Kurt Faber
Rund um die Erde
Kurt Faber

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Viertes Kapitel

Der Kettengang

Beim Baumwollpflücken. – In der Ölmühle. – Eine Höllenqual, die Dante vergessen. – Nächtlicher Spuk. – Ich erlange eine Lebensstellung. – Wärter im Irrenhaus. – Mr. Jones und der energetische Urstoff. – Hamlet auf dem Kriegspfade. – Wieder Vagabund. – Das große Schützenfest. – Gänzlich abgebrannt. – Das »Känguruhgericht«. – Im Gefängnis. – Ungnädiger Empfang. – Der Kettengang. – Das Grünhorn als Kammerkätzchen. – Wieder in Freiheit. – Besuch im Zirkus. – »Jetzt bleibt nur noch die Eisenbahn!«

Von Lumpen und Vagabunden will ich in diesem Kapitel berichten. Von Hunger und Not und endlosen Nächten in den düsteren Straßen. Vom Kettengang und vom Känguruhgericht.

Es ist ein heikles Thema, und ich sitze nun hier schon eine ganze Weile und denke darüber nach, wie ich alles der Tinte und Feder anvertraue, wie ich wohl das und jenes so zurecht mache, daß es sich nicht gar so sehr – doch nein! Es ist wohl am besten, wenn ich ohne Schminke und Puder alles so erzähle, wie es sich zugetragen hat.

Die Zeiten waren schlecht in Texas, zumal für die Grünhörner. Die Dürre hatte die Maisfelder versengt, und die Spekulanten hatten den Baumwollpreis geworfen. Die Marktnotierung der Baumwolle ist das Barometer der Stimmung in jenem Lande, in dem »King Cotton«, der König Baumwolle, regiert. Steht der Preis unter 10 Cents, so klopft die Not an alle Türen, und die Bauern leben von Maisbrot und von Wassersuppen, ist er dagegen etwa 15 Cents, so kaufen sie sich silbernes Zaumzeug und Pianos.

Eine solche Periode des Maisbrots und der Wassersuppen brütete nun wieder über dem Lande. Die Arbeit war knapp, die Löhne fielen immer tiefer, und die Zeiten waren traurig, zumal für die Grünhörner, die als »Yardmen«, Zuckerbäcker und Tagelöhner ihren Unterhalt verdienen. Es war ein ständiges Suchen und Haschen nach Arbeit und Verdienst. Ein Leben von der Hand in den Mund, wobei für letzteren gar oft nicht allzuviel übrigblieb. Kampf ums Dasein in einem Gewande von Leichtsinn und Gedankenlosigkeit. Kaum weiß ich es selber, in wieviel Stellen ich mich in jenen Monaten betätigt habe, aber wenn ich es an den Fingern abzähle, so wird wohl das Dutzend voll. Es war, als ob ein böser Geist es darauf abgesehen hätte, mich immer wieder auf die Straße zu setzen. Einmal paßte dem Boß meine Arbeit nicht, ein andermal nahm ich dafür bei meinem nächsten Arbeitgeber Rache, indem ich ganz amerikanisch mitten in der Arbeit davonlief. Immer kam etwas dazwischen. Beim Brunnengraben, beim Zäunebauen, beim Kühehüten, beim Heumachen, beim Baumwollpflücken.

Ah, Baumwollpflücken! Das ist ein Martyrium, das ich meinem schlimmsten Feinde nicht gönne. Dieses Spießrutenlaufen unter der Texassonne. Staubig sind die Felder, staubig die Stauden und heiß wie ein Höllenofen die Sonne. Mit dem ersten Schimmer des Tageslichts geht es hinaus ins Feld, wo man in der flimmernden Hitze die weiße Frucht von den staubigen Stauden pflückt. Nach einer Stunde sind die Hände blutig und zerrissen und voller Stacheln und Dornen. Eine Stunde später geht es wie ein Messer durch die Eingeweide, wenn man versucht, den Rücken gerade zu machen. Um Mittag hat die Sonne die Augen geblendet, und wenn man spät abends nach Sonnenuntergang sein Tagewerk beschaut, so macht man die Entdeckung, daß man noch nicht das Wasser verdient hat, das man bei der Arbeit trinken mußte. Wer noch nicht weiß, wieviel ein Pfund Baumwolle ist, der gehe auf ein Texasfeld und prüfe es nach. Alles will gelernt sein. Auch das Baumwollpflücken. Dort, wo ich im Schweiße meines Angesichts meinen Beruf verfehlte, haben die alten, dicken, fetten Negerweiber drei Dollars im Tag verdient. Halb kniend, halb kriechend huschten sie wie die leibhaftigen Teufel durch die langen Reihen und zupften die Baumwolle von den Stauden. Es war, als ob sie Tausendfüßer als Hände hätten. Sie lachten und schwatzten und trieben allerlei Unfug, und dennoch blähte sich der vorgebundene Sack mit Baumwolle. Weiß der Kuckuck, wie sie es machten.

Ich kenne aber ein Inferno, das noch schlimmer ist als die Baumwollfelder. Dantes Hölle unter der Texassonne, das ist die Ölmühle.

Eines Tages, als ich wieder einmal mit wenig Geld und ohne Beschäftigung in den Straßen von San Antonio herumlief, kam ein Mann auf mich zu und fragte mich, ob ich Lust hätte, für ihn zu arbeiten. Er zahle vier Dollars im Tage.

