie; sie solle die Bücher für die Post in Ordnung bringen.

Frank Braun biss sich in die Lippen und fuhr mit der Hand in die Tasche: »Er soll dich in Ruhe lassen.« zischte er. »Ich will ihm Geld geben.«

Aber sie sah ihn bittend an; da schwieg er. Sie nahm die Bücher und trug sie auf sein Zimmer. »Bist du nun zufrieden?«

Er nickte und küsste sie.

* * *

Das Mädchen sagte: »Es ist acht Uhr vorbei. Wir wollten doch zu Pietros Teufelsschlacht?«

Er sah sie an. »Willst du hingehen?« fragte er unsicher.

Sie lachte. »Natürlich will ich! Mit dir!« Sie gingen langsam, machten einen grossen Umweg durch die Olivengärten. Einmal hielt sie ihn fest am Arm, zog ihn, dass er den Fuss rückwärts setzte.

»Was hast du?« fragte er.

Sie bückte sich, hob sorgsam einen Regenwurm auf, warf ihn in das Gras. »Du hättest ihn fast zertreten!« sagte sie vorwurfsvoll.

Er fragte: »Und du nimmst ihn auf? – Früher hättest du keinen Wurm angerührt.«

Sie sah ihn voll an. »Nein – früher nicht.«

Sie kamen spät genug zu Pietros Scheune. Der grosse Raum war gedrängt voll und sie standen hinten an der Türe. Die Leute sangen laut, niemand bemerkte ihr Kommen. Es gelang ihnen, sich durch zu schieben zur Seite hin, dort setzte er einen Stuhl auf die lange Bank, die an der Wand stand. Teresa kletterte hinauf und er stellte sich dicht neben sie. Sie legte den Arm auf seine Schulter.

Der Saal war schlecht genug beleuchtet und es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich gewöhnt hatten an den stickigen Dunst. Jedoch hatte der Amerikaner manche Verbesserung angebracht, von allen Querbalken hingen alte Laternen, in den plumpen Pfählen, die hinten das First trugen, staken vier schwälende Pechfackeln. Grosse weisse Pappschilder schmückten die Wände und Balken und durchbrachen leuchtend die trübe Luft. Teresa las die Sprüche und flüsterte sie ihm ins Ohr.

»Alleluja! Denn der allmächtige Gott hat das Reich eingenommen!« – »Selig sind, die zum Mahle des Lammes berufen sind.« – »Das Lamm, das erwürgt ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Stärke und Weisheit und Ehre und Preis und Lob.« – »Und der Teufel, der sie verführte, ward geworfen in den feurigen Pfuhl und Schwefel.«

Frank Braun lächelte. »Alles aus der Offenbarung –« murmelte er. »Er geht schon den rechten Weg!«

Die Gemeinde sang das Fronleichnamslied; schrill klangen die gellenden Stimmen der Weiber. Frank Braun hörte die überstolpernde Stimme der Frau des Venier, die vorne in der ersten Reihe sass. Viele standen, andere sassen und knieten; gerade unter dem Christusbilde hockte ein zweijähriges Kind auf dem Boden und lutschte eifrig an einem Stückchen Wurzel, unbekümmert um den Lärm ringsum.

Die Musik sass vorne in der linken Ecke des Saales; abscheulich schrieen die Instrumente durcheinander: Triangel, Tamburin und Harmonika.

Nicht weit von ihnen sass, auf derselben Bank, ein hageres Weib, ihre Bluse stand weit offen und an jeder ihrer schlaffen Brüste sog ein mageres Kind. Trotzdem sang sie eifrig, wie ihre Nachbarin, eine hässliche uralte Matrone, vor der ein fünfjähriger Bube kniete. Er schlief, den Kopf in ihrem Schoss, und die Alte suchte eifrig die Läuse aus den verfilzten Haaren. In der Mitte, auf einem niedrigen Schemel, den Leib weit vorgestreckt, hockte Sibylla Madruzzo, auf ihren kurzen Stab gestützt; etwas vor ihr sass ein alter Bauer, der stets jedes Wort dann erst begann, wenn die andern damit fertig waren. Um das Christusbild war ein kleiner Halbkreis freigelassen; da sass, ein wenig vor den andern, Pietro Nosclere, neben ihm Girolamo Scuro, sein riesiger Knecht.

Gino, Teresas Schützling, stand auf der andern Seite. Aber er schlüpfte durch die Menge, kroch auf allen Vieren zwischen den Röcken und Beinen durch, bis er bei ihr war. Er küsste ihr das Kleid und kauerte sich unter die Bank.

Das Lied war zu Ende. Der Amerikaner drehte sich um, da stand hinter ihm ein Mann auf und trat in den Halbkreis. Er war mager und dürr, wie ausgetrocknet von der Sonne, die Haut fiel in ledernen Falten über die Knochen. Er hielt das kleine, schwarze Gebetbuch in der Hand.

»Es ist Ronchi, der Schneider!« flüsterte Teresa. »Der, der neben der Kirche wohnt.«

Pietro ergriff das Buch, schlug es auf und gab es ihm dann zurück. Der Schneider nahm es, wischte sich mit dem Tuche über die Stirne. Er las die Litanei vom heiligen Namen Jesu, stockend, mühsam die Worte mit dem Finger verfolgend.

»Herr, erbarme dich unser!
Christe, erbarme dich unser!
Herr, erbarme dich unser!
Christe, höre uns!
Christe, erhöre uns!
Gott Vater im Himmel, erbarme dich unser!
Gott Sohn, Erlöser der Welt – –«

Und die Gemeinde antwortete: »Erbarme dich unser!«

Er hob ein wenig seine Stimme. »Gott heiliger Geist –«

»Erbarme dich unser!« rief die Gemeinde.

»Heilige Dreifaltigkeit, ein einiger Gott –«
»Erbarme dich unser!«
»Jesu, du Sohn des lebendigen Gottes« –
»Erbarme dich unser!«
»Jesu, du Abglanz des Vaters –«
»Erbarme dich unser!«
»Jesu, du Glanz des ewigen Lichtes –«
»Erbarme dich unser!«
»Jesu, du König der Glorie –«
»Erbarme dich unser!«

Und so ging es weiter, springend, stolpernd, in endlosem Falle. Jesu, du Licht der Bekenner Jesu, du Reinheit der Jungfrauen – Jesu, du Krone der Heiligen – weiter, weiter –

Die Worte füllten den Saal, troffen von den Wänden, drängten sich in die stickige Luft. Stiegen wie faule Blasen zur Decke, senkten sich drückend und erstickend auf diese armen Bauern.

Der Schneider sagte:

»Von allem Uebel, erlöse uns, o Jesu!
Von deinem Zorne, erlöse uns, o Jesu!
Von den Nachstellungen des Teufels –«

Und wieder fiel die Gemeinde ein: »Erlöse uns, o Jesu!«

»Von dem ewigen Tode –«
»Erlöse uns, o Jesu!«
»Von Verachtung deiner heiligen Einsprechungen –«
»Erlöse uns, o Jesu!«
»Durch das Geheimnis deiner heiligen Menschwerdung –«
»Erlöse uns, o Jesu!«

O, wie sie schrien! Wie sie all diese Mittel aufgriffen, um erlöst zu werden! Durch Kindheit und Geburt, durch das göttliche Leben und die Arbeiten, durch Todesangst und Leiden, durch Schmerzen, Tod und Begräbnis, durch Auferstehung und Himmelfahrt, durch die ewige Freude und die Glorie – – sie wollten erlöst sein!

»Erlöse uns, o Jesu! – Erlöse uns, o Jesu!«

Der Schneider las die Anrufungen des Lammes Gottes, betete das Vaterunser und das Gebet des heiligen Namens. Und die Gemeinde kniete und fiel ein, im lauthallenden »A-men«.

Pietro erhob sich und fragte, wer jetzt das Bedürfnis fühle, der Gemeinde zu beichten.

Sofort erhob sich sein rotkröpfiger Knecht. Er schob mit der schwieligen Faust die gewaltige Wampe zur Seite und sagte sein Sprüchlein – nun wohl schon zum hundertsten Male. Jedermann wusste es längst, dass er ein furchtbarer Säufer gewesen war, den nun die Gnade des Herrn erleuchtet hatte. Früher sei er viermal in der Woche betrunken gewesen und Sonntags zweimal –

Das vergass er nicht, das war sein Trumpf: Sonntags zweimal. Und die Gemeinde dankte ihm grinsend und nahm inbrünstig sein reuiges Bekenntnis auf. Die furchtbare Kropfstimme stiess schnell und heiser die Kehllaute aus der hohlen Brust, dazwischen sprangen, sich überstürzend, seltsame Schnalzer.

Frank Braun lauschte auf diese Stimme. »Wie die Hottentotten,« murmelte er, »wie die Clicksprache der Hottentotten.«

Kaum war er zu Ende, als sich hastig die Frau des Venier erhob. Sie wartete das Gebet nicht ab, das gewöhnlich der Amerikaner nach einer jeden Beichte sprach, sie drängte sich hastig durch die Reihen, warf sich vor dem Christusbilde in die Knie, berührte den Boden mit der Stirn und betete schluchzend. Dann sprang sie auf und wandte sich zur Gemeinde. »Ich will meine Seele sagen!« rief sie. »Ich habe immer geschwiegen und große Sünde auf mich geladen. Da hat der Herr in seinem Zorne seine Plagen geschickt und die Krankheit fasste mich und brachte mich an den Rand des Grabes. Kein Mensch konnte mir helfen, selbst der berühmte deutsche Doktor und seine Kunst waren ohnmächtig gegen den Willen des Herrn. Aber die Brüder und Schwestern verliessen mich nicht und knieten an meinem Bette und flehten zum Lamme, dass es mir Zeit lassen möge, noch auf dieser Erde die Sünden zu bereuen, die ich einst beging. Und Pietro Nosclere schrie zum Herrn und der Herr erhörte das Gebet seines Dieners. Und er legte in seine Hand meine Rettung und durch seine Hand bin ich gesund. Liebe Schwestern und Brüder, heute bin ich zum ersten Male wieder in unserer Gemeinschaft und da drängt es mich, allen zu sagen, wie schlecht ich war. Mein ganzes Leben war eine Kette von Sünden, und erst seit Bruder Pietro in unser Dorf kam und uns lehrte, den Weg zu gehen, der zum Heile führt, erst seit der Zeit bin ich ein treues Kind des Lammes. Ich war fest in den Krallen des Satans, aber sein heiliges Gebet brach die Gewalt des Bösen. Höret zu, wie schlecht ich war, und betet, liebe Schwestern, für meine arme Seele!«

Sie sprach schnell, überstürzte sich; sie schluchzte und rang die Hände. Ihr Gesicht war bleich und fast grün, abgezehrt von dem Fieber, aber ihre schwarzen Augen strahlten in heissem Glänze.

»Betet für mich, liebe Brüder und Schwestern, um Vergebung meiner Sünden. Mein Kind, das zweite, die Fiametta, ist nicht das Kind meines Mannes, des Mariano Venier. Ich war in des Teufels Klauen und brach das Wort, das ich ihm gelobte vor dem Tische des Herrn. Tritt her, Fiametta, dass dich alle sehen, du Frucht meiner Sünden!«

Sie drang in die Bänke, riss an den Haaren das verdutzte, kaum achtjährige Kind heraus. Es versuchte sich festzuhalten an dem Rocke des Vaters, heulte und schrie, aber das Weib zerrte es und stiess es vor sich her.

»Da steht es,« schrie sie, »die lebende Erinnerung sündiger Umarmung. Aloys Drenker, der Gendarm, ist sein Vater, mit ihm brach ich die Ehe! – O Brüder, o Schwestern, vergebt mir, betet mit mir zum Lamme um Vergebung meiner grossen Sünden!«

Sie schlug die Arme hoch in die Höhe, liess sie schwer niederfallen auf die mageren Schultern des Kindes. »Auf die Knie mit dir, schmutziger Bankert, und bete für die Sünden deiner Mutter!«

Sie kniete und stiess das Kind in die Knie.

»O, du Lamm Gottes, welches du hinwegnimmst die Sünden der Welt, erbarme dich unser, o Jesu!«

Und das Kind schluchzte unter heissen Tränen: »Erbarme dich unser, o Jesu!«

Frank Braun dachte: »Sieh doch, der Gendarm!« – Er sah, wie sie alle hindrängten zu dem Weibe, wie sie schielten nach des Kindes blondem Schopfe. Er sah Venier, der stumpf dastand, das Maul weit aufsperrte und sich in den Haaren kratzte.

Da hörte er Teresas Stimme, dicht an seinem Ohre. »Lass uns gehen, Liebster, lass uns gehen! Diese Leute sind schrecklich.«

Er suchte loszukommen, aber es schien unmöglich. Manche Nachzügler waren noch gekommen und der Raum war so überfüllt, dass man sich kaum regen konnte. Dazu war eine starke Bewegung in dem Saale, alles schob und drängte nach vorne, um Matilda Venier zu sehen, ihren Mann und das arme Kind, das die Frucht ihrer Sünden war.

»Es geht nicht.« flüsterte er ihr zu. »Wir müssen warten, bis sie ein wenig ruhiger sind.« Sie drängte sich eng an ihn, hielt seine Hand in ihren heissen Händen.

Der Amerikaner sagte ein Gebet, alle knieten und sprachen seine Worte mit. Dann hiess er sie aufstehen und begann seine Ansprache. Er sprach ruhig und fast flüssig, aber es war, als ob unter seinen Worten ein wildes Feuer laure, bereit jeden Augenblick zu hellen Flammen auszubrechen. Es waren dieselben armen, alten Gedanken – dass der Herr gnädig sei – und dass er auch voll Zornes sei. Dass der Heiland sein Blut gegeben habe für der Menschen Sünde – und dass man mit ihm kämpfen müsse gegen des Satans Gewalt. Die Macht des Teufels sei unendlich gross – aber des Erlösers Kraft sei noch viel stärker. Und der Mensch müsse unter des Heilandes Fahne ausziehen und in seinem Herzen die Schlacht schlagen gegen den Satanas.

Leise klatschend, wie aus einer Regenrinne bei leichtem Schauer flössen die alten Sätze. Aber Frank Braun fühlte, dass ein Wind wehte und dass ein wilder Sturm durch die drückende Schwüle fahren müsse. Er presste Teresa fest an sich, als wollte er sie einhüllen in einen Mantel. »Hör zu,« flüsterte er, »hör zu.«

Die Finger des Amerikaners krampften sich ineinander, in der dumpfen Stille hörte man die Gelenke knacken. Einen Augenblick schwieg er, dann riss es sich von seinen Lippen:

»Gott gab mir ein Zeichen!«

Und laut schrie er noch einmal: »Gott gab mir ein Zeichen!«

Es war, als habe er mit diesem Wort den grossen Fluss überschritten, der ihn aufhielt auf seinem Wege. Er blickte rasch über die Versammlung, sah die Augen, die sich in starrer Erwartung auf ihn richteten.

»Wartet nur, geliebte Brüder und Schwestern, ich werde es offenbaren. Aber zuvor höret ein anderes und nehmet mit mir Christi Blut, um eure Seelen zu stärken für den Kampf, in den ich euch führen werde.«

Er ging zum Christusbilde, bückte sich und hob vom Boden einen runden, kupfernen Wasserkessel, den er dem Knechte reichte. Dann nahm er zwei Flaschen roten Weines und goss ihren Inhalt hinein. Er fasste den Kupferkessel mit beiden Händen und wandte sich zu dem Gekreuzigten.

»O Herr Jesu Christe, der du der Welt Sünden trägst! In deines Priesters Hand wandelst du den Wein zu deinem Blute, dass er davon geniesse und deine göttliche Kraft empfange! Du hast auch mich gesalbt in deines Vaters Haus, so wolle auch diesen Wein durch das Wunder der Gnade zu deinem Blute wandeln.«

Langsam kniete er nieder, seine Lippen murmelten leise Gebete.

Niemand sprach, es herrschte eine Totenstille. Kaum zu rühren wagte sich die Gemeinde, selbst die Kinder drängten sich atemlos in die Röcke der Mütter. Und nur das Zweijährige, das dicht neben ihm sass auf dem Boden und an seiner Wurzel lutschte, beachtete ihn nicht und schwenkte die nackten Aermchen in der Luft.

Minuten vergingen, Pietro kniete und betete. Leise begann er und flehte um den Segen des Herrn. Bald aber wurde aus seinem Gebet ein lautes Schreien, ein Brüllen, ein Ringen mit Gott, als wolle er ihn zwingen hernieder zu kommen und ihn zu segnen. Die Augen fest geschlossen, warf er sich mit dem ganzen Körper hin und her, krümmte sich und riss sich mit den Händen in den Haaren, während ringsum, bald vereinzelt, bald im Chore die Leute »Amen« riefen und »Gelobt sei Gott«. Die schwälenden Pechfackeln hüllten sie in einen dicken roten Nebel.

Plötzlich, mit einem Ruck, stand Pietro auf. Er drehte auf dem Fusse um und streckte den kupfernen Kessel mit beiden Händen der Gemeinde entgegen. Ein weisser Glanz lag auf seinem Gesicht.

»Der Herr hat mein Gebet erhört!« rief er und führte den Kessel an die Lippen. »Und auch ihr, ihr alle sollt seiner Gnade teilhaftig werden. Kommt her und trinket des Heilandes Blut!«

Ein Schauder ging durch die Versammlung; keiner sagte ein Wort, aber die Lippen aller schienen sich zu bewegen. Ihre Augen standen weit auf und die Köpfe streckten sich nach vorne.

Matilda Venier nahm den Kupferkessel aus seinen Händen, sie trank.

»Es ist Blut!« schrie sie auf. »Es ist Blut! Der Herr hat den Wein verwandelt!«

Ihr greller Schrei brach sich an den Wänden, sprang von allen Seiten durch den Raum. Die Versammlung drängte nach vorne; Girolamo Scuro nahm den Kelch. »Blut! Blut!« gurgelte er aus seinem Kropf. Er setzte noch einmal an und tat einen tiefen Zug.

Die Umstehenden tranken, in wenigen Augenblicken war der Kessel geleert. Pietro goss ihn von neuem voll, kniete nieder, betete und bot den verwandelten Wein. Man gab das Gefäss der kleinen Fiametta Venier, sie drängte sich durch die Reihen und gab jedem zu trinken. Als sie vor ihrem Vater stand, zitterten ihre Arme, aus Furcht, er würde sie schlagen; es sah aus, als ob sie den Kessel fallen liesse. Aber Venier griff zu und nahm den Kessel, er setzte an und leerte ihn mit einem gewaltigen Zuge. Dann liess er sich schwer auf die Bank fallen.

Wieder goss der Amerikaner Wein hinein und betete um das Wunder der Verwandlung. Und Fiametta lief herum und bot die Gabe den Gläubigen. Die Männer brummten: »Blut! Blut!« und die Weiber kreischten: »Es ist des Heilandes Blut!« Ein kleiner Junge weigerte sich und spie den Schluck aus, den er getrunken, aber man hielt ihn fest, goss ihm den Wein in die Lippen und zwang ihn, zu schlucken. Die alte Sibylla fasste den Kessel mit beiden Händen und gab dem Mädchen ihren Stock zu halten. Sie betete stumm und tat einen tiefen Zug. Eine alte Bäuerin, die neben ihr sass, fragte: »Blut?«

Die Bettlerin nickte glückselig und reichte der Nachbarin den kupfernen Kessel.

Alle tranken. Immer neue Flaschen gossen sich in das Gefäss und verwandelten ihren Inhalt zu Blut. Geschäftig trippelte Fiametta durch den Saal, ihr Gesicht strahlte und aller Schmerz war vergessen. Sie reckte sich auf den Fussspitzen und reichte Teresa den Trank.

Das Mädchen schüttelte den Kopf und machte eine abweisende Handbewegung. Aber Frank Braun flüsterte ihr ins Ohr: »Nimm doch, tu so, als ob du tränkest!«

Teresa gehorchte, dann reichte sie ihm den Kessel. Er fühlte, wie aller Augen sich auf ihn wandten. Er schlug ein Kreuz, dann trank er.

Es war guter, klarer Wein.

Er wollte das Gefäss zurückreichen, aber der taubstumme Gino kroch unter der Bank hervor und griff darnach; hastig trank er, in kurzen, gierigen Schlucken. Er war der letzte von allen.

»War es Blut?« flüsterte Teresa. Frank Braun nickte. Sie machte keine Miene mehr zu gehen; ihre Hände brannten, eng drückte sie sich in seinen Arm. Sie zog ihr Tuch über den Kopf, trotz der unerträglichen Hitze, und nur ihre Blicke brachen heraus aus dieser sicheren Hut und hefteten sich fest an das Christusbild und an den Mann, der darunter stand.

Unbeweglich stand er da mit geschlossenen Augen, die Hände eng ineinander verschränkt

Girolamo Scuro, der Knecht, hatte sich neben ihm erhoben. Er stimmte das Fastenlied an, und dröhnend fiel die Gemeinde ein. Der Gesang schien wilder, rauschender zu sein – diese trägen Köpfe, seit vielen Monaten jeden Alkohols entwöhnt, entzündeten sich rasch an den Tropfen, die sie genossen hatten. Wie ein Schlachtgesang scholl es durch den Raum:

»Wundenvoll, erblasst, entkräftet,
An das Opferholz geheftet,
Seh ich wie ein Gottmensch stirbt
Und den Sündern Heil erwirbt!
Jesu, drücke deine Schmerzen
Tief in aller Christen Herzen!
Lass mir deines Todes Pein
Trost in meinem Tode sein.«

Der Amerikaner winkte und sie schwiegen im Augenblick. Er sang leise, wie zu sich selber, die Strophe:

»Dich zu binden und zu schlagen,
Zu beschimpfen und zu plagen,
Nahet sich der Feinde Schar
Und du gibst dich willig dar!«

Und in dröhnender Begeisterung heulte die Gemeinde den Chorus und trampelte dazu den Takt mit den Füssen:

»Jesu drücke deine Schmerzen
Tief in aller Christen Herzen!
Lass mir deines Todes Pein
Trost in meinem Tode sein!«

Dann sprach er, hastig, fanatisch, mit beiden Händen weit in die Luft greifend:

»Brüder! Schwestern! Gott hat euch reiche Gnade geschenkt und euch allen seines Sohnes heiliges Blut gereicht. Aber er will mehr von euch, als nur das Lob eurer Lippen, mehr als Gebet und Gesang! Wir wollen ihm dienen mit Leib und mit Seele und für des Sohnes Blut, das er uns gab, wollen wir ihm unser Blut geben. Das Lamm Gottes wurde gehöhnt und geschlagen, von seinem heiligen Leibe tropfte das Blut unter der Geissel Hieben! Nun wohl, lasst uns seinem Beispiel folgen, lasst uns den Leib kasteien und unser Blut hingeben für den, der sein Blut vergoss um der Welt Sünden willen!«

Er ging hinter seinen Stuhl und schleppte mit Scuros Hilfe von der Wand her einen Sack heran. Er band ihn auf und schüttete seinen Inhalt auf den Boden. Stöcke fielen heraus und Dornenzweige, kurze Hundspeitschen, Birkenruten und Haselgerten. Er ergriff eine starke Rute, in der zwischen den Weidengerten Akazienzweige mit harten, langen Dornen staken. Dann, dicht unter dem Christusbilde, zog er den Rock aus und das Hemd.

Bis zur Hose stand er nackend da. Sein Leib sah schwarz aus, sogar die Arme waren dicht behaart. Lange Zotteln bedeckten die Brust, er schien irgendein seltsamer Affe und kein Mensch.

»Ich will euch ein Beispiel geben!« rief er. Er nahm noch eine Rute vom Boden auf und hob beide Hände hoch in die Luft. »O Lamm Gottes, erlöse uns!« schrie er und liess die Ruten mit mächtigen Streichen niederfallen. Sie trafen den Rücken und die Schultern und die Stacheln bohrten sich heftig ins Fleisch. Er riss sie wieder hoch, sogleich sah man durch die langen, schwarzen Haare hindurch rote Blutstropfen sickern. Und wieder zischten die schweren, schwarzen Ruten durch die Luft und fuhren klatschend über Arme und Brust. Ein vorstehender Dorn traf die linke Wange, ritzte sie der Länge nach und hinterliess einen roten Streif.

Seine Züge verzerrten sich, schneller und immer schneller fielen die Streiche. In der dumpfen Stille hörte man das Sausen und Pfeifen in der Luft und das laute Klatschen der Gerten auf der nackten Haut. Sein Oberkörper wiegte sich hin und her, die bleichen Lippen bewegten sich unaufhörlich in leisem Gebete.

Plötzlich hielt er inne. Seine Brust ging hoch, der Atem stiess sich wie aus Kolben aus den mächtig arbeitenden Lungen. Er streckte beide Arme nach vorne aus, wie Palmenzweige hielt er die Ruten über die Gemeinde.

»Hört Brüder!« rief er. »Hört Schwestern! Ich will euch das Zeichen geben, das mir Gott der Herr offenbarte. Er will euch erretten, alle, alle, von den Qualen des ewigen Todes Und darum senkte er in meinen Leib den Geist seines treuesten Knechtes: ich bin Elias, der Prophet

Er sprang in die Höhe, mit beiden Beinen zugleich, es war, als ob er fliegen wollte. Er wandte sich zu dem Gekreuzigten, hüpfte vor ihm auf und nieder und rief: »O Lamm Gottes, welches du hinwegnimmst die Sünden der Welt, erlöse uns o Jesu!«

Und über beide Schultern sausten in scharfen Hieben die dornigen Ruten und zerfleischten den blutigen Rücken.

Die Frau des Venier sprang hoch von den Knien. Sie streifte hastig die blaue Bluse ab und riss in Fetzen ihr Hemd von den Schultern.

»Schlage mich!« schrie sie heiss. »Schlage mich! Du bist Elias, du bist der Prophet! Schlage mich! Ich will leiden für den Herrn, der uns sein Blut gab!«

Ronchi, der Schneider, griff eine Peitsche und fasste sie mit den Zähnen, um mit den Händen den Rock auszuziehen. Girolamo Scuro folgte ihm, seine riesigen Fäuste griffen zwei schlanke Haselstäbe.

Wieder wandte sich der Amerikaner zu der Versammlung. »Brüder! Schwestern! Der Teufel geht umher auf dieser Welt und spottet des Lammes, das seinen Leib gab für unsere Sünden. Ueberall schlägt er sein höllisches Haus auf, doch besonders in den Leibern der armen Menschen. Wir aber wollen ihn austreiben! Wir wollen ihm zu Leibe rücken, mit Gebet und Gesang und wenn er nicht weichen will, so greift zu den Ruten und Geisseln! Da wird er fliehen, wie ein Gestank, und der Sieg ist unser. Auf Brüder, auf Schwestern, singet und betet! Folget mir in die Schlacht gegen die Rotte der Hölle, folget dem, der euch voranschreitet im Kampfe, Elias, dem Propheten! – Ich führe euch: schlaget mich, peitschet mich! Mein Blut fliesse für Jesum Christum, unsern Herrn!«

Er wandte sich an die ihm zunächst stehenden, aber keiner wagte es den Arm gegen ihn zu erheben. Da schrie er sie an: »Was zaudert ihr, Saumselige? Glaubt ihr, der Herr liesse Spott treiben mit sich? Hört ihr nicht den Satan lachen ob eurer Schwäche? Schlage mich, Ronchi, schlage mich, Girolamo, und du Matilda Venier, nimm die Rute und schlage mich!«

Das Weib hob eine Dornenrute vom Boden, aber sie schlug ihn nicht. Auch die Männer zauderten und standen still mit erhobenen Armen.

Da schrie er: »Ihr sollt mich geisseln, hört ihr? Ich befehle es, der Prophet Elias! Mein Blut soll fliessen zum Preise des Herrn! Schlage zu, Schwester Matilda, schlage zu!«

Das Weib schloss die Augen und schlug. Und der Schneider schlug zu und Girolamo Scuro mit beiden mächtigen Fäusten.

»Stärker, stärker!« schrie Pietro.

Die Streiche klatschten und fielen hageldicht. Das Weib heulte: »Schlagt mich auch, mich auch! Ich will leiden für den Herrn!«

Der Knecht gab ihr einen Streich mit dem Haselstock, der sich von den Schultern herab bis zur Hüfte rot abzeichnete. Sie schrie aufheulend vor Schmerz, brach fast in die Knie. Aber gleich richtete sie sich wieder auf und brüllte: »Mehr, mehr! Schlagt mich! Treibt den Satan aus meinem Leibe!«

Zugleich schlug sie mit wilder Kraft ihre Dornenrute über Scuros Brust.

Pietro Nosclere rief: »Singet und betet! Höret, Brüder, den achtunddreissigsten Vers des achtundsiebzigsten Psalmes: ›Er aber war barmherzig und vergab die Missetat und vertilgte sie nicht und wandte oft seinen Zorn ab und liess nicht seinen ganzen Zorn gehen‹.«

Er wiederholte den Vers halb singend wieder und wieder und die Gemeinde sprach ihn mit in seinem Tonfall. Im Takte fielen die Ruten und Peitschen auf die nackten Leiber.

Girolamos braunrote Haut bedeckte sich mit Blut. Ein Streich Pietros traf den riesigen Kropf, er schien noch mehr zu schwülen und hing wie ein ungeheurer rotblauer Kürbis über der mächtigen Brust. Der Schneider war dürr, die Rippen schienen ihm durch die straffe Haut, über der sich Krusten von Blut und Schmutz bildeten. Am grässlichsten aber schien das Bild des Weibes des Venier. Abgezehrt, bleich von ihrer Krankheit, leuchteten ihre heissen Augen von fanatischer Begeisterung. Ihre Arme waren dünn wie Kinderärmchen, die kleinen Brüste hingen wie leere Beutelchen herab. Aber sie raste springend und tanzend herum und schrie: »Schlagt mich! Schlagt mich! Treibt den Teufel aus meinem Leibe!«

Das zweijährige Kind brüllte, der Knecht schob es mit dem Fusse zur Seite. Die kleine Fiametta ergriff es, hielt es, in der Angst, selbst getroffen zu werden, wie einen Schild vor sich und drückte sich eng an die schützende Wand.

Hinten schrie einer: »Lasst mich durch, lasst mich durch!« Sie schoben sich zusammen und machten ihm Platz. Es war ein junger, stiernackiger Bursch, er riss rasch Jacke und Hemd mitten im Saale ab und warf sie in die Versammlung. Ihm folgte noch einer, ein Alter, und der Junge half ihm den Rock ausziehen. Frank Braun kannte sie, es waren die Ulpos, Vater und Sohn, die Nachbaren des Venier.

Jeder nahm eine Peitsche.

Teresa liess keinen Blick von dem Schauspiel. Sie rührte sich nicht, ihre Augen standen starr offen. Nur ihre Hände pressten seine Linke, es war, als erschauerte ihr Körper bei jedem Hiebe.

Plötzlich hörte er sie rufen: »Lasst sie durch, lasst die alte Sibylla durch!« Sie erschrak selbst über ihren Ruf und presste sich noch enger an ihn.

Er sah, wie die alte Bettlerin sich vergeblich mühte, durch die Menge zu dringen. Sie riss an Jüppen und Jacken und stiess mit ihrem Stocke, aber niemand kümmerte sich um sie, alles starrte gebannt nach vorne. Wie vor einer Mauer stand sie.

Keiner achtete auf Teresas Ruf, er schien verloren in dem Lärm der Musik und in dem Takt der Gebete und der Schläge. Doch sah der Amerikaner zu ihr hin und schrie gleich darauf in hellem Tone: »Macht Platz für Sibylla Madruzzo!«

Sie bildeten eine Gasse und die alte Bettlerin kroch hindurch. Sie schob sich nach vorne, mitten unter die blutenden Männer.

Der Gesang verstummte und die Arme hoben sich nicht mehr. »Was willst du, Schwester Sibylla?« fragte der Prophet.

Sie bewegte die Lippen und deutete mit dem Stock auf ihren Rücken.

Der Amerikaner zauderte, er trat einen Schritt zurück. Aber die Alte kroch ihm nach, sie griff die Rute in seinen Händen und küsste sie. Da fasste er sich und gab ihr einen leichten Schlag auf den krummen Rücken.

Aber sie gab nicht nach, sie hob den Hals und drehte den Kopf seitwärts von unten herauf. Unaufhörlich bewegten sich die stummen Lippen.

»Du bist alt und krank,« sagte Pietro. Sie liess seine Hand nicht los und flehte stumm.

Er tat, als verstände er sie nicht. Da wandte sie sich um und machte die Geste des Schreibens. Einer gab ihr einen Fetzen Papier und der Schneider zog einen Bleistift aus der Hosentasche. Die Alte kauerte auf dem Boden und schrieb. Dann hielt sie das Blatt in die Höhe.

Der Knecht griff es und warf einen Blick darauf, aber er konnte nicht lesen. Da nahm es der junge Giovanni Ulpo und las laut: »Du hast gesagt, wir sollen alle unser Blut vergiessen für Christus! Warum stösst du mich zurück?« Er gab das Blatt an Pietro und fügte hinzu: »Ja, das hast du gesagt!«

Noch immer zauderte der Prophet. Er hielt das Blatt in der Hand, von seiner Wange fielen dunkle Blutstropfen darauf.

Sibylla trat zu der Frau des Venier, sie knöpfte langsam ihr Kleid vorne auf und bedeutete jener, ihr zu helfen. Die Frau griff zu, zog ihr mühsam einen Arm aus dem Aermel und streifte das Hemd zurück, so dass eine Schulter entblösst war und ein Teil des Rückens.

Pietro sah ihr zu. »Schlag sie.« befahl er. Und Matilda liess ihre Rute auf den Rücken der Alten fallen.

Aber Sibylla stiess sie zurück. Sie warf sich vor Pietro auf die Knie nieder und umschlang seine Füsse.

»Sie will, dass du es tun sollst.« sagte der alte Ulpo.

Und der Schneider rief: »Du musst es tun! Du bist der Prophet!«

Der Amerikaner kniete nieder neben der Bettlerin. Beide lagen vor dem Gekreuzigten in heissem Gebete.

»Herr, helfe mir! O Lamm Gottes, erhöre mich!« stöhnte Pietro.

Dann sprang er auf und seine Rechte fasste fest die dornige Rute. Er schloss die Augen, und schnell, ohne Unterlass, fielen die schweren Streiche auf die arme Alte. Ihr gelähmter Leib wand sich und krümmte sich zu seinen Füssen, die zerrissene Schulter schimmerte rot.

Und er schlug sie und schlug, blind und rasend.

Da geschah es

Sibylla Madruzzo richtete sich auf. Erst kniete sie, dann reckte sie sich zu voller Höhe. Und ihr Leib, durch dreissig Jahre gekrümmt in grässlichem Krampfe, hob sich hoch und überragte um Kopfeslänge den Propheten.

Er stand vor ihr, zitternd, seine Hand liess die Rute fallen.

Aber ihre Lippen öffneten sich, laut und klar klangen die Worte: »Der Herr hat mich gesegnet durch deine Hand. Gesegnet seist du, den der Herr sandte!«

Und sie beugte sich und nahm seine Hand und küsste sie demütig.

Ein furchtbares Schweigen lag in der Halle, keiner wagte die Lippen zu öffnen. Selbst Pietro schwieg. Da rief Giovanni Ulpo: »Ein Wunder! Pietro hat ein Wunder getan!«

Aber Ronchi, der Schneider, unterbrach ihn: »Schweig doch! Elias hat es getan. Er ist Elias, er ist der Prophet! Elias, der Prophet, hat ein Wunder getan!«

Alle schrien, alle heulten durcheinander. »Ein Wunder! Ein Wunder!« Sie schoben, sie drängten nach vorne, jeder wollte die Geheilte sehen, jeder den Propheten berühren. Sie traten sich und schlugen, die Weiber kreischten und die Kinder heulten laut.

Dann hörte man die Stimme des Propheten: »Auf die Knie, Brüder und Schwestern, auf die Knie! Danket alle unserm Herrn Jesu Christo! Nicht ich tat das Wunder, Gott tat es durch meine Hand! Betet und danket ihm und singt ihm Preis in alle Ewigkeit!«

Er stimmte das Osterlied an und alle fielen ein:

»O Meer der Seligkeiten,
Für dich, o Lamm zu streiten!
Der Satan sank zur Nacht,
Gewonnen ist die Schlacht!

Alleluja! Alleluja! Alleluja
Wie du vom Tod erstanden bist,
Lass uns erstehn, Herr Jesu Christ!
Alleluja!«

Und das Lied schwoll, als wollte es die Wände zerbrechen und die Decke in Trümmer reissen und aus dem Tale hinaus in alle Himmel steigen. Alleluja! Alleluja! Alleluja!

* * *

Frank Braun hob das Mädchen von dem Stuhle, willenlos liess sie sich führen. Er musste sie unter den Armen stützen und festhalten, jeden Augenblick schien sie zu fallen. Es gelang ihm endlich, an der Wand vorbei zu kommen, zwischen den Knieenden die Türe zu erreichen.

Er warf noch einen Blick zurück. Alle lagen betend auf den Knien, nur Pietro stand unter dem Kruzifix und neben ihm, hoch aufgerichtet, Sibylla Madruzzo. Der rote Schein der Pechfackeln fiel auf ihr hageres, scharf geschnittenes Gesicht, die grossen, grauen Augen lagen tief in den Höhlen –

O ja, sie musste einmal schön gewesen sein!

– Hinten in der Ecke kauerte der taubstumme Gino. Er hatte den kupfernen Kessel gefunden und leckte begierig die letzten Tropfen –


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