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Eine schwierige Eisenbahnstrecke. – Bestraftes Schwarzfahren. – Konflikt mit der Obrigkeit. – Ein gemütliches Gefängnis. – Von Dampfspritzen, Kirchenglocken und der hohen Politik. – Vor dem Friedensrichter. – »Schuldig, Euer Gnaden.« – Ankunft in San Diego. – Allerlei Wirtshäuser. – Nachtlager auf dem Kirchhof. – Nächtlicher Spuk. – Auf der Lokomotive. – Wieder in Los Angeles. – Eine neuartige Reisemethode. – Die Radachse als Sitzplatz. – Die Fahrt unter dem Schnellzug. –
Doch was sind Vorsätze! Am andern Tage schlich ich mich früh heimlich davon und war vor der Sonne schon wieder auf dem Wege. Es war soweit alles schön und richtig, was mir die liebe Frau gesagt hatte; auch das, was auf dem Bibelspruch stand, und ich war ganz in der Stimmung, solche Weisheit zu beherzigen. Aber wo blieb dann Niederkalifornien?
Es war schon dunkel, als ich nach einem einsamen Wassertank am Bahngeleise kam, wo die dicken Tropfen melancholisch in einen öligen Tümpel fielen. Eintönig klankte die Pumpe in der stillen Nacht. Während des ganzen Tages war ich unablässig marschiert. Ich war todmüde und schwor mir, keinen Schritt mehr weiter zu tun in der Richtung nach San Diego, obwohl die Kunden in Los Angeles und alle anderen Kenner der Verhältnisse einstimmig der Meinung waren, daß das Schwarzfahren in dieser Gegend ein Versuch am untauglichen Objekt sei. Es laufe dort eine Zweiglinie der Santa-Fe-Bahn. Da wimmle es allenthalben von »fly cops« und die Sheriffs seien hinter den Hobos her wie die Füchse hinter den Truthähnen auf den Hühnerhöfen, weil sie für jeden eine Prämie bekämen. Die schwierigste Strecke in den ganzen Vereinigten Staaten.
Das war in der Tat keine tröstliche Gewißheit für einen müden Wandersmann. Ich machte mir ein Feuer aus den halbverkohlten Holzscheiten zwischen den umherliegenden Konservenbüchsen in dem Dschungel und hörte mit halbem Ohr auf das Heulen der Coyotes zwischen den Steinen. Ein frostiger Hauch kroch mir kalt über den Rücken, selbst in der schwülen Stille dieser lauen Nacht. Hin und her überlegte ich mir, was da wohl zu tun wäre, als plötzlich ein langer Güterzug von Norden herangerumpelt kam. Er hatte so viele leere boxcars, die zum Fahren einluden, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte. Sobald der Zug sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, sprang ich in den ersten besten Wagen und überließ das weitere dem Schicksal. Dieses ereilte mich gleich an der nächsten Station. Ein spitzbärtiges Yankeegesicht schaute von draußen herein.
»I say, young feller – mach, daß du da 'raus kommst!« Stolz schlug er seinen Rock zurück und zeigte mir ein Schild, auf dem es in großen Buchstaben zu lesen stand:
U.S. Deputy Sheriff.
Da hatten wir die Bescherung.
Wir gingen zusammen in ein nahes Wirtshaus, wo der Sheriff je einen Whisky für uns beide bestellte. Es war ein sehr starkes Getränk. Bis ich mit meinem Glase fertig wurde, hatte er schon zwei weitere genehmigt. Über dem war er mit einem anderen Gaste in einen Disput geraten. Sie redeten über Politik, ein Thema, das dort ebenso ausgiebig und vielseitig ist, wie bei uns zu Hause. Während des ganzen Vormittags standen sie an der Bar und hielten ihre Zungen in eifriger Bewegung.
»Jist a agrifying«, wie sie in Amerika sagen.
