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IX.

In manchem Münster nistete die Taube,
Vor der Legende bog die Welt das Knie,
Des Mittelalters frommer Köhlerglaube,
Ich weiß es wohl, auch er war Poesie.

Arno Holz, Buch der Zeit.

 

Der kühle Seewind schlug ihnen ins Gesicht. Teresa taumelte, wie ein Trunkener, der aus dumpfem Keller heraussteigt auf die Strasse und in dem Augenblicke erst, wo ihn die frische Luft umfängt, seines Rausches sich bewusst wird.

Er musste sie fast tragen, setzte ihr mühsam einen Fuss vor den andern.

Sie gingen den näheren Weg durch das Dorf; er suchte vergeblich nach einer Bank, auf der sie hätte ruhen können. Als sie an der Kirche vorbeikamen, fiel ihm ein, dass man dort wohl rasten könnte. Er drückte auf die Klinke, die Tür war nicht verschlossen.

Sie traten ein, der Mond fiel durch die langen Scheiben. Nirgends standen Bänke, nur niedrige Schemel an den Seiten; so führte er sie zum Altar und setzte sie dort auf die Stufe. Er wollte ihre heisse Stirn kühlen, ging zum Weihwasserbecken und tauchte sein Taschentuch hinein. Aber das Wasser war faul und stank.

Er kehrte zurück zum Altare, setzte sich neben sie und streichelte leise ihre Schläfen und Hände. Langsam beruhigte sie sich. Schweigend sassen sie nebeneinander, lange Zeit.

Er glaubte, sie würde aufstehen, um zu beten. – Ueber dem Altar hing das Bild der Madonna; sie trug das Knäblein im Arme und sieben silberne Schwerter staken in ihrem Herzen. Zu ihren Füssen lagen viele frische Rosen, und er wusste, dass sie Teresa geopfert hatte.

Aber das Mädchen sah nicht einmal auf. Sie schien sich gar nicht bewusst zu sein, dass sie in der Kirche war. Frank Braun dachte: »Arme Madonna, der Prophet hat dich entthront.«

Er fühlte eine tiefe Befriedigung. Das alles war sein Werk; die Marionetten tanzten und spielten das Spiel, das er ihnen einblies. Die Probe war gemacht und sie klappte. Er war ein guter Regisseur und er wollte sein Stück schon so herausbringen, dass es Aufsehen erregte in dem Narrentheater der Weltgeschichte.

Sein Kopf war eine gute Requisitenkammer; aller Mummenschanz der Historie lag da hübsch aufgestapelt, schön geordnet nach Völkern und Jahrhunderten. Die Rollen waren verteilt, und er würde seine Puppen anziehen, so bunt und wild, würde einen Fasching machen, wie die Welt noch keinen gesehen.

Teresa aber sollte der Star werden – trotz dem Propheten.

– Und warum sollte er nicht Entree nehmen? War das Geschäft eines Theaterdirektors nicht so gut wie jedes andere? Dies war ein guter Job und er konnte viele, viele Millionen tragen.

Ach, Val di Scodra war ein so schöner Name wie es Delphi war und Kevelaer und Lourdes und Valle di Pompei! – Bartolo Longo war heute schon der reichste Mann in Italien und doch war seine jämmerliche Muttergottes von Pompeï nicht drei Franken wert, als er sie erstand! – Er aber begann hier gleich mit einem ganzen Heer von Wundertätern und hatte allererste Kräfte in seinem Ensemble.

Frank Braun überlegte. Man musste das Tal von Scodra kaufen, alle Häuser und alles Land. Das wäre schnell genug gemacht und würde kaum ein paar hundert Mille kosten. Und dann dreimal soviel für die Reklame – – ach, er würde kaum eine Million brauchen, das genügte durchaus für den Anfang.

Freilich, die hatte er nicht. Aber er hatte Freunde, die sicher intelligent genug waren, ihm für diese Sache Kredit zu geben. Er würde eine G.m.b.H. gründen mit einem schönen Titel – Gesellschaft zum Heiligen Herzen Jesu. Und das war gewiss: er wollte nur Juden hineinnehmen in diese christliche Genossenschaft, tüchtige Leute, die etwas verstanden vom Geschäft.

Dann kamen die Gründungen. Gleich ein Dutzend grosse Hotels, auf halber Höhe im Halbkreise um den See. Acht deutsche, zwei englische, ein italienisches und ein slavisches. Auch eines für die Franzosen? Ach nein, das möchte sich nicht rentieren, die Franzosen waren Heiden und würden doch nicht kommen.

Und eine Reihe mächtiger Herbergen für die Pilger und eine Basilika, hinter der sich die des Bartolo Longo verkriechen musste. Auch Sanatorien und entzückende kleine Chalets.

Rings um den See liess er eine Galerie durch den Felsen schlagen, schuf einen kreisrunden Pfad. Ueberall ankerten schwimmende Badehäuser und der See selbst war die grosse Wanne und der Gesundbrunnen für alle Leiden.

Wunder – – darum war ihm nicht bange! Eines hatte er, das hunderte von Menschen mit ihren Augen sahen! Wie viel Wunder hatte Lourdes im Jahre? Selbst der alberne Schwindler von Valle di Pompeï brachte ja schon einen guten Rekord! – Wo fünfhundert Menschen glaubten, da würden es auch fünfzig Millionen tun – so würde er jede Woche sein Wunder haben!

Von vorneherein musste man die Industrie organisieren. Da war das Wasser des Sees, das man in ungeheuren Mengen exportieren konnte, es würde mit fünf Nullen alle Konkurrenz schlagen, Jordanwasser und Eau de Lourdes. Heilige Oelbäume pflanzte man um die Basilika und jedes Blatt war seine Krone wert. Die Souvenir-Artikelchen, die Rosenkränze und all den billigen Tand für die Pilger musste man an Ort und Stelle fertigen. Oben bei der Landstrasse, eine halbe Stunde nur vom Dorfe, war zwischen den Felsen eine geräumige flache Stelle, auch ein Giessbach ging da herab. Da war die Wasserkraft – dort musste die Fabrik hinkommen. Aus Sachsen holte man die Werkmeister – –

Die Fiavè aber gab das elektrische Licht für den Wallfahrtort, sie hatte Kraft genug um zehn Val di Scodra zu speisen. Den Verkehr zur Stadt besorgte alle Stunden eine Autoverbindung – die Pilgerzüge freilich mussten zu Fusse kommen: das erhöhte die Spannung und war sehr zuträglich für alle Wunder.