»Wieviel?«

»Vier Dollars! Und dabei gar keine schwere Arbeit. Nur ein bißchen schmutzig.«

So gingen wir denn zusammen nach der Ölmühle, einem großen grauen Gebäude, in dessen Nähe alles mit einer dünnen, grünlichen Staubschicht überzogen war. Er gab mir eine Schaufel und einen Sack und führte mich dann durch einen düsteren Hof, durch lange Gänge und über knarrende Treppen in einen großen Raum, erfüllt von einer dicken Wolke von grünem Staub, in der man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Sekundenlang tauchten halbnackte Menschen auf wie die Gespenster und verschwanden dann wieder ebenso plötzlich in dem Nebel. Der Boden zitterte. Die Maschinen surrten, und die Treibriemen sausten an der Decke. Plötzlich stand eines von diesen schattenhaften Wesen vor mir. War es ein Mensch? War es ein Gespenst? Und wenn es ein Mensch war: war es ein Schwarzer oder ein Weißer? Ich weiß es nicht. Grün war es vom Scheitel bis zur Sohle, und nur das Weiß der Augen funkelte unheimlich aus der Hülle.

»Hier, fass' mal den Sack an«, wandte er sich an mich. »Nein, anders herum, du Rindvieh!«, dann schaufelte er das grüne Baumwollmehl in den Sack, wobei bei jeder Schaufel eine Wolke mir gerade ins Gesicht flog. Die Hitze trieb mir den Schweiß aus allen Poren. Das grüne Mehl setzte sich in den Haaren fest, und es dauerte nur wenige Minuten, bis ich ein ebenso grünes Wesen war wie der andere. »Oh, das ist doch nichts«, sagte er, »es kommt noch viel schlimmer.« Ich aber hatte an dieser Erfahrung schon gerade genug. Ohne ein weiteres Wort warf ich den Sack hin und eilte über die knarrende Treppe hinunter in den Hof, wo Luft und Sonne war.

»God damn«, sagte der Geschäftsführer, »Sie haben's ja nicht lange ausgehalten! Aber das ist alles nichts, wenn man sich erst mal daran gewöhnt hat. Es ist ein Geschäft wie alle anderen, und wenn Sie erst eingearbeitet sind, bekommen Sie fünf Dollars im Tag.«

Fünf Dollars? Nein, nicht um ein Vermögen! Fort eilte ich über den großen Hof. In einem nahen Bach wusch ich mir, so gut es ging, den grünen Staub aus dem Gesicht. Dann eilte ich weiter und schaute mich nicht einmal um, bis ich mir diese Hölle in Grün aus der Ferne besehen konnte.

Doch weil ich nun einmal bei diesen alten Erinnerungen verweile, muß ich noch eine andere Geschichte aus jenen Tagen mitteilen, selbst auf die Gefahr hin, für einen abergläubischen Gespensterseher gehalten zu werden.

Eines Tages, als ich an einer in der Nähe der Stadt gelegenen Milchwirtschaft beschäftigt war, sollte ich eine Ladung Baumwollmehl als Viehfutter von der Ölmühle holen. Da aber bei meiner Ankunft die Mühle bereits geschlossen und der nächste Tag ein Sonntag war, stellte ich den Wagen bei einem Bekannten ein und kehrte zu Fuß nach der Farm zurück, obwohl die Nacht bereits hereingebrochen war. Jetzt erst, da ich die Strecke zum erstenmal zu Fuß zurücklegte, merkte ich, daß der Weg sehr lang war. Die breite Straße streckte sich endlos in der Ebene. Hinter den weißen Zäunen knurrten die Hunde. Der Nachtwind rumorte in den Pfefferbäumen, und die hohen Telegraphenstangen summten in der Finsternis. Da und dort krähte ein übernächtiger Hahn.

Allmählich verschwanden die Lichter am Wege. Schwarze Dornbüsche standen in der Prärie. Schakale heulten in der Ferne. Die Nacht lag schwer wie ein Ungeheuer über der Landschaft. Lange marschierte ich gedankenlos weiter, bis die Straße immer schlechter wurde und allmählich bis auf ein paar Wagenspuren vollständig aufhörte. Verwundert schaute ich mich um. Die Telegraphenstangen waren verschwunden. Kein Stacheldrahtzaun war zu sehen. Dornbusch und Prärie überall, und in der weiten Runde keine Spur menschlicher Tätigkeit, mit Ausnahme eines anheimelnden Lichtes, das weit in der Ferne zwischen den Büschen hervorleuchtete. Ich ging darauf zu, um Erkundigungen über den Weg einzuziehen.

Aber je näher ich kam, desto sonderbarer schien mir das Licht. Ein merkwürdig flackernder Schein, wie das Irrlicht auf einem Sumpfe. Nach einer Weile kam ich an ein Farmhaus; eine jener primitivsten Bretterbuden, wie sie der ärmere Farmer in Texas bewohnt. Das Zauntor stand weit offen. Die Tür zum Hause war ausgehängt, und durch die offenen Fenster flackerte ein unruhiges Licht. Nirgendwo zeigte sich eine Spur von Leben. Nicht einmal das unvermeidlichste Haustier einer Texasfarm, ein Hund, war zu sehen. Ich rief, ich schrie, ich klatschte in die Hände, aber niemand meldete sich. Das war höchst sonderbar. Aber meine Verwunderung verwandelte sich in Erstaunen, als ich mich dem Haus näherte und neugierig zum Fenster hineinschaute. Da standen in einem großen, kahlen Raum zwei mächtige, zum größten Teil schon heruntergebrannte Kerzen. Der Nachtwind strich durch die offenen Fenster und hielt die Lichter in flackernder Bewegung. An der Wand hing ein Bibelspruch:

»I need thee every hour.«

Ich brauch' dich jede Stunde! Zu Füßen der Kerzen aber lag starr und kalt ein Toter.

Eine Weile stand ich sprachlos. Was sollte der Spuk in der Nacht? Wie kam der Tote hierher? Und wo waren die anderen, die die Bescherung hergerichtet hatten und nun auf und davon geritten waren? Und wie würde es sein, wenn binnen kurzem die Kerzen ganz heruntergebrannt waren, bis der Strohsack auf dem Bett von Flammen erfaßt würde und das Haus mitsamt dem Toten verbrenne? Mit einemmal kamen alle diese Gedanken über mich. Der Tod, die Nacht und das Grauen erfaßten mich zu gleicher Zeit. Ohne mich noch einmal umzukehren, lief ich davon in die Dunkelheit, weiter und weiter durch die Wildnis. Es war eine häßliche Nacht voll Bilder und Gestalten der überhitzten Phantasie. Die Steine am Wege wuchsen zu Ungeheuern, aus dem Buschwald huschten Gespenster, und das Mondlicht lag wie ein Leichentuch über der Prärie. Der Tod, der Tod überall!

So war über allen diesen Ereignissen mehr als ein Vierteljahr ins Land gegangen, ohne daß es mir gelungen wäre, auf der sozialen Stufenleiter höher hinaufzuklettern, als zu der Klasse von Menschen, die man in der Sprache des Gerichts und der Polizei »Gelegenheitsarbeiter« nennt, bis dann mit einemmal mein Geschick eine glorreiche Wendung zu nehmen versprach. Eine festbesoldete Staatsstellung mit Pensionsberechtigung stand in Aussicht. Eine Anzeige im »Herald« suchte einen wohlerzogenen jungen Mann als Wärter in einer Irrenanstalt. Auf mein hochachtungsvolles Bewerbungsschreiben war nun wirklich in einem dicken gewichtigen Umschlag eine Antwort gekommen: Ich solle mich umgehend beim Direktor melden.

Da stand ich nun vor dem grauen, düsteren Gebäude. Ein Diener führte mich über den weiten Hof und durch die langen Gänge in das Büro. Nach einer Weile kam der Direktor, ein stattlicher Herr mit weißen Haaren.

»Wo haben Sie Ihre Zeugnisse?« fragt er ohne Umschweife.

»Die habe ich in meinem Koffer, der noch von Galveston unterwegs ist.«

»Merkwürdig – die Papiere läßt man nicht im Koffer liegen. Wo haben Sie denn bisher gearbeitet?«

»Drei Jahre lang war ich auf einer Farm in Pennsylvanien beschäftigt, zweiundeinhalb Jahre in einer Spezereihandlung in Neuyork und anderthalb Jahre in einem Speditionsgeschäft in New Orleans.«

»Hm, ja. Sonst noch etwas?«

»Und ein Jahr in einer Maschinenfabrik in Pittsburg, ein halbes Jahr in einem Spital in Austin. Drei Monate lang war ich bei einem Zuckerbäcker in Atlanta, Georgia, beschäftigt, und dann . . .«

»Allright, allright – das genügt schon! Lassen Sie mal sehen. Das wären drei, zweieinhalb, anderthalb, eins, einhalb – wie alt sind Sie eigentlich? Sie sollten einen alten Mann wie mich nicht belügen.«

Der alte Herr hatte aber ein Einsehen trotz aller meiner Lügen, und ich wurde, vorerst zur Probe, an der Farm angestellt, die zur Anstalt gehörte. Eine Weile ging die Sache ganz leidlich.

Da war Mister Jones, einer der Kranken, die wir auf der Farm beschäftigten. Er hatte ein bleiches, durchgeistigtes Gesicht und große, schwarze, tiefliegende Augen. »Den mußt du gut behandeln«, hatte mir der Verwalter der Farm gesagt, »er ist ein feiner Mann und ein kluger Mann. Er hat studiert. Er kann reden wie ein Buch über alle Heiligen im Kalender. Er kann den Mücken die Haare auf dem Kopfe zählen. Aber er ist auch ein gefährlicher Mann. Ganz verdammt gefährlich zuweilen. Am besten ist es, wenn man ihn ganz allein läßt. Und vor allem darfst du nicht vergessen, daß er eine Handhabe an seinem Namen hat. Mister Jones mußt du ihn nennen. Sonst garantiere ich für nichts mehr.«

Wir wurden bald gute Freunde, Mr. Jones und ich. Wenn in der Mittagspause die Sonne brannte, setzte er sich zu mir unter den Schatten des Ahornbaumes und verwickelte mich in tiefsinnige Gespräche über Kunst, Wissenschaft, Philosophie und noch einiges andere. Der Verwalter hatte recht gehabt: er konnte reden wie ein Buch. Vernünftig, logisch und mit einer Beredsamkeit, die einem Tammanyagitator Ehre gemacht hätte. Einmal dozierte er über Kant und Fichte. Ein andermal ließ er kein gutes Haar an Herbert Spencer.

»Sehen Sie«, sagte er eines Tages zu mir, »das ist nun mein System: die Erde, wie wir sie sehen, die Bäume im Walde, die Steine am Wege, die Menschen, die darauf wandern, das ist alles das Entwicklungsprodukt eines energetischen Urstoffs. Aus dem Nebel, der vor Zeiten das Nichts erfüllte, ist alles Leben erwachsen, und je mehr dieses sich zu Gestalten verdichtete, desto mehr begannen die Verschiedenheiten und die Ungleichheiten in der Welt und unter den Menschen überhand zu nehmen. Darum ist es doch ganz natürlich, daß es das Bestreben aller Wissenschaft sein muß, die Welt und das Wesen alles Seins wieder diesem Urstoff zu nähern. Ist das nicht richtig?«

»Gewiß«, sagte ich, »das ist ganz natürlich.«

»Nicht wahr, das sagen Sie doch auch!« rief er triumphierend aus, »gewiß ist das selbstverständlich! So muß jedermann aus dem Volke sagen! Aber die Großen im Lande, die wollen nichts davon hören. Darum verfolgen sie die Männer, die solches lehren und machen sie unschädlich auf ihre Weise. Aber die Wahrheit – ja, die Wahrheit! Die läßt sich nicht aufhalten auf ihrem Wege! Sie marschiert voran und macht nirgendwo halt, nicht vor Bergen und Strömen, nicht vor Irrenhäusern und nicht vor Gefängnistoren!«

Wenn er so redete, da wich auch das letzte Tröpfchen Blut aus seinem bleichen Gesicht, und seine schwarzen, irrsinnigen Augen glühten wie zwei feurige Kohlen.

Da war ein junger Mann, den sie in der Küche beschäftigten. Ein schöner Mann von schlanker, stattlicher Gestalt. Dazu ein hübsches Gesicht mit scharfen, ausgeprägten Zügen. Immer trug er eine mexikanische Mantilla, die er lose über die Schultern schlang, so daß er aussah, wie Hamlet auf dem Theater. Dieser Hamlet hatte auch seine Ophelia. Fast jeden Tag, wenn ich nach der Küche kam, um etwas zu besorgen, packte er mich mit einer Hand beim Arm und mit der anderen deutete er theatralisch nach einem Fenster in einem weitabgelegenen Flügel des Gebäudes, in dem die Frauen untergebracht waren.

»Siehst du sie dort? Hinter diesem Fenster, da wohnt sie, mein sweet heart – die Geliebte meines Herzens. Ich weiß, daß sie dort wohnt, denn mein Herz sagt es mir! Zwar, gesehen habe ich sie noch nicht. Ich weiß noch nicht, ob sie groß ist oder klein, ob sie schwarz ist oder weiß, oder eine Mexikanerin. Ich weiß nicht, wie sie heißt und woher sie kommt, aber ich weiß, daß sie schön ist wie ein Gott, und daß sie mich liebt mit ihrer ganzen Seele!«

Da war ein anderes, gar gebrechliches Geschöpf, das täglich mehrmals in der größten Sonnenhitze über den schattenlosen Hof spazierte. Das war Miß Nothing – das Fräulein Nichts. Es war ihr schlecht gegangen auf dieser Erde, und das Leben hatte es so mit sich gebracht, daß sie sich viel in Geduld und Entsagungen üben mußte, bis sie sich eines Tages einbildete, nichts – absolut nichts zu sein. Rings um sich breitete sie eine undefinierbare, schleierhafte, nebelige Atmosphäre von Nichts. Nur wenn jemand von ungefähr in ihre Nähe kam, geriet sie in große Aufregung. »Lassen Sie mich gehen, mein Herr – um Gottes willen, rühren Sie mich nicht an! Ich bin ja Nichts!«

Das war Miß Nothing. Fürwahr, eine sonderbare Dame! Aber am Ende hat sie den Sinn des Lebens besser erfaßt als wir alle, die wir uns ängstigen und grämen in dieser Welt von Nichts und Nichtigkeiten.

Da war ein anderer Patient in der Anstalt, der nichts von dem tiefen Geist der Miß Nothing verspürte und nebenbei in allem und jedem das Gegenstück von Hamlet war. Er hatte ein breites, verschwommenes Gesicht und keine Spur von Hamlets Temperament. Beständig kauerte er in einer Ecke und murmelte vor sich hin. »Da hockt er nun schon seit zwanzig Jahren«, sagte der Wärter, »und wer weiß? Es können noch einmal zwanzig Jahre darüber hingehen, bis wir ihn los werden, denn er ist gesund wie nur einer. Wir müssen ihn füttern, wir müssen ihn waschen, denn von selbst wird er niemals etwas tun.«

Nach wenigen Wochen nahm meine Tätigkeit ein plötzliches und wenig ruhmreiches Ende. Und schuld daran war niemand anders als Hamlet. Eines Tages, als ich mir herausnahm, mich etwas skeptisch über seine Ophelia zu äußern, geriet er in namenlose Wut. Ohne ein weiteres Wort packte er eine riesige Schüssel voll Mehl und stülpte sie mir über den Kopf. Ich blieb die Antwort nicht schuldig. Hamlet bekam ein blaues Auge und eine blutige Nase. Der Küchenchef telephonierte nach der Verwaltung, und schon nach wenigen Minuten kam der Herr Direktor selber herein, gestiefelt und gespornt wie Fortinbras in das Dänenschloß. Was mir denn einfiele? Sei das eine Art, mit den Kranken umzugehen? Ich solle sofort aufs Büro kommen und mein Geld in Empfang nehmen. Dann könne ich mich gefälligst zum Teufel scheren.

Traurig, mißmutig und wirklich niedergeschlagen wanderte ich über die staubige Straße zurück nach San Antonio. Krankenpfleger – ja, das war am Ende doch nicht der richtige Beruf für mich! Ich kam gerade noch recht zum großen Schützenfest. Die ganze Stadt war geschmückt mit schwarzrotgoldenen Fahnen. In den Schaufenstern standen zwischen Blumen und Palmen die Büsten von Bismarck und Moltke, und über die Straßen weg waren Leinwandstreifen gespannt, auf denen in großen Buchstaben zu lesen stand: »Willkommen, ihr Schützen!« Eben kam gerade der Festzug um die Ecke. Ein stattlicher Zug mit Musik, Fahnen und allem Zubehör. Voraus ritt eine Schar Polizisten. Dann kamen Musik und Fahnen und dahinter, in endlosen Reihen, die Schützen in grauen Joppen und Federhut. Ganz wie bei uns. Dann wieder Musik und Fahnen, weißgekleidete Ehrenjungfern, und dann – was war denn das? – eine kriegsstarke Kompanie von bayerischem Militär mit dem alten Raupenhelm. Vor den Haustüren standen die jungen Damen und konnten sich nicht genug tun mit Winken und Heilrufen. Plötzlich rannte einer der Soldaten ganz vorschriftswidrig aus Reih und Glied davon auf eine der bestürzten Jungfrauen zu, packte sie um den Hals und gab ihr einen Kuß, den man drei Straßen weit hörte. »Alleweil hot's awer g'schellt!«

Es dauerte fast acht Tage, bis das Schützenfest vorüber war und der graue Alltag allmählich wieder in seine Rechte trat. Das Geld war mir inzwischen noch besser als sonst durch die Finger gegangen, und ich erlebte keinen geringen Schreck, als ich meine Barschaft zusammenzählte. War denn dieser einzige graue Silberdollar mein ganzes Vermögen? Ich suchte und suchte immer wieder. Ich durchsuchte alle Taschen, aber abgesehen von ein paar Nickelstücken wollte sich nichts weiter finden. Es war wirklich höchste Zeit, daß ich mich um eine Existenz bemühte. Ich sparte wie ein Geizhals mit meinen paar Cents, ich rannte alle Türen ein nach Arbeit und Verdienst, aber alles umsonst. Drei Tage später stand ich auf der Straße, wie schon so mancher vor mir, angesichts des Nichts. Eine ganz verteufelte Lage! Du gehst durch die Straßen und weißt nicht wohin. Du siehst mit knurrendem Magen die anderen essen. Die Müdigkeit liegt wie Blei in deinen Gliedern, aber schlafen darfst du nicht. Du siehst die anderen Menschen vorübergehen. Sie drängen sich vor den Bars, sie füllen die Wirtschaften, vor deren Türen die süßen Bratengerüche schweben. Nur du –.

Die Mitternacht war schon vorüber, und es begann still zu werden in der Stadt. Das spärliche Licht der Laternen spiegelte sich in dem Asphaltpflaster, und eilige Schritte verspäteter Nachtschwärmer verhallten zwischen den Häusern. Ein messerscharfer »Norder« fegte durch die Gassen. Ziellos wanderte ich weiter. Wohin?

Ich setzte mich auf eine Bank in der Plaza und versuchte zu schlafen, aber ich konnte es nicht. Der Nachtwind zog seufzend und klagend durch die Baumkronen. Das Mondlicht schaute neugierig durch das Fiederkleid der Palmen. Ein Uhr schlug es auf der Turmuhr der Kathedrale. – Zwei Uhr. – Drei Uhr. Endlos lange Stunden. Unwillkürlich begann ich nachzudenken über mein vergangenes wildes Leben und erschien mir selbst als das nutzloseste Geschöpf in ganz Amerika.

Da legte sich plötzlich eine schwere Hand auf meine Schulter. »Hallo young fellow!« sagte die gewichtige Stimme eines riesenhaften Schutzmannes, »das ist hier keine Schlafgelegenheit!« Dann betrachtete er mich von oben bis unten.

»Hast du Geld?«

»Nein.«

»Zeig mal deine Hände!«

Ich hielt ihm eine Hand hin, die er so kritisch betrachtete, wie eine wahrsagende Zigeunerin auf dem Jahrmarkt.

»Well«, meinte er schließlich, »man sieht, daß du ein Arbeitsmann bist. Komm' mal mit!«

Er führte mich zur Polizeiwache, wo sie mir alle Taschen untersuchten und alles abnahmen, was ich bei mir führte: mein Taschentuch, mein Taschenmesser – nur nicht mein Geld. Dann brachten sie mich in einen kahlen Raum mit eisernen Wänden, vergitterten Fenstern und einem Fußboden aus Zement. Unter einer bunten Wolldecke in einer Ecke des Raumes lag ein anderer Arrestant und schnarchte so laut, daß die Eisenstäbe vor dem Fenster zitterten. Ein Beamter warf mir eine Decke zu, etwa so, wie man einem wilden Tiere ein Stück Fleisch in den Bärenzwinger wirft.

»Da, schlaf!«

Der Tag war schon weit vorgeschritten, und ein ganz dünner Sonnenstrahl fiel durch das vergitterte Fenster unter der Decke, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Der Schnarcher in der anderen Ecke – ein junger Bengel mit einem spitzen Gassenbubengesicht – war auch schon aufgewacht. »Hallo!« rief er mir zu, »was hast du denn ausgefressen?«

»Gar nichts«, antwortete ich, »der Schutzmann hat mich einfach mitgenommen.«

»Und Geld hast du wohl keins?«

»Nein.«

»Noch niemals vorher hier gewesen?«

»Nein.«

»Zehn Tage.«

Das sagte er mit der Entschiedenheit des Fachmanns, etwa so, wie ein Arzt die Diagnose stellt. Und er ließ sich auch nicht durch alle meine Einwendungen von seinem Urteil abbringen.

»Aber das ist doch kein Grund, um darüber zu weinen! Zehn Tage! Das ist ja gar nichts! Gerade eine kleine, nette Erholung von der Reise. Was würdest du denn sagen, wenn du in meinen Schuhen stecktest? Ich bekomme nämlich sechzig Tage aufgebrummt, obwohl ich an der ganzen Sache so unschuldig bin wie die Mücken hier an der Wand. Mein Kamerad Billy aus Missouri – ich hätte mir's auch denken können, daß er nichts taugt – hat mir die ganze Suppe eingebrockt. Montag nacht wollten wir zusammen ein Ding drehen bei einem Farmer drüben in Castroville. Ich springe gleich hinein in den Hühnerstall und ergattere mir einen von den Welschhähnen. Wie ich mich nun nach den anderen umsehe, da fällt Billy von der Hühnerleiter herunter gerade in den Schweinestall. Das gab einen Höllenspektakel. Die Hühner fangen an zu schreien, die Schweine grunzen und quieken, der Hund reißt an der Kette, und der Farmer kommt mit einem Schießprügel. Ich natürlich auf und davon und gerade einem Schutzmann in die Hände. Und Billy – ha, Billy! Der hat sich beizeiten aus dem Staub gemacht. Nun sage mir einer: wo bleibt da die Gerechtigkeit?«

Im Laufe des Vormittags kam ein Diener und brachte uns nach dem Gerichtsgebäude. Über eine breite Steintreppe ging es hinauf in einen schönen, großen Saal mit hohen Fenstern hinter dicken, grünen Vorhängen, durch die das Licht nur gedämpft hindurchfluten konnte. Ein betreßter Gerichtsdiener saß an einem Tisch hinter einem dicken Aktenbündel. Vor ihm, an einem Pult, thronte ein würdiger, alter Herr mit einer schwarzen Mütze auf den grauen Haaren. Das war der Richter. Und zu seinen Füßen – nun, es war nicht eben die Auslese von San Antonio, die sich dort versammelt hatte! Sie waren alle hübsch sortiert, je nach dem Charakter des vermuteten Delikts, die Spitzbuben, die Hühnerdiebe, die Kampfhähne, die Messerstecher, die Trunkenbolde. Mich hatten sie unter die Vagabunden eingereiht.

Was nun begann, das war summarische Justiz. Rechtsprechung im Automobiltempo. Man nennt das in Amerika ein Känguruhgericht, weil der Richter sich nie länger als ein paar Sekunden bei einem Opfer aufhält, sondern immer nach der Weise des Känguruhs von einem zum anderen springt. In der Tat: Geschwindigkeit ist keine Hexerei! Es laufen greuliche Ungerechtigkeiten unter, aber es dient zur Vereinfachung der Verwaltung und spart das Geld der Steuerzahler.

Der Herr Richter hatte sich eben die Trunkenbolde vorgenommen.

»Nun, was haben Sie zu sagen?« wandte er sich an einen Menschen, der nach seinem ganzen Äußeren seine leidenschaftliche Vorliebe für den Alkohol nicht wohl leugnen konnte, »Schuldig oder nicht schuldig?«

»Schuldig, euer Gnaden.«

»Drei Tage.«

In solch bündiger Weise fertigte der Gewaltige einen nach dem anderen ab. Die Trinker, die Raufbolde, die Taschendiebe. Alle sagten: guilty your worship – schuldig, Euer Gnaden. Und es hagelte Urteile von der Höhe des Pultes. Drei Tage, zehn Tage, sechzig Tage, sechs Monate. Die Vagabunden sparte er sich bis zuletzt auf, weil hier der Fall nicht ganz so einfach lag. Zuerst nahm er sich einen gewerbsmäßigen Landstreicher vor; einen zerlumpten ausgefransten Kerl mit einem fetten Gesicht voll Sommersprossen. Man konnte ihm ansehen, daß er bereits müde zur Welt gekommen war.

»Ich habe gearbeitet«, sagte er trotzig.

»Sechzig Tage«, sagte der Richter.

Nach diesem Exemplar der edlen Zunft kamen noch einige Tagediebe an die Reihe, die alle mit einem kleinen Geschenk von je fünf bis sechzig Tagen beglückt wurden. Zuallerletzt kam die Reihe an mich.

»Was haben Sie zu sagen? – Schuldig?«

»Nein, nicht schuldig!«

»Ah! Was? Sieh' mal einer an! Ja, haben Sie denn Geld?«

»Nein.«

»Zehn Tage!«

Ich wollte noch etwas darauf erwidern, aber der neben mir stehende Polizeidiener schnitt mir kurz das Wort ab. »Come on!«

Ehe ich wußte, wie mir geschah, stand ich schon in dem schattenlosen Hof des Bezirksgefängnisses vor einem grauen düsteren Gebäude. Knarrend fiel das Schloß hinter mir zu. Da war ich. Ein rothaariger Wärter mit einem mächtigen Schlüsselbund nahm sich meiner an und führte mich durch die langen kahlen Hausgänge. Wie öde und traurig es hier war! Keine Spur von Wohnlichkeit. Eisen, Zement und Mörtel, und über dem allen eine dumpfe, muffige, merkwürdig süßliche Luft. Gefängnisluft. Schließlich gelangten wir in einen großen, düsteren Raum mit eisernen Wänden und einem Fußboden aus Zement. Etwa zwanzig Kerle lagen, in bunte Decken gehüllt, auf dem nackten Boden. »Halloh, Jack, what are you in for? – Was hast du ausgefressen?« riefen sie mir wie aus einem Munde zu.

Ich hätte etwas darum gegeben, wenn ich es selbst gewußt hätte.

»Wo kommst du her?« fragte mich ein magerer Bursch mit einer grauen, ungesunden Gefängnisfarbe. Eine Weile musterte er mich kritisch von oben bis unten. Dann spuckte er mit einer Bewegung voll unnachahmlicher Verachtung vor mir auf den Boden. »Pah, schon wieder ein Grünhorn! Seit einem Monat von Sonntagen ist kein dufter Kunde mehr hier hereingeschneit. Nichts wie verhungertes Pack, zu dumm, ein Butterbrot zu fechten, oder gar ein ordentliches Ding zu drehen! Aber dies hier ist ein verdammt schlechter Platz zum Sattessen! Der Herr Direktor ist ein Magenräuber. Die Hälfte von dem Geld für die Verpflegung wandert in seine eigene Tasche, und an dem, was übrig bleibt, machen sich die Wärter gesund. Ich bin, bei Gott, schon in allen Gefängnissen gewesen, von New Orleans bis San Franzisko, aber dieses hier ist das schlimmste von allen. Das ist es eben, warum in ganz San Antonio kein Grünhorn mehr sicher ist. Weil sie an jedem Prozente verdienen.«

»Ja, so ist es«, stimmten die anderen bei, »das schlechteste Gefängnis in ganz Amerika.«

Ich sollte bald selbst herausfinden, wie recht sie hatten. Die Mahlzeiten waren mehr als kärglich. Morgens und abends gab es eine dünne Scheibe Brot und mittags eine noch dünnere Bohnensuppe. Nach dem »Frühstück« kam ein Wärter und holte die Leute für die Arbeit ab. Alle wurden aneinander gefesselt mit schweren Ketten, die vom Handgelenk zum Fußgelenk und von dort zum Vordermann führen. Das nennt man den chain-Gang – den Kettengang.

Ich selbst entging nur dank der besonderen Umstände diesem Schicksal. Die Frau des gestrengen Gefängnisverwalters war nämlich eine sehr delikate Dame. Morgens stand sie erst um zehn Uhr auf, und bis sie sich fertig geschminkt und gepudert hatte, war es Zeit für den »Lunch«. Mittags mußte sie die Modezeitschriften durchblättern und die Gesellschaftsneuigkeiten in der Zeitung studieren, und gegen Abend ging sie »shopping«. Solche Lebensweise erforderte natürlich viel Bedienung. Ein Chinese herrschte in der Küche. Ein junges Ding aus dem Weibergefängnis versah das Amt eines Kammerkätzchens, und das Mädchen für alles – das war ich.

Ja, es ist erstaunlich, welche Fülle von schlummernden Talenten in einem Menschen geweckt werden, wenn er erst einmal anfängt, sich darin zu versuchen. Ich mußte die Stuben fegen und die Teller waschen. Ich mußte die Möbel abstauben und die Blumen vor dem Fenster gießen. Vor allem aber mußte ich den ganzen Tag über auf Kitty aufpassen. Kitty war eine große Zibetkatze mit wunderschönem silberglänzendem Fell. Täglich mußte sie gewaschen und gekämmt werden, und die Gnädige ließ es sich nicht nehmen, diese Arbeit persönlich zu beaufsichtigen, damit ich auch mit dem nötigen Zartgefühl zu Werke ging.

Ja, Kitty war die Hauptperson im Haushalt! Sie war die Sonne, um die sich alles drehte. Gar keine Nummer dagegen hatte Papa, oder einfach »Pa«, wie sie ihn nannten. Er mußte der Lady das Essen ans Bett bringen, er mußte das Kind in den Schlaf wiegen, wenn es gar so unruhig war, er mußte die Bilder aus den Modejournalen ausschneiden und in eine Mappe heften. Und er fand es auch ganz in der Ordnung, daß dem so war und nicht anders.

Ein weiteres Mitglied des Haushaltes war Fifi, ein junger Galgenstrick von etwa 11-12 Jahren. Er war ein fast noch größerer Tyrann als Kitty. Wie er sprach, so geschah es, und wie er gebot, so stand es da. Und wenn Papa einmal Miene machte, seine Wünsche nicht zu berücksichtigen, so stampfte er den Boden mit den kleinen Füßen. Einmal geriet er aus irgendeinem Grund in wahnsinnige Wut. Darüber kam er in die Küche und zertrümmerte Teller und Schüsseln im Wert von mindestens zehn Dollars. Aha! dachte ich mir, der Krug geht so lange zum Wasser, bis er bricht! Nun wird Fifi endlich, endlich seine Schläge bekommen! Was wußte ich von transatlantischer Kindererziehung! Mama bekam über die Geschichte einen Nervenschock, »Pa« rannte spornstreichs, ohne Hut und Mantel zu einem Arzt, und Fifi bekam eine Tüte voll Pralinés zur Beruhigung der Nerven.

Es war also kein leichtes Auskommen mit Kitty und Fifi. Aber – wie schon gesagt – es war immer noch besser als am Kettengang. Nur spät abends, wenn alle Arbeit getan war, kam ich hinunter zu den anderen in die Zelle. Mir grauste jeden Tag von neuem vor diesem Augenblick, denn was dort drinnen hauste, das war eine so nichtsnutzige, verdorbene Gesellschaft, wie ich sie nur je gesehen habe. Einige waren darunter, denen es so gegangen war wie mir. Man hatte sie erwischt, weil sie kein Geld hatten, und nun mußten sie auch an den Kettengang. Die große Mehrheit war jedoch eine Gesellschaft von grauen, verwelkten, morphiumsüchtigen Gefängnisvögeln. Ein wahrer Abgrund von Schlechtigkeit und Verwahrlosung. Opium, Morphium, Kokain – es ist wohl am besten, wenn ich gar nichts davon erzähle. Dazu kam, daß sie mich alle haßten, wegen meiner vermeintlichen Vorzugsstellung. Sie nannten mich das Kammerkätzchen der Lady und wurden nicht müde, diese meine Tätigkeit in den gewagtesten Kombinationen auszuspinnen.

Zuweilen aber, wenn sie einander von ihren unsteten Reisen und Wanderungen erzählten, da horchte ich auf. Also: in Amerika konnte man auf der Eisenbahn fahren, ohne einen Pfennig in der Tasche! In den leeren Packwagen, in den Eiskisten der Obstzüge, zwischen den Rädern der Pullmanwagen, bei dunkler Nacht auf dem Tender der Expreßzuglokomotive – das mußte probiert werden bei nächster Gelegenheit! Schon wanderte die Phantasie unter kalifornischen Palmen und im Geiste hörte ich die Brandung des Stillen Ozeans gegen die Klippen des fernen Gestades brausen.

Wo sind die Tage länger als im Gefängnis? Mir war, als ob ein Jahr vergangen wäre, als ich endlich wieder draußen vor dem schweren Tore stand. So schnell ich konnte, eilte ich davon und machte nicht eher halt, als bis das graue Haus mit all seinem Elend hinter den Giebeln der anderen Häuser verschwunden war. Aber was nun? Ich war in den zehn Tagen nicht reicher geworden. Meine Kleider sahen noch abgerissener aus als zuvor, und der Hunger rumorte gewaltig in den Eingeweiden. Sie hatten mich ohne Frühstück an die Luft gesetzt, weil der Wärter ein kleines Geschäft daran machen wollte. Wie ich nun so plan- und ziellos weiter durch die Straßen irrte, fiel mein Blick plötzlich auf das Bild eines struppigen Löwen mit weit aufgerissenem Maul, das mich von einer Hauswand anstarrte. Also eine Zirkusreklame! Das war am Ende noch ein Rettungsanker. Ein Zirkus braucht immer Leute.

Auf einem freien Platz am Rande der Stadt, wo mächtige Sternenbanner wehten und neugierige Kinder durch den Lattenzaun schielten, stand der Zirkus. Ein Duft von Schweiß und Sägmehl und billiger Limonade lag schwer wie eine Wolke in der Luft. Zwei Elefanten standen verträumt in einer Ecke und fingen Fliegen mit den langen Rüsseln. Hinter einem dicken Eisengitter sonnte sich ein Löwe. Zwei mottenzerfressene Tiger gaben ihre bösen Launen mit gurgelnden Tönen kund. Affen lärmten in ihrem Käfig. Ein Kakadu kreischte auf einer Stange. Vor dem Eingang eines riesigen, mit Fahnen und Girlanden geschmückten Zeltes stand eine üppige, kastanienbraune Dame und daneben ein dicker Herr mit einem roten, aufgedunsenen Gesicht und vielen Ringen an den Fingern.

Ob er der Direktor wäre?

»Was wollen Sie?«

»Ich suche Arbeit.«

»Kommen Sie morgen, aber punkt 6 Uhr früh, denn dann reisen wir ab. Und sehen Sie zu, daß Sie noch einen Kameraden mitbringen. Wir zahlen einen Dollar den Tag bei freier Station.«

Ich wollte ihn noch um einen Vorschuß bitten, aber da er mich gar so grimmig anschaute, unterließ ich es lieber. Bis zum nächsten Morgen war es ja zur Not noch auszuhalten.

Lange irrte ich in den Straßen der Stadt umher. Es wurde Mittag und Abend, und dann kam wieder die Nacht, der große Feind der Vagabunden und Arbeitslosen. Eine endlos lange Nacht. Die Dunkelheit flüsterte zwischen den Häusern und ein kalter Nordwind fegte durch die Straßen. Im Osten begann schon der Tag zu grauen, als ich um eine Straßenecke herum gerade dem Schutzmann in die Hände lief, der mich zum erstenmal festgenommen hatte.

»Heda! Wohin?«

»Ich gehe zur Arbeit.«

»Ja, das kennt man schon! Komm mal mit!«

Wieder ging es zu Polizeiwache, wieder kam ich vors Känguruhgericht und wieder wurde ich von Seiner Gnaden verurteilt. Diesmal aber nur zu einer Haft von 24 Stunden, weil ich nachweisen konnte, daß ich mich um Arbeit bemüht hatte.

Die Kerle im Gefängnis begrüßten mein Wiedererscheinen mit lautem Freudengeheul. »So ein Grünhorn! Ha! Ha! Ja, das kannst du an den Fingern abzählen, daß der Policeman dich wieder erwischt, wenn du dich weiter in der Stadt herumtreibst! Die lassen ein so gutes Ding nicht mehr laufen, und wenn du nicht auf die Walze gehst, kommst du aus dem Kittchen nicht mehr heraus. Jetzt bleibt für dich nichts mehr übrig, als die Eisenbahn!«

Der Zirkus war schon abgereist, als ich am nächsten Morgen an dem Platz ankam. Die schimmernde Pracht von fliegenden Fahnen war verschwunden wie eine tückische Fata Morgana. Zerbrochene Flaschen, zerfetzte Papiere, zerrissener Tand und Flitter lagen unordentlich auf dem Sägmehl umher. Ein trüber Morgen malte alles grau in grau. So grau wie meine eigene Stimmung. Vergeblich suchte ich mir auszudenken, was aus alledem noch werden sollte. Nun sollte ich wohl wieder in die Stadt gehen und dort so ziel- und zwecklos in den Straßen herumlaufen? Ich sollte mich um Arbeit bemühen und doch keine finden? Dafür würden sie mich wieder eine Weile ins Gefängnis sperren und dann wieder hinauslassen, in die kalten Straßen. Und das sollte nun so weitergehen? Nein! Genug von diesem Leben! Jetzt kam die Eisenbahn an die Reihe!

Schon stand ich vor dem großen Güterbahnhof, wo die Lokomotiven schnaubten. Die Straße war breit und staubig, und die Sonne des letzten Dezembertages brannte mir im Nacken. Und ich war so hungrig wie nur einer, der seit vierzehn Tagen nichts Ordentliches mehr gegessen hat. Es wurde dunkel, ohne daß ich es beachtete. Mechanisch tappte ich weiter in die Nacht hinein. Vor mir wuchsen die Büsche und Bäume wie die Gespenster aus der Finsternis, weit hinten lag die Stadt, von einem hellen Schein übergossen. Von dorther kam der Lärm der Menschen wie das Brausen eines fernen Meeres. Von den Dächern flatterten die Fahnen in der Finsternis, und von allen Türmen läuteten die Neujahrsglocken durch das Land.

Ich hab' einmal irgendwo einen Spruch gelesen, der mir immer wieder durch den Kopf geht:

Das neue Jahr hat harte, kalte Augen,
Hart wie das Schicksal, und das Schicksal spricht:
»Leben allen, die zum Leben taugen,
Für den Schwächling ist das Leben nicht!«


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