Der andere prophezeite eine demokratische »Lawine« für die nächsten Wahlen. Der Sheriff aber hatte nur Hohngelächter als Antwort auf die Drohung. Ganz das Gegenteil würde eintreten. Das ganze Land werde republikanisch wählen. Und dann wollte er auch noch wissen, wie es mit dem letzten demokratischen Antrag betreffs Anschaffung einer Feuerspritze stünde. Da strich der Demokrat bedächtig den Bart und meinte, der Sheriff sei doch Presbyter an der Methodistenkirche in Okeanside, die eine neue Glocke anschaffen wolle. Wenn er sich darum in seiner Eigenschaft als Mitglied des Stadtrats von Eskondido dazu verstehen könnte, den demokratischen Antrag betreffs Anschaffung der Feuerspritze –
Der Sheriff aber wollte nichts mehr hören und verbat sich alle weiteren Anträge mit Nachdruck. Er stehe voll und ganz auf dem Boden seiner Partei und erachte es als seine oberste Pflicht, die finsteren Machenschaften seiner Gegner zu enthüllen und werde die nötigen Schritte ergreifen, damit das schändliche Angebot durch Vermittlung des »San Diego Independant« vor die breiteste Öffentlichkeit gelange. Lieber würde er seine Würde als Presbyter niederlegen, als daß er denken müßte, daß die Glocken seiner Kirche noch einmal klingen könnten von demokratischem Golde und er wolle eher zusehen, daß sein Haus abbrenne bis zu den Grundmauern, als daß es gelöscht werde mit einer demokratischen Feuerspritze.
»So jetzt wißt ihr, was ich von euch denke, Mr. Cassidy! Von euch und eurem Angebot. Das ist, was ich von euch denke!«
Er spuckte auf den Boden, er stürzte noch einen Whisky hinunter, wütend biß er ein Stück Kautabak ab. Dann eilte er hinaus und ritt davon, ohne sich noch einmal umzusehen.
Unnütz zu sagen, daß ich diesen Vorgängen nur mit einem nassen und einem heiteren Auge zusah. Mürrisch saß ich in einer Ecke und hörte nur mit halbem Ohr auf das Gerede. Um so überraschender traf mich die dramatische Wendung. Der Wirt blinzelte mir zu mit solcher Eindeutigkeit, wie es nur Gastwirte fertigbringen. »Lauf! Nimm die Beine unter die Arme! Man muß ein gutes Ding wahrnehmen, wenn es einem über den Weg gelaufen kommt!«
Das brauchte er mir nicht zweimal zu sagen. Bald marschierte ich wieder auf der langen Landstraße, die nach Süden führte. Es war eine breite und so gut erhaltene Landstraße, wie man sie sonst nur selten zu sehen bekommt in Amerika. Es war drückend heiß. Die Hitze flimmerte über dem weiten Lande, und die Sonne stand so hoch, daß selbst die hohen pappelartigen Eukalyptusbäume nur einen ganz kurzen, harten Schattenfleck in den gelben Sand der Straße warfen.
Nach einer Weile überholte mich ein Farmer, der mich zum Mitfahren einlud. Ich hatte nichts dagegen. Die Mula griff mächtig aus, während die Milchkannen hinten im Wagen ein polterndes, rasselndes Getöse aufführten und man bei jedem Stein am Wege einen Luftsprung machte auf dem harten Sitze.
Unversehens waren wir nach dem nächsten Dorf gekommen, und da stand auch schon der Sheriff mitten auf der Straße. Sein Kollege hatte ihn telephonisch von meinem Kommen in Kenntnis gesetzt. Mit seinem großen Schlapphut und dem Revolver in dem Gürtel sah er aus wie Buffalo Bill in eigener Person, doch war er ebenso gastfrei wie der andere. In der Buggy – so nennt man dort die landesüblichen zweirädrigen Kutschen – fuhren wir nach dem etwas abseits auf einem Hügel gelegenen Wohnhause, wo die Missis schon mit dem Diner wartete. Es gab Beafsteak und Tee und eine mächtige Apfelpastete, wie sie die Amerikaner lieben. Nach dem Essen zündete der Sheriff seine Maiskolbenpfeife an, die Missis wiegte sich im Schaukelstuhl, und ich war neugierig was nun kommen würde. Nach einer Weile, als die schlimmste Mittagshitze vorüber war, spannte der Boß die Buggy an und wir fuhren hinunter nach dem Städtchen, wo an einem schmutzigen Hause, kaum entzifferbar, die Inschrift zu lesen stand:
U.S. Justice of the peace.