Und welche Einnahmen! Nicht einen Schritt konnte der Fremde gehen, ohne die Tasche zu öffnen. Eine Kurtaxe und einen Preis für jedes Bad. Fromme Zeitungen und Andenken in jedem Hause. Man sollte nicht umsonst leben in der heiligen Stadt, die den Weg öffnete zum Himmelreich.

Aber dafür bot man auch etwas! Grosse Prozessionen, so recht im Pöbelgeschmack, die Brüderschaften Sevillas neu aufgeputzt à la Barnum und Bailey. Passionspiele, raffiniert albern, zurechtgeschnitten auf triefäugige Tränendrüsen; Flagellantenstückchen, hinter denen sich alle heulenden Derwische verkriechen mussten; Kastratenchöre, so lieblich, dass alle Herzen schwellen sollten vor gottseligem Entzücken.

Und ein Spielsaal – – warum nicht auch ein Spielsaal? War der Zweck nicht ein überaus heiliger? Und würden diesem Zwecke die Behörden des frommen Landes die Erlaubnis verweigern, wenn sie und die Kirche Prozente bekämen? Ach – mit beiden Händen würden sie zugreifen.

Die Kirche? O sie würde mit vollen Backen Ja und Amen sagen und ihren Segen geben. Hatte nicht auch Bartel ihren vollen Segen und war doch Herr in seinem Hause? Man würde alles hübsch laufen lassen im römischen Mäntelchen; bei den kleinen Seitensprüngen würde die Kirche beide Augen zudrücken. Im Gegenteil, sie würde froh sein, zu helfen beim heiligen Werke und der Herr Bischof würde selbst seine kleine Rolle spielen.

Freilich, die Hauptrollen waren schon vergeben. Da war Pietro, der Prophet, erste Attraktion, allein schon das Entree wert. Und der Schneider Ronchi – der musste Enoch werden – denn wo Elias ist, da darf Enoch nicht fehlen. Dann Girolamo Scuro, der Knecht, der alle Frömmigkeit in seiner Kürbiswampe trug und Matilda Venier mit diesen Feueraugen, die allen fanatischen Glauben sprühten. Da war Sibylla Madruzzo – – wie gut doch, dass sie damals nach Innsbruck ins Spital kam! Man müsste die Papiere dorther kommen lassen, auch die Bescheinigung des Pfarrers von Cimego und der Behörden. – Ein kleines Buch würde er drucken lassen mit dem schönen Titel:

Dreissig Jahre gelähmt
oder
Sibylla Madruzzo,
Die Wundergeheilte von Val di Scodra.

Vorne ihr Bild und hinten ihr Bild: vor und nach der Heilung – wie bei einer Bartreklame. Stück für Stück eine Krone, ach, man würde Hunderttausende absetzen.

Auch der junge Ulpo würde sich schon entwickeln – und wie viel Talente schlummerten noch in dem gottesfürchtigen Haufen des Bergdorfes! Und das war ja nicht das einzige Feld für den Nachwuchs – immer neue Ueberraschungen würden ihm die Pilgerscharen bringen. Welch ein Material! Fromme, Hysterische, Heissgläubige, Epileptiker, Spiritisten, Idioten, Fanatiker, Nervenkranke, Mystiker, Neurastheniker – o eine Fundgrube für den Teig, den er kneten wollte! Die Fischlein sprangen von selbst in den grossen Kessel von Val di Scodra, kochten in Weihrauch und in heiligem Weine, in Beten und Singen, Fasten und Geisseln. All ihre armen Sinne wurden aufgepeitscht, bis ins letzte Mark jede Vernunft erschlagen.

Was – jede Woche? – An jedem Tag würde er sein Wunder haben! – Und sein Dorf würde das grösste Narrenhaus der ganzen Welt werden.

Aber sein grosser Trumpf blieb doch Teresa. Sie musste eine Heilige werden, eine Prophetin, dass die delphische Priesterin sich neben ihr schmählich verkriechen sollte in den letzten Spalt ihrer pythischen Grotte. Aller fromme Schwindel der Weltgeschichte musste aus ihren blanken Zähnen tropfen und ihre blauen Augen waren der Honigleim, auf den die Gimpel aus fünf Erdteilen flogen.

Er aber war der grosse Herrscher über allen Wahnsinn der Welt. Wie Tabak, wie Zündhölzer oder Alkohol, so wollte er den Wahnsinn zum Monopol machen. Fürwahr, ein jungfräuliches Land, kaum betreten von mystischen Buschkleppern, die barfuss und blind da herumtappten! Er aber hatte alles Wissen und alle Klugheit, die seine Zeit ihm gab und er kannte dies Nebelland gut von einem Ende zum andern. Er allein konnte seine unermesslichen Schätze heben. Ah, die Welt war schön und der grösste Charlatan war ihr König!

»Es lebe König Charlatan!« rief er.

Seine Stimme hallte lautjauchzend durch die leere Kirche; Teresa schreckte auf.

»Was – was ist?« fragte sie.

Er besann sich. Ach ja, sie sassen noch auf der Treppe des Altars. »Ist dir besser?« fragte er. »Wollen wir gehen?«

Sie nickte und stand auf. »O es ist alles wieder gut.« Seine Augen fielen auf die rote Ampel, die an einem Pfeiler unter dem Bilde des heiligen Franziskus hing.

»Versiehst du sie mit frischem Oele?« fragte er.

»Ja.« sagte sie. »Er ist mein Schutzheiliger.«

Es war ein jämmerlicher, halbzerfetzter Oeldruck. Die gekrönte Madonna mit dem Kinde erschien dem Franz von Assisi und begnadete ihn mit den Malen des Erlösers. Um diese alle zu zeigen, war die Stellung des Heiligen eine höchst komplizierte, ein merkwürdiges Mittelding von Stehen, Fallen und Schweben. An beiden Händen und Füssen trug er die Stigmata, dazu war in seine braune Franziskanerkutte ein Loch geschnitten, damit man auch das Wundmal an der Seite des Leibes recht sehen konnte.

»Er ist dein Schutzheiliger?« wiederholte er nachdenklich. »Er, der die Stigmata trägt?« – Er sah sie an und im Augenblick begriff er die Rolle, die sie spielen sollte in seinem grossen Stücke. Ein Uebermut fasste ihn und eine grosse Lust; schnell trat er zu dem Bilde.

»Heiliger Franz von Assisi.« sprach er. »Ich danke dir von ganzem Herzen für den vortrefflichen Gedanken, den du mir eben geschenkt hast. Du bist wirklich ein guter Heiliger, der Schlechtes mit Gutem vergilt. Wir sind ja gute Bekannte, du und ich, waren Nachbarn in meiner Vaterstadt am Rhein: deines Klosters Garten stösst da an den meiner Mutter. Und du weisst gut, wie schlecht wir Buben immer zu dir waren und welchen Unfug wir mit deinen frommen Patres trieben. Wir haben uns lange Beichten gemacht und den guten Vätern Mord und Totschlag vorgelogen. Wir haben uns die Hände gewaschen in deinem geweihten Wasser oder auch Kröten und dicke Blutigel hineingesetzt. Und wenn der Pater Cyprian und der Pater Barnabas und die andern im Garten wandelten, den Rosenkranz in der Hand, dann haben wir geheult und geschrien und sie mit Kartoffeln beworfen. Aber wenn sie nicht da waren, so stahlen wir ihnen Kirschen, Aepfel und Trauben – und nie, glaube ich, ist etwas reif geworden in diesem schönen Garten. Sie schalten und waren wütend und liefen uns nach – aber man kann ja so schlecht laufen in deinen braunen Kutten, du heiliger Franz von Assisi! – Ach, nie hat mir Obst so gut geschmeckt, wie das, was ich aus deinem Garten stahl. – Aber jetzt, siehst du, will ich es niemals wieder tun, nie mehr, das verspreche ich dir. Zum Danke dafür, dass du mir nichts nachträgst und mir nun gesagt hast, was ich tun soll mit diesem Mädchen hier, das unter deinem heiligen Schutze steht.«

Er sprach sehr ehrbar und voller Salbung; das Mädchen merkte nicht, wie darunter der Spott lustig flackerte.

»Was hat er dir gesagt?« fragte sie.

»Etwas, das dich angeht.« antwortete er. »Ich werde es dir schon sagen. – Er ist ein guter Heiliger und ich war immer so schlecht zu ihm.« Er trat an die Ampel und pustete das Licht aus.

Sie erschrak. »Was tust du?«

Doch er blieb ernsthaft. »Er soll schlafen. Glaubst du, dass er nicht müde würde, wenn immer das Licht unter ihm brennt?«

Er nahm ihren Arm und führte sie aus der Kirche. Aber an der Tür blieb sie stehen. »Nein,« sagte sie fest, »ein Heiliger wird nicht müde. Und dies ist nur sein Bild und die ewige Lampe brennt zu seiner Ehre. Bitte, lass mich sie wieder anzünden.«

Er lachte: »Ich wusste nicht, dass du so aufgeklärt bist.« Er gab ihr Streichhölzer, sie lief und brannte den Docht wieder an. Dann kam sie zurück.

»Warum hast du nicht frisches Wasser ins Weihbecken gefüllt?« fragte er.

Aber sie gab ihm zurück: »Wer hätte es weihen sollen?«

Sie gingen durch die Türe und schlossen sie. Die Gasse war still und menschenleer, noch immer scholl von des Amerikaners Scheune ein verworrener Klang von Musik und Gesang. Als sie ins Haus traten, fragte er: »Kennst du das Leben der Heiligen, deren Namen du trägst?« Sie schüttelte den Kopf. »So will ichs dir erzählen.« fuhr er fort.

Sie stiegen die Treppe hinauf. »Geh in dein Zimmer,« sagte er, »zieh dich aus und leg dich zu Bett. – Ich komme gleich zu dir.«

Er ging in sein Schlafzimmer, legte die Kleider ab, wusch sich und zog den Pyjama an. Dann kniete er vor dem schweren Bücherkoffer, öffnete ihn und wühlte herum. Endlich fand er, was er suchte – ein dickes Buch und ein paar Heftchen. Er schlug sie auf, blätterte und nickte befriedigt. Dann ging er zu ihr.

Ihr Zimmer war dunkel. »Du hast kein Licht?« fragte er. Er holte seine Lampe, zog einen Stuhl heran und stellte sie darauf. Dann setzte er sich zu ihr aufs Bett.

Sie bemerkte die Bücher und seufzte. Sie schloss die Augen und streckte die Arme nach ihm aus. »Komm doch,« flüsterte sie, »ich bin so müde.«

»Willst du nicht hören, was ich dir erzählen will?« fragte er.

Sie nickte gehorsam. »Doch. Erzähle.«

Sie nahm das dicke Buch, neugierig buchstabierte sie den Titel: »Acta Sanctorum«. »Willst du mir daraus vorlesen?«

»Ja,« sagte er, »ich will dir von der heiligen Teresa von Jesu erzählen, deren Namen du trägst. Von ihr und von andern frommen Frauen.«

Sie streichelte seine Hände. »Willst du nicht lieber singen?«

Er sagte: »Nein. Ich will nicht singen. Man soll nicht singen in Val di Scodra, es sei denn die Lieder, die der Amerikaner singt.« Er nahm eines der kleinen Heftchen. »Hast du je einmal von Louise Lateau gehört?«

»Nein.« antwortete sie. Sie seufzte, sie wehrte sich immer noch, mit ihm von heiligen Dingen zu sprechen.

Doch er liess sie nicht los. »Aber du kennst das Bild des heiligen Franziskus gut?« fuhr er fort. »Weisst du, was es darstellt? Den Augenblick in dem Leben des frommen Mannes, in dem ihm die Mutter Gottes erscheint und in dem er die Wundmale des Herrn empfängt.«

»Ja, ich weiss.« sagte das Mädchen.

»Nun gut, diese grosse Gnade schenkte der Herr nicht nur ihm, sondern noch manchen andern gläubigen Herzen, insbesondere aber frommen Frauen. Die Stigmata trugen Maria von Mörl und Katharina Emmerich von Dülmen; die letzte aber, die des Erlösers Hand mit seinen Wundmalen zeichnete, war die Jungfrau Louise Lateau aus Bois d'Haine in Flandern.«

Mit leiser, einschmeichelnder Stimme erzählte er, nur zuweilen warf er einen Blick in das Buch. Er hielt ihre Hand und er fühlte wohl, wie ihr Widerwillen schwand; sie lauschte und ganz langsam kehrte die stille mystische Stimmung bei ihr ein, die sie in seltsamen Wonnen erzittern liess, wenn sie zu den Füssen des Pfarrers sass. Dieser süsse klingende Nebel, den sie nun so lange nicht mehr geatmet hatte.

Er sprach ihr von Jeanne des Anges, von der Schwester Katrei und von Marguerite Alacoque, die den Kultus zum heiligen Herzen Jesu stiftete. Er sagte ihr, dass diese gelähmt war und geheilt wurde durch ein Wunder wie heute die Sibylla Madruzzo. Dass ihr Leben reich gesegnet war mit frommen Visionen, so wie das der heiligen Teresa, der alle sieben Himmel schon auf Erden geöffnet wurden.

»Was ist eine Vision?« fragte das Mädchen leise.

Er antwortete: »Ich kann es dir nicht mit meinen Worten sagen, die du doch nicht verstehen würdest. Ich will dir vorlesen, was die Heilige darüber sagt, deren Namen du trägst: ›Es tritt ein Schlaf der Seelenkräfte ein, die sich weder gänzlich verlieren, noch auch ein Bewusstsein ihrer Wirksamkeit haben. Die freudenvolle Erregung, die Lieblichkeit und Wonne fasst dann die Seele, sie kann noch nicht weiter kommen und weiss auch nicht, wie sie zurückkommen soll. Sie möchte die grosse Herrlichkeit gerne geniessen. Sie gleicht einem Sterbenden, dem man bereits die Kerze in die Hand gegeben, und welchem nur noch wenig daran fehlt, um den ersehnten Tod zu sterben; sie empfindet in diesem Todeskampfe die höchste Wonne, welche man aussprechen kann. Es kommt mir vor, wie ein fast gänzliches Absterben für alle Dinge der Welt, und die Seele weiss nicht, ob sie dann sprechen oder schweigen, ob sie lachen oder weinen soll. Es ist eine Verrücktheit voll Herrlichkeit, eine himmlische Torheit und für die Seele ein Zustand des wundervollsten Genusses‹.«

Er unterbrach sich: »Verstehst du, was die Heilige sagt, Teresa? – Kannst du dir diesen Zustand denken?«

Ihre Augen waren geschlossen, aber sie hob sie langsam und sah ihn voll an. »Ja,« flüsterte sie. »Es ist, wie – wenn ich in deinen Armen liege – –«

Er streichelte leicht ihre Wange. »Und doch, Teresa,« fuhr er fort, »ist all dies nur der Anfang. Das Glück der Seele, als Braut in Christi Armen zu liegen, ist viel grösser als alles, was Menschen geben können.«

»Und was sieht man?« fragte sie.

Er sagte: »O es ist so schwer zu sagen. Höre zu, was Anna Katharina Emmerich, die auch die Male des Lammes trug, darüber sagte.« Er nahm ein anderes Heftchen, blätterte und las: »Ich habe unendlich viele Dinge gesehen, welche sich mit Worten nicht ausdrücken lassen. Wer kann auch mit der Zunge sagen, was er anders, als mit den Augen, gesehen hat? – Ich sehe dieses nicht mit den Augen, sondern es scheint mir vielmehr, als sehe ich es mit dem Herzen, hier in der Mitte der Brust; es verursacht mir auch an dieser Stelle Schmerz. – Begreifst du das, Teresa, dass man sehen kann mit dem Herzen und nicht mit den Augen?«

Sie sagte leise: »O ja, ich begreife es sehr gut. Wenn ich still liege zur Nacht und alles dunkel ist, sehe ich dich doch. Ich fühle, dass du da bist und lebst in meiner Brust. – Manchmal ist mir, als schlügen zwei Herzen da.«

Sein Blick war fast vorwurfsvoll. »Musst du immer an mich denken, Teresa? – Die Frauen, von denen ich dir erzähle, dachten an keinen Menschen und nur an Gott.«

»Sie waren Heilige –« wandte sie schüchtern ein. »Der heilige Geist wohnte in ihnen.«

»Und woher weisst du,« rief er, »dass er in dir nicht wohnen will? Glaubst du, dass Gott dich fragen würde um deine Erlaubnis? So sagt die heilige Teresa: ›Gott kommt, wann er will, offen und ohne unser Zutun. Wenn wir uns auch widersetzen, er fasst unsern Geist, wie ein Riese einen Strohhalm ergreifen würde; ein Widerstand dagegen hilft nicht. Wer könnte glauben, dass Gott, wenn er einmal will, erst warte, bis der aufgeblasene Wurm von selbst auffliegt?‹«

Sie erschrak und es lag eine Angst in ihrer Stimme: »Ich bin voller Sünden – –« flüsterte sie. »Glaubst du, dass er doch zu mir kommen könnte?«

Er sagte ernst: »Ja, das glaube ich. Hat Gott nicht des Elias Geist in die Seele Pietro Noscleres gesenkt? Das Buch Jalkuth Rubeni lehrt uns, dass die Seelen von neunhundertundvierundsiebzig Generationen in Labans Schafe fuhren; von dort kamen sie zurück in Menschenleiber – deshalb war Israel so fruchtbar in Aegypten. Und des Herrn Gnade ruht sichtbar auf Val di Scodra – wer weiss, ob nicht deine Heilige in dir lebendig wird?«

Das Bild der Versammlung wurde in ihr wach, alle Ruhe verliess sie. Sie zitterte, sie sah wieder diese wilden, halbnackten Menschen mit ihren Peitschen und Ruten, sie sah die blutigen Wunden in dem roten Scheine der Pechfackeln –

Aber sie sah auch Sibylla Madruzzo langsam sich aufrichten, wachsen, stehen, geheilt durch ein grausiges Wunder, alle überragend –

»Erzähle weiter.« bat sie rasch. »Erzähle von den frommen Frauen.«

Er sprach: »Zur heiligen Katharina von Siena trat einst der Heiland und sagte: ›Ich werde dein Leben mit so überraschenden Wundern anfüllen, dass die unwissenden und fleischlichen Menschen sich weigern werden, sie zu glauben; ich werde deine Seele mit einer solchen Fülle der Gnade schmücken, dass dein Leib selbst die Wirkungen davon spüren und nur noch auf ganz aussergewöhnliche Weise leben wird.‹ Und die Heilige genoss durch viele Jahre, bis zu ihrem Tode weder Speise noch Trank: das Licht des Erlösers allein nährte sie. So war es auch mit Louise Lateau – nur das heilige Sakrament empfing sie und verschmähte alle irdische Speise. Alle Freitage bluteten ihre heiligen Wunden: rings um die Stirne, an der linken Seite und an den Händen und Füssen. Dann sah sie den Herrn. Sie erzählt uns: ›Ich werde dann von einem so grossen Gefühl der Gegenwart Gottes ergriffen, dass ich nicht weiss, wo ich mich lassen soll; ich sehe ihn so gross und mich so klein, dass ich nicht weiss, wo ich mich verbergen soll. Und ich sehe ein helles Licht, aber es ist kein Licht, das die Augen des Körpers berührt, es berührt die Seele nach Art eines Blitzes; es ist ein Licht, dessen Ende man nicht sieht, es zeigt mir die Grösse Gottes und mein Nichts. Ich befinde mich in einer andern Welt; dasselbe Licht, welches mich von den äusseren Dingen trennt, vereinigt mich mit Gott ohne Unterbrechung, ohne Zwischenraum.‹ Sie sah den Erlöser, seine Kleider, seine Wunden, seine Dornenkrone und das Kreuz; sie sah ihn knieen und fallen, sie sah, wie ihn die Knechte ans Holz schlugen. Und sie litt mit ihm und kämpfte mit ihm den Todeskampf. Dann aber, wenn sein letzter Seufzer entflohen war, sah sie die Wolken sich öffnen, sah, wie in einem Meere himmlischen Lichtes der Vater seinen Sohn in die Arme schloss.«

Teresas Augen leuchteten. »Es muss herrlich sein.« sagte sie.

Er nickte. »Es ist das höchste Glück, das Menschen widerfahren kann,« fuhr er fort. »Und das Seltsame ist, dass dann das furchtbarste Leiden sich zur höchsten Wonne wandelt. – Wenn du das weisst, so wirst du verstehen, dass die Geisselungen Pietros und der andern nicht Schmerzen, sondern Wonne für sie bedeuten. Du kennst sie ja alle gut und begreifst wohl, dass sie nie von selbst zu den Dornen greifen würden, wenn nicht der Herr sie triebe! Hier, lies, was die Mutter des heiligen Herzens Jesu, Maria Marguerite Alacoque, über die Wonnen der Schmerzen berichtet.«

Er suchte und reichte ihr das Buch. Sie nahm es und las leise: »Es ist ganz gewiss, dass ich ohne das Kreuz und das heilige Sakrament nicht leben und die Länge meiner Verbannung in diesem Tränentale nicht ertragen könnte. Ich habe niemals eine Linderung meiner Leiden verlangt. Je mehr mein Körper von ihnen bedrängt war, desto mehr freute sich mein Geist und desto mehr Freiheit genoss er, sich mit meinem leidenden Jesus zu vereinigen. Der Herr meiner Seele entfernte sich niemals von seinem unwürdigen Opfer, dessen Schwäche und Unfähigkeit er wohl kannte. Bisweilen sagte er zu mir: ›Ich erweise dir viel Ehre, meine liebe Tochter, indem ich mich so edler Werkzeuge bediene, um dich zu kreuzigen. Mein ewiger Vater hat mich in die Hände der Henker geliefert, um mich zu kreuzigen und ich gebrauche für dich zu diesem Zwecke mir geweihte Priester. Ich will, dass du mir zur Erlösung alles darbringst, was du leiden wirst.‹ – So redete der Herr. – Ich aber spreche nun von dem Glücke des Leidens mit solcher Genugtuung, dass es mir scheint, ich könnte ganze Bücher vollschreiben, ohne mein Verlangen zu befriedigen.«

Er nahm ihr das Buch fort. »Siehst du, so wächst aus dem Leiden das höchste Glück; wie es aber ist, das kann niemand sagen. Ueber aller menschlichen Wonne und Seligkeit liegt dieses Glück: die Vereinigung mit Gott. Jeder der diese Wonne kennen lernt, der ist in Gott und der ist Gott selbst. Als die fromme Schwester Katrei so Gott wurde, kam sie dahin, dass sie alles Endliche vergass und so weit über sich und alles Geschaffene hinausgehoben wurde, dass sie bis auf den dritten Tag dalag und für tot galt. Dann erst kam sie zu sich und sprach: ›Ach ich Arme, bin ich wieder hier?‹ Was sie aber empfand, das konnte sie keinem Menschen sagen. – Möchtest du nicht solches Glück erleben, Teresa?«

Sie seufzte wieder: »Ich bin so voller Sünden – –«

Da unterbrach er sie: »Es gibt nur eine Sünde vor dem Herrn.«

Sie fragte: »Nur eine? – Und welche ist das?«

» Nicht in Gott zu sein. Das ist die eine grosse Sünde. Wenn du in Gott bist, wie es die heilige Teresa war und Katharina und Louise und Marguerite und Katrei und so viele andere fromme Frauen – so bist du frei von aller Sünde für diese kurze Zeit. Wenn sie aber vorbei ist, wenn du wieder auf Erden wandelst und ein Mensch bist, so ist das die grosse Sünde und es tut nicht gut, zu unterscheiden zwischen der und jener Sünde, die grösser sein mag oder kleiner. Sie alle verschwinden in dem gewaltigen Meere der einen grossen Sünde: nicht in Gott zu sein. – Aber du wirst es nicht verstehen und nicht erkennen, wenn nicht Gottes Hand dich einmal fortreisst von dieser Erde in seines Feuers Sturm und dich hochhebt in seine Herrlichkeit.«

Das Mädchen sagte träumerisch: »Ich verstehe es nicht, aber ich glaube wohl, dass ich es empfinden könnte.«

Er nahm ihre Hand und streichelte sie. »Es ist so schwer zu sprechen.« sagte er. »Deine Sprache ist nicht meine Sprache und deine Worte sind nicht meine Worte.« – Er unterbrach sich: »O nein, Teresa, ich meine nicht die deutsche Sprache. Aber sieh, die Welt, in der du lebst, hat eine andere Sprache, als die, aus der ich komme. Die Worte sind dieselben überall, aber wir sagen etwas anderes mit diesen Worten, als ihr darunter versteht Deshalb nahm ich die Bücher und las dir vor, was diese Frauen sagten, welche der Kirche Sprache sprechen, die auch an dein Ohr klang dein Leben lang. So, meinte ich, würdest du es vielleicht verstehen.«

Sie hob die Arme und schlang sie um seinen Hals. »Geliebter,« sagte sie, »sprich du in deiner Sprache. Wenn ich auch nichts begreife, so fühle ichs doch und fasse es heiss in der Brust! – Geliebter – ich weiss, dass du tief in mir lebst!«

Er sass schweigend, starrte verträumt in die Luft. Dann begann er:

»Einer, der mein Ahne war, suchte viel nach dem höchsten Glück. Er baute in seinem Herzen der Gottheit einen herrlichen Tempel, aber er vergass, dass man nie des Teufels entraten darf, der ein Teil ist des ewigen Gottes. Und der Teufel rächte sich und zerschlug des armen Narren jungen Leib und gab seine schöne Seele dem Gespötte der Gassenbuben. Hör zu, Teresa, was er sang.«

Seine Stimme zitterte und es war gewiss, dass seine Seele sich einhüllte in die süsse Hymne Novalis. Inbrünstig sprach er:

»Wenige wissen
Das Geheimnis der Liebe,
Fühlen Unersättlichkeit
Und ewigen Durst.
Des Abendmahles
Göttliche Bedeutung
Ist den irdischen Sinnen Rätsel;
Aber wer jemals
Von heissen, geliebten Lippen
Atem des Lebens sog,
Wem heilige Glut
In zitternden Wellen das Herz schmolz,
Wem das Auge aufging,
Dass er des Himmels
Unergründliche Tiefe mass,
Wird essen von seinem Leibe
Und trinken von seinem Blute
Ewiglich.
Wer hat des irdischen Leibes
Hohen Sinn erraten?
Wer kann sagen,
Dass er das Blut versteht?
Eins ist alles Leib,
Ein Leib,
In himmlischem Blute
Schwimmt das selige Paar. –
O dass das Weltmeer
Schon errötete!
Und in duftiges Fleisch
Aufquölle der Fels!
Nie endet das süsse Mahl,
Nie sättigt die Liebe sich:
Nicht innig, nicht eigen genug
Kann sie haben den Geliebten:
Von immer zarteren Lippen
Verwandelt wird das Genossene,
Inniglicher und näher.
Heissere Wollust
Durchbebt die Seele,
Durstiger und hungriger
Wird das Herz:
Und so währet der Liebe Genuss
Von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Hätten die Nüchternen
Einmal gekostet,
Alles verliessen sie,
Und setzten sich
An den Tisch der Sehnsucht,
Der nie leer wird.
Sie erkennten der Liebe
Unendliche Fülle,
Und priesen die Nahrung
Von Fleisch und Blut.«

Er sprach – aber es war ein süsser Sang. Stille Worte kamen über seine Lippen – aber sie tropften in ihre Hände wie ein Duft heisser Lindenblüten. Und ihre Brust bebte und ihre Augen sahen ein silbernes Licht.

»Was fühlst du?« fragte er.

Da sagte sie leise: »Es ist, als ob die Seele entfliehen wolle in des Bräutigams Arme.«

Er nickte: »Ja – so kann es wohl sein!« Er küsste ihre Augen rasch und sagte: »So, nun magst du schlafen!«

Er griff schnell ihre linke Hand und streichelte leicht mit dem Finger die hypnogene Stelle an der Maus des Daumens. Sie wehrte sich – sekundenlang; dann schlief sie ein. Schnell schloss er ihre Augenlider.

Er legte die Bücher weg. Er sass auf ihrem Bette, regungslos, überlegend und träumend –

»Ja, es wird gehn.« rief er laut. »Es muss gehen.«

Schnell beugte er sich über sie und hob ihren Kopf. Er schob alle Kissen darunter, dass sie hoch lag, dann sprach er sie an: »Hörst du mich, Teresa?«

Sie murmelte: »Ja.«

Er brachte seinen Mund dicht an ihr Ohr. Er sprach flüsternd, schnell und befehlend. Oft wiederholte er seine Sätze, sagte sie noch einmal, langsamer und bestimmter. Dann wieder unterbrach er sich. »Hörst du mich?« fragte er sie. Oder: »Du wirst es tun?«

Und immer kam ihr gelehriges, gehorsames: »Ja.«

Manchmal lächelten ihre Lippen, dann wieder verzogen sie sich in Angst und Entsetzen. Aber ihr »Ja« nahm gleich dankbar und demütig die Wonnen und Leiden für alle Ewigkeiten.

Er hielt inne, besann sich; beugte sich wieder herab, irgend etwas hinzuzufügen. Und zum Schlusse wiederholte er hoch einmal kurz und scharf alle Befehle.

Dann sagte er: »Nun will ich dich wecken. – Aber du wirst müde sein, sehr müde. Deine Augen werden dir zufallen und du wirst gleich einschlafen.«

Er blies sie leicht an, sie öffnete die Lider. Sie sah ihn an, streckte lächelnd die Hände nach ihm aus. Es war gewiss, dass sie nichts wusste von alledem, das er ihr eben gesagt. Die halb erhobenen Arme fielen zurück, ihre Augen schlossen sich.

Sie schlief.

Er stellte die Lampe fort und blies sie aus. Langsam ging er zur Türe. Und heftig, gegen seinen Willen, drängte es sich auf seine Lippen: » Nun wirk es fort – –«

Er ging in sein Zimmer und legte sich zu Bett.

»Ich bin ein Sieger.« sagte er. »Ich bin ein König. Ich bin ein Gott.«

Irgend etwas lachte – aber er wollte es nicht hören. Er sprach trotzig und stolz: »Ich bin ein Gott. Ich schaffe. Ich schaffe eine grosse und seltene Welt.«

Er fühlte, dass es raschelte und tuschelte. Irgendwo, unter dem Bett, in der Ecke – oder in seinem Hirne. Und er rief sehr laut: »Jagt mir die Ratten weg – ich bin gefeit.«

Er wollte nicht mehr denken – jetzt nicht. Er wollte schlafen – jetzt schlafen, sogleich, im Augenblick. Er wollte schlafen. Er schloss die Augen und biss die Zähne zusammen.

Er wollte schlafen.

So schlief er ein.

* * *

Hundert Ratten krochen aus seinem Schädel.

Der Vorhang war hochgezogen und die Bühne zeigte des Propheten Saal. Alle traten sie auf, Pietro und Sibylla, Ronchi, Ulpo und Matilda Venier. Wo nur Teresa war? – Er sah sie nicht.

Girolamo Scuro kam von hinten heran, ein einziger gewaltiger blutroter Kropf, ein Kropfballon mit rotem Blut gefüllt. Pietro Nosclere war ein schwarzer, langhaariger Affe, der Unterkiefer schob sich weit vor und die langen Arme berührten mit den Fingern den Boden. Wie ein rundes Rad war Sibylla Madruzzo gekrümmt, ihre Zähne bissen in die Fussspitzen, so rollte sie herum. Der Schneider, dürr wie ein Faden, trieb sie mit seiner Peitsche –

Alle zogen auf und warteten auf ihr Stichwort. Denn er sass vor ihnen, unten im Souffleurkasten.

Und dieser Kasten – war seines eigenen Schädels Dach.

Hundert Ratten aber sprangen aus seinem Schädel.

Sie liefen über die Bühne, da verschwanden die Menschen. Und die Ratten raschelten und tuschelten – lächelten.

Sie lächelten. Irgend etwas wollten sie sagen.

Dann aber setzten sie sich auf und jede nahm ihren langen Schwanz in die Zähne und biss ihn ab. Und es waren hundert lange, nackte Würmer, die auf ihn zukrochen. Wo sie krochen, da liessen sie einen weichen, hellen Schleim zurück, und der ganze Boden glänzte von diesem Schleim.

Er aber wusste: die Würmer krochen heran, sie krochen heran. Sie mussten kriechen und kriechen – – in seinen Mund und in die Ohren, in die Augen und in die Nasenhöhlen –

Hundert lange, nackte, schleimige Würmer –

Und er schrie – –

* * *

Seine Schläfen glühten, als er erwachte, und ihre Pulse hämmerten auf das Hirn. Die Decken lagen am Boden und der Wind vom See kühlte schnell den heissen Angstschweiss, der aus allen Poren brach. Seine Zähne klapperten, er fröstelte, nahm die Decken auf und hüllte sich eng hinein.

»Ich bin krank.« murmelte er. »Und das wird ein Fieber.« Er schalt sich; wie dumm war es doch, stundenlang auf des Mädchens Bett zu sitzen in dem dünnen seidenen Pyjama! – Warum nur?

Nun würde er nicht mehr schlafen können – – Sie kamen – immer mehr, Ratten, Würmer: Gedanken. Es gab kein Loch sich zu verkriechen; er war nackt und bloss und aller Glauben war in Stücke geschlagen.

Er war ein Bettler, ohne den Glauben, und sein Königreich ging in Rauch auf.

Er fühlte es wohl: er war kein Wundertäter. Er war nur ein Zauberer und ein schlechter dazu. Er dachte:

Wunder ist legitime Zauberei, erzielt durch himmlische Kräfte. Pietro glaubt an den Himmel und so ist er ein Wundertäter. Magie aber ist ein illegitimes Wunder, gewirkt durch die Kräfte des Abgrundes: und dieser Abgrund ist des Menschen Hirn. Er war ein schwarzer Magier und würde nimmer die weisse Kunst erlernen, die er verachtete.

Und beneidete zugleich. – Denn sie allein barg mit dem Glauben das Glück.

Er wusste wohl, es gab keine Grenzen für seines Geistes Macht. Der Mensch war der Schöpfung Herr und so musste diese seine Einwirkung empfinden. Wohin er wollte, wehte der Geist, und es gab keine Trennung zwischen Geist und Natur.

Nur eines gab es: eine furchtbare Mauer, die alles Glück umschloss. Und wer einmal heraus war aus ihrem engen Kerker, der konnte nie wieder hinein und irrte elend herum im gewaltigen Nichts und fand keinen Grund, auf den er den Fuss setzen konnte. Leicht kam man hinaus aus den starren Quadern des Glaubens, aber kein kleiner Weg führte dahin zurück.

Heute hatte er wohl gedacht, des Mädchens Hand möchte ihn führen. Wenn er an sich glaubte, so war er der Gott und die Welt war sein. Und er glaubte an sich in diesen Stunden.

Nun war es zu Ende.

– Er dachte nach über das, was geschehen war. Sie waren in der Scheune des Amerikaners gewesen. Mister Peter hatte alles getan, was er ihm eingeblasen; und der Erfolg war ein grosser und lehrte wohl, dass die Puppen tanzten, und welch ein guter und kluger Regisseur er war. Pietro hatte mit dem Herrn gerungen wie Jakob mit dem Engel: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!« Und er hatte den Herrn gezwungen ihn zu segnen und in seiner Hand den Wein in Blut zu wandeln und durch seinen Schlag die gelähmte Sibylla zu heilen.

Alle sahen es und alle glaubten es. Warum nur durfte er allein es nicht glauben? Warum musste er wissen, dass das Ringen mit dem Engel' nur eine schöne Phrase des Morgenlandes war, nichts anderes hiess, als ›Krämpfe bekommen‹, und dass der Verfasser des Pentateuch nur sagen wollte, dass der arme Jakob ein Epileptiker war!? War es nicht viel schöner, ihn kämpfen zu lassen mit dem Engel des Herrn, wie es alle christlichen Dummköpfe taten?

Für Blut tranken die Leute von Val di Scodra Pietros Trank – warum nur musste seine Zunge schmecken, dass es ein guter, klarer Wein war? Für ein Wunder nahmen sie der Sibylla Madruzzo Heilung – warum konnte er allein nichts darin sehen? Warum musste er hundert solcher Schwindelheilungen kennen und musste wissen, wie leicht sie zu erklären waren?

Allein das Grab des heiligen Franz von Paris, brachte ja zu Dutzenden solche Heilungen hervor. Annemaria Couronneau war so vollständig gichtbrüchig und gelähmt, dass alle Aerzte sie für unheilbar erklärten – und sie trug vom Grabe ihre Krücken auf der Schulter weg. Das Fräulein von Coirin litt durch zwölf Jahre am Krebs in der Brust und im Beine, und das heilige Grab von Sankt Médard heilte sie im Augenblick. Don Alfons de Palacios war unheilbar blind auf beiden Augen, doch der tote Herr Franz machte ihn sehend im Handumdrehen. Und so ging es fort, durch ein gutes Dutzend Jahre!

Der Heilige Rock von Trier liess die Freifrau von Droste-Vichering ihre Krücken fortwerfen und tanzen. Lourdes und Knock, Kevelaer und Valle di Pompeï wetteiferten in weisser Magie. Freilich ihre Wunder liessen nach, wurden weniger und immer weniger in dieser Zeit. Und die schwarze Magie trumpfte nun auf und Apollonius von Thyana wurde ein scharfer Konkurrent des Nazareners. Alle die Scherze, die die ägyptischen Magier vor Pharaos Thron Mosi vormachten, konnte der Reisende sich jeden Tag auf dem Fischmarkt Kairos oder auf der Messe zu Tanta vorgaukeln lassen. Die Saidije-Derwische lockten die Schlangen aus allen Winkeln, machten sie starr, wie Mosis Schlangenstab, und spazierten damit herum. Die Ilwanije-Bettelmönche steckten sich ein Schwert durch den Leib, trieben lange Nägel tief ins Fleisch, hielten die Arme ins Feuer, frassen glühende Kohlen und stiessen sich Eisenstachel zolltief in die Augen. Ultranghi-Wahrsager weissagten aus dem Becher oder aus einem Tropfen blauer Gallwespentinte und zeigten darin dem Beschauer deutlich die Personen, die er zu sehen wünschte. Die indischen Yoghi lagen sechzig Tage in starrem Schlafe in der Erde, die Alvinthrapriester liessen Blut aus der Luft speien und die Belgogs von Annam beherrschten wie Mephisto das gewaltige Heer der Flöhe, Wanzen und Läuse. Die Ysdrazauberer der Parsen schrieben mit sieben kabbalistischen Worten das Siegel Salomonis in die linke Hand und auf ein Ei die Namen der vier Hauptengel, legten es dann auf die flache Hand, sprachen ihr Sprüchlein und liessen es sich aufrichten, oder hingen es, wie einen Ring, an das Ohrläppchen. Die Magier der Afghanen fingen die Devas in den Lüften, so wie die gelben Kerle von Theben und Luksor die Geister der Toten, und die Urgamönche von Yemen schwebten in ihrem Tempel daher und lachten über alle Naturgesetze vom Schwergewichte.

Sie waren alle schwarze Magier; ihre Wunder krochen aus ihrem Hirn. Sie waren Menschen und der Meister lehrte den Schüler. Aber sie konnten glücklich sein, denn sie hatten doch etwas, an das sie glaubten: ihrer Geheimnisse Macht.

Er aber hatte nichts. Er kannte viele Geheimnisse; aber da er sie kannte, wusste er auch wie jämmerlich die grosse Herrlichkeit des Wunders war. Und er wusste gut, dass es viel schwerer war, einen Motor zu bedienen, als alle Wunder der Welt zu vollbringen.

Nun ekelte ihn sein Traum. – Val di Scodra. das grosse Zion aller Narren der Welt, dessen König er war! Dieser gewaltige Schwindel, der ihm Milliarden zu Füssen legen sollte! Er fühlte: er würde desertieren aus diesem Lager, wie aus allen andern.

»Nun wirk es fort – –« hatte er gesagt.

Nein, es sollte nicht fortwirken. – Ach, er würde ja nicht einmal lachen können! Er würde leer bleiben, wie er war, und wenn die ganze Welt mitritt in dem Sabbath des Wahnsinns, so würde doch sein Leben ohne Inhalt bleiben.

Denn er, er wusste ja, dass das alles doch nur eine faule, leere Blase war!

Teresa fiel ihm ein. Nun lag sie und schlief, traumlos. Morgen aber würde geschehen, was er befohlen –

Eine Stigmatisierte – eine Heilige mehr unter Hunderten?! – Was war es Grosses? Gab es nicht genug von der Sorte?

Und war es etwa ein gar so Besonderes, dass er sie dazu machte, er, mit seiner posthypnotischen Suggestion? Nicht einmal neu war sein Scherz – wenn auch nicht draussen, so war er doch im Experimentiersaale gemacht worden. Nancy und die Salpetrière kannten ihn gut, sahen manche blutende Transsudation bei ihren Hysterischen. Nein, die Suggestion der Stigmata war ein Charlatantrick wie jeder andere. Bah, er hätte gerade so gut ein wenig Eisenoxyd und Rhodankalium nehmen können, um die blutenden Male zu erzeugen!

»Nein, nein!« rief er. »Man muss ein Ende machen.«

Er sprang auf und ging hinüber in ihr Zimmer. Er setzte sich auf ihr Bett und lauschte ihrem stillen, ruhigen Atem. Dann schüttelte er sie heftig; sie wachte erschreckt auf.

»Teresa!« rief er.

»Ja,« antwortete sie schlaftrunken, »ja, was soll ich?«

»Teresa, du wirst das nicht tun, was ich dir sagte! Nichts wird geschehen von alledem! Nichts, hörst du?«

Sie richtete sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen: »Was soll ich nicht tun?« fragte sie erstaunt.

Er wiederholte: »Du sollst nicht – –« Aber die Zähne zerbissen den Satz – ah, er hatte vergessen, dass sie wach war! Rasch griff er ihre Hand und drückte heftig die hypnogene Stelle. Gleich fiel sie zurück.

Und er wiederholte ihr, was er eben gesagt. Und er sagte ihr, dass nie wieder, im Wachen nicht und nicht im Schlafe, je ein Gedanke in ihr wieder auftauchen würde an das, was er ihr vorhin befohlen. Gelöscht solle es sein und verschwunden für immer.

Er sprach schnell und wartete auf keine Antwort. Fast erleichtert atmete er auf. Dann weckte er sie rasch, liess sie liegen und ging zurück in sein Zimmer.

Bitter zogen sich seine Mundwinkel herab.

Er dachte: »Nun würde der Pfarrer sagen, ich hätte ein gutes Werk getan. Aber meine Tugenden sind meine schlimmsten Sünden und meine grossen Sünden waren immer Tugenden. – Ach, wenn ich nur den Unterschied wüsste!«

Und es fasste ihn ein unendliches Mitleid zu sich selbst.


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