»Well«, sagte der Sheriff, »ich habe an dir getan was recht ist, das mußt du zugeben. Nun sollst du mich auch nicht im Stich lassen. Eine Hand wäscht die andere. Wenn der Alte dort drinnen dich fragt, ob du schuldig oder nicht schuldig bist, so sag nur immer herzhaft: ›Schuldig, Euer Gnaden‹. Es kann dir gar nichts passieren. Er ist ein guter Junge, und ich habe schon alles mit ihm gefixt.«
Drinnen saß der Friedensrichter hinter dem großen Tisch mit den vielen Akten. Neben ihm stand ein kleines vertrocknetes Männchen, das aus einem Bogen etwas vorlas, auf das ich nicht hörte und »Seine Gnaden« noch viel weniger. Es war drückend heiß in dem kleinen Raum. Draußen summten die Mücken vor dem Moskitonetz. Endlich stockte die eintönige Stimme des Männchens. Der Richter setzte die schwarze Mütze auf seinen Kahlkopf und schaute mich an mit jener gewissen, mechanischen Feierlichkeit, die er sich durch lange Übung angeeignet hatte.
»Schuldig oder nicht schuldig?«
»Schuldig, Euer Gnaden«, antwortete ich, ohne mich einen Augenblick zu besinnen.
Nun rückte »His worship, Seine Gnaden«, die Mütze zurecht und sagte etwas, von dem ich nur die letzten Worte verstand, aber die auch klar und deutlich wie ein Menetekel.
»– – wegen Fahrkartenbetrugs verurteile ich Sie deshalb zu zehn Dollars Strafe oder zehn Tage Gefängnis in San Diego.« – – –?
»Da dies jedoch die erste Übertretung ist und Sie auch sonst – hm ja! ein anständiger junger Mann zu sein scheinen, gebe ich Ihnen Bewährungsfrist für unbestimmte Zeit und hoffe, daß Sie sich das in Zukunft zur Lehre dienen lassen.«
Mit einem Satz war ich draußen. Mir war es abwechselnd kalt und siedend heiß über den Rücken gelaufen in der schwülen Luft des engen Raumes, und nun, da ich wieder auf der hellen Straße stand, tanzte alles vor meinen Augen und drehte sich im Kreise. Der Sheriff, der vor der Tür auf mich gewartet hatte, mußte mich mehrmals kräftig schütteln, ehe ich wieder das Gleichgewicht gefunden hatte.
»Allright?« fragte er mit der Miene eines Mannes, der sich seiner Verdienste um die lieben Mitmenschen bewußt ist.
»Allright«, antwortete ich vergnügt.
Da gab er mir einen halben Dollar und entließ mich mit den besten Segenswünschen. Ich solle es mir gut gehen lassen und auch die Adresse nicht vergessen, wenn ich wieder zurückkomme. Er meinte auch, daß seine Kollegen weiter unten in der Richtung nach San Diego alle untadelige Gentlemen seien, die einem armen Reisenden zu helfen wüßten. Diese Reisemethode schien mir jedoch zu anstrengend für meine inzwischen dünn gewordenen Schuhsohlen und also ging ich auf den Bahnhof und bezahlte meine Reise bis hinunter nach San Diego. Es war eine Blamage für die ganze Zunft.
Dicht am Strande fuhr der Zug, entlang der weißen Sanddünen, auf denen der Sonnenschein tanzte. Das Tosen der Brandung übertönte selbst den Lärm des Zuges, und eine salzige Brise kam frisch, wie das Leben selber, über das weite Meer. Allenthalben lag das Land öde und trocken, wie überall in Kalifornien, wo der Mensch nicht hinkommt mit seinen Brunnenbohrern. Auf einmal aber, als es schon anfing dunkel zu werden, wuchsen Olivenhaine und dunkle Lorbeerbüsche aus der Erde, weiße Häuser versteckten sich hinter Kastanienwäldern, und hohe Pinien standen schwarz am abendlichen Himmel. Tief unten lag die mächtige, von niedrigen Landzungen umschlossene Bai von Coronado mit der Stadt San Diego, die wie ein Schachbrett am Ufer lag.
Bei den Amerikanern – die sich bekanntlich alle gern in Superlativen ausdrücken – genießt San Diego den beneidenswerten Ruf, das mildeste und gesündeste Klima der Welt zu besitzen. Das mag vielleicht zutreffen, jedoch – ah, wenn man von der Gesundheit leben könnte!
Langsam lief der Zug in den Bahnhof ein, der mehr einer deutschen Jahrmarktsbude glich. Auf dem Bahnsteig lungerten dunkle Mexikaner mit breitkrempigen Sombreros und breiten Gürteln, die mit lauter Silberdollars besetzt waren. Ein paar Hobos saßen auf der Steintreppe und musterten die ankommenden Reisenden. Draußen standen die Eselkarren in langen Reihen. Weiß schimmerten die kleinen flachen Häuser in den letzten Sonnenstrahlen, die sich in den Fensterscheiben spiegelten. Mitten auf dem Platze träumte einsam und verlassen ein Auto. Das war San Diego. Ich hatte es mir anders vorgestellt.
In einem schmutzigen Hause einer dunklen Seitenstraße fand ich eine mexikanische Fonda (Gasthaus), die nach ihrem ganzen Äußeren einigermaßen in Übereinstimmung schien mit meinem Geldbeutel. Sie waren dort gerade beim Essen, und ich setzte mich auch dazu. Es gab ein Menü von »chili con carne«, das wie höllisches Feuer brannte, Pasteten, die mit Knoblauch gewürzt waren, und von dem roten vino carajo, der die Menschen zu Teufeln macht. Nach dem Essen setzten sich alle Gäste vor die Tür und hielten schläfrige Gespräche. Der Fondero fragte, ob ich nun schlafen wolle, was ich eifrig bejahte. Es war mir eingefallen, daß ich das schon lange nicht mehr getan hatte, sicherlich nicht mehr seit jenem Abenteuer in Annaheim. Seither war ich schon über und unter und in den Eisenbahnzügen gefahren, zweimal war ich den Händen der Obrigkeit entwischt und einmal vor His worship gestanden. Das war zuviel, selbst für meine jungen Nerven!
Das »Zimmer« aber, das er mir zum Schlafen anwies, war nicht gerade das letzte Wort von Bequemlichkeit. Es hatte keine Fenster und war zementiert wie eine Gefängniszelle. Überall standen Kisten und Kasten unordentlich umher. Bei einiger Phantasie konnte man sich in die Höhle des Robinson Crusoe versetzt glauben. Ich warf meine Siebensachen in eine Ecke und legte mich in die Hängematte, die hier als Lagerstätte diente. Von Schlafen war jedoch keine Rede. Es war alles in allem ein ungemütlicher Abend. Die offene Tür führte in eine Art Laube, wo die Gäste lärmten. Es war ein Schreien und Schnattern, ein Schlürfen von Pantoffeln und Klappern von Geschirr, nicht anders wie in einem Affenkäfig. Ein Mexikaner klimperte auf einem Banjo und summte dazu ein eintöniges, nimmer endendes Lied, das offenbar auch den anderen auf die Nerven fiel. Es gab einen Streit, der im wesentlichen auf homerische Weise ausgefochten wurde mit großen Worten und grausamen Flüchen und Verwünschungen, vor denen sich in meiner Höhle die Balken gebogen hätten, wenn welche dagewesen wären. Eine Frau schrie hysterisch, dann bellten die Hunde. Dann kreischte ein Papagei in einem Käfig. Dann kam polternd der Wirt und verbat sich die Störung, und auf einmal krachte die Hängematte, und plumps lag ich auf dem Boden.
Das war zuviel. Ich nahm meine Mütze und ging hinaus in die nachtdunkle Straße. Lange irrte ich planlos umher. Ich kam durch stille Gassen, wo die kleinen Häuser alle geduckt und versteckt hinter Büschen standen, als fürchteten sie sich voreinander. Ich ging über weite Plätze, wo die Musik spielte und die Fröhlichkeit lustwandelte, ich kam vorbei an großen Hotels, so vornehm und fast noch vornehmer als in Los Angeles, an hellerleuchteten Restaurationen und Kaffeehäusern und sah den Leichtsinn sorglos sitzen an reichgedeckten Tischen. Immer weiter wanderte ich durch die laue Nacht. Endlich kam ich in eine stille Vorstadt, wo alles schon in tiefem Schlafe lag. Kaum ein Licht schimmerte in den engen Gassen. Etwas abseits – mitten in einem Kirchhof – stand eine Klosterkirche in dem alten mexikanisch-kalifornischen Missionsstil. »Das mußt du dir ansehn!« sagte ich mir und betrat ohne weitere Umstände die geweihte Stätte. Es war in der Tat ein idyllisches Plätzchen. In dem kleinen Türmchen hing eine große Glocke. Ringsum führten weite Wandelgänge mit hohen Säulen, an denen wilde Rosen wucherten. Mitten im Hofe stand ein mächtiger Orangenbaum mit zahllosen goldenen Früchten. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Eine Weile lustwandelte ich in den weiten Hallen und schaute auf das Mondlicht im Garten. An einer Ecke, wo die Blumen üppig am Mauerwerk wucherten und man eine weite Aussicht hatte über das nachtschwarze Meer, setzte ich mich auf das Gesims und hörte auf das Plätschern des Brunnens und schaute lange auf das weiße Mondlicht über den Fliesen. Plötzlich tauchte am anderen Ende des Ganges ein Mexikaner auf. Lautlos kam er herangehuscht auf seinen Segeltuchpantoffeln, richtig wie ein Gespenst im weißen Mondlicht.
»Buenas noches, señor!«
»Buenas noches!« antwortete ich und war ordentlich stolz auf mein Spanisch.
Dann hielt er mir eine Rede in klingendem Kastilianisch, das laut und fast feierlich widerhallte in den langen Gängen. Dann – als er merkte, wie spanisch mir das alles vorkam – wiederholte er den ganzen Sermon in bedeutend weniger sonorem Englisch, das ebenso greulich war wie mein damaliges Spanisch und sich anhörte wie ein Hohn auf dieses ritterlich-spanisch-klösterlich-katholisch-phantastisch-kastilianische Milieu.
Er sei der Portier dieses Märchenlandes und als solcher dazu verpflichtet, alle Caballeros auf das Unstatthafte des Aufenthaltes in diesen Hallen aufmerksam zu machen. Ohnehin sei hier keine passende Schlafgelegenheit für einen Christenmenschen. Wenn ich aber mit seinem Hause vorlieb nehmen wolle, so wäre ihm das eine Ehre und ein Vergnügen. Con muchissimo gusto, señor!
Ich war nicht abgeneigt, ihm diese Ehre anzutun, und also gingen wir zusammen nach seiner Hütte, die etwas abseits unter dem Schatten eines riesengroßen Feigenbaumes stand. Es war eine kümmerliche Herrlichkeit aus Lehm und Wellblech. Ein dicker beißender Rauch quoll aus der schwarzen Höhle. Ringsum trockneten große Fischnetze, die einen angenehmen scharfen Seegeruch verbreiteten. Um ein Feuer vor der Hütte kauerten fröstelnde Frauen, von denen man kaum die Nasenspitze unter der umgeschlagenen Mantilla sehen konnte. Alle standen auf und gaben mir die Hand mit spanischer Grandezza. Ein junges Mädchen servierte einen sehr starken Kaffee mit sehr viel Zucker. Dann tischten sie geröstete Maiskolben und eine große Platte in Öl gebackener Fische auf. Schweigend saßen sie dabei und rauchten Zigaretten, während der Alte mich gewissenhaft ausfragte, nach dem Woher und Wohin. Die Verständigung ging nur schwerfällig vor sich in einem hausgemachten Esperanto, und oft mußten ausgiebige Pantomimen, in denen wir beide Meister waren, die fehlenden Worte ersetzen. Nur zuweilen unterbrach ein Kraftwort im farbenreichsten Kastilisch den holperigen Fluß der Unterhaltung.
»Cosa barbara! Nach Niederkalifornien! Was wollen Sie denn dort?«
Das wußte ich eigentlich selbst nicht recht. Ich meinte, daß es ein interessantes Land wäre.
»Niederkalifornien! Aber Freund, dahin geht man doch nicht! Dahin gehen die Räuber und Ladrones und die anderen Caballeros, die etwas auf dem Gewissen haben, wie eine arme abgeschiedene Seele, die nach dem Fegefeuer geht. Und was soll es dort groß zu erleben geben? In Niederkalifornien scheint die Sonne wie anderswo auch, da stehen die Menschen morgens auf und gehen abends zu Bett wie hier und reiten auf der Mula und arbeiten und essen ihren Asado, wenn sie welchen haben.«
Spät abends gingen wir auseinander. Der Mexikaner gab mir zum Abschied eine Tüte mit gedörrten Feigen.
Die Señora drückte mir herzhaft die Hand. »Que dios le ayude!« sagte sie fast feierlich und schaute mich dabei so traurig an mit ihren großen schwarzen Augen, daß ich hätte weinen mögen. Der Mond stand noch immer groß am Himmel, und die Grabsteine warfen lange Schatten in das weiße Land. Ganz oben, auf einem besonders hohen Grabstein, miaute eine Katze. Es war hier alles so seltsam grausig romantisch, daß ich gar nicht mehr zurückgehen mochte nach meiner üblen Miniaturhöhle mit der Hängematte in der Fonda. Ich setzte mich auf einen Stein und versuchte zu denken. Ich war todmüde, aber wacher waren die Gedanken.
Mich ärgerte das, was ich soeben gehört hatte über das Land meiner Träume. Ja, hätte er mir erzählt, daß dort die Schlangen und Skorpione hausen, daß dort die Bären hinter jedem Busch lauern und wildgeputzte Indianer auf den Kriegspfad gehen, ja dann! Daß aber auch dort die graue Nüchternheit in der grauen Wüste hause, daß dort die Menschen arbeiten, essen und schlafen und abends Zigaretten rauchen und sich in den Wirtshäusern raufen wie anderswo auch, das konnte ich nicht ertragen!
Ich schaute lange vor mich hin und fühlte die kühle Luft, die vom Meere herkam und sah tief unten die großen Segelschiffe, die sich leise vor ihrem Anker wiegten, und sah die roten und grünen Lichter, die sich zitterig im Wasser spiegelten, und das Abbild des funkelnden Sternenhimmels in der weiten Bai und hörte halb im Traum auf die leisen Stimmen der flüsternden Nacht.
»Dort unter den Myrtenbäumen
In heimlich dämmernder Pracht,
Was sprichst du, wirr wie in Träumen,
Zu mir, phantastische Nacht?«
Je länger ich dasaß, desto mehr kam ich ins Grübeln. Ein moralischer Katzenjammer schlich mir kalt über den Rücken. Unendlich verderbt und verkommen, ja fast wie ein Narr kam ich mir vor auf dieser Erde. Mir war eine Rede eingefallen, die mir meine Mutter einmal gehalten hatte. »Wenn du einmal alles das, was du bisher für wichtig gehalten hast, für unwichtig ansiehst und dich mehr mit den unwichtigen Dingen abgibst, so wirst du weniger zu denken haben und es um so weiter bringen.« So fing ich denn an zu denken von den kleinen praktischen, nüchternen Dingen dieser kalten bösen Erde, wenn es auch schwer fiel. Ich versuchte einen Überschlag zu machen von dem amerikanischen Geschäft und war sehr wenig zufrieden mit dem Saldo, der dabei herauskam.
Länger als ein Jahr – sagte ich mir – bist du nun schon in diesem Lande Amerika. Von Meer zu Meer bist du gelaufen wie ein lebendig gewordenes Perpetuum mobile. Mit der Eisenbahn, auf der Landstraße, in den Güter- und Personenwagen, auf, unter und zwischen den Wagen, in den Eiskisten und sonstigen Fahrgelegenheiten. Auf allen Ab- und Beiwegen bist du ihm nachgelaufen, dem Glück, dem Erleben, dem Abenteuer und wem sonst noch.
Ah, nicht mehr ein Grünhorn sein, nicht davonlaufen vor der rastlosen Unruhe, dem nimmer endenden Gaukelspiele der Phantasie. In der Tat: Niederkalifornien!
Nun war's genug! Genug der Irrfahrten und Abenteuer! Ich will den geraden Weg gehen wie die anderen auch. Ich will nun endlich anfangen vernünftig zu werden. Ich will alles, alles anders machen.
Ja, anders machen! Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Vorsätzen.
In der nächsten Nacht – ungefähr zur selben Stunde – hatte ich es mit einem Lokomotivführer des Schnellzugs ausgemacht, daß er mich mitnehme als Kohlenzieher und wir fuhren hinaus in das nachtschwarze Land, Los Angeles zu. Es war derselbe Zug, mit dem ich einige Tage später tief unten zwischen den Rädern fahren sollte. So geht es zuweilen in Amerika! Up and down. Die Arbeit, die ich zu tun hatte, war nicht schwer. Ich brauchte nur zuzusehen, wie der Kohlenhaufen im Tender immer kleiner wurde und gelegentlich noch etwas nachhelfen mit der Schaufel. Aber kalt und windig war es dort oben.
Und es war schön!
Wer sagt, daß eine Lokomotive nichts Lebendiges ist? Der ganze Eisenberg zitterte von Leben und Gier und Eile und Gefräßigkeit. Schaurig quollen die Rauchwolken aus dem kurzen, dicken, kaum über den hohen Kessel hinausragenden Schornstein. Wild stoben die roten Funken am sternhellen Nachthimmel. Wie schwarze Teufel huschten die Männer vor dem Feuer und schaufelten Kohlen in den gierigen Rachen und rüttelten mit langen Stangen in dem weißglühenden Schlunde und schlugen die Türen zu, daß es krachte. Und immer von Zeit zu Zeit, da zischte der Dampf, da heulte die Sirene; ein langes, wildes, aufreizendes Heulen, das keinen Widerspruch und keinen Widerstand duldete. Platz, Platz da, ich komme, ich, die Lokomotive! Und sage einer, die Lokomotive habe kein Leben!
Am frühen Morgen, als die Nebel noch schwer auf dem Lande lagen und die dicken Tropfen von den Lagerschuppen fielen, liefen wir wieder in den Bahnhof von Los Angeles ein. Ich tappte über das Gewirr der Schienen am Güterbahnhof, wo noch die Lampen durch den Nebel schimmerten wie große, verhangene Monde. Ich ging durch die stillen Straßen und war froh, daß ich wieder da war, trotz aller Enttäuschungen. Mir war, als ob ich nach langen Irrfahrten wieder nach Hause käme. Der Mensch ist eben doch ein Gewohnheitstier, selbst wenn er ein Wandersmann ist von Passion. Als dann der Tag ordentlich angebrochen war und die Menschen wieder in den Straßen lärmten, da begann auch gleich wieder das alte Lied der amerikanischen Tretmühle.
Diesmal war das Orangenpflücken die große Saison. Das war gerade die Beschäftigung, die ich suchte. Beschaulich, idyllisch, romantisch. Aber die umherlungernden Kenner der Verhältnisse schlugen, die Hände zusammen über solchen Größenwahn.
»Orangenpflücken! Geradesogut könntest du daran denken, als Gouverneur von Kalifornien zu »rennen«, wenn demnächst die Wahlen sind. Da mußt du erstens einmal zu der »Union« gehören und zwanzig Dollars Beitrag bezahlen. Du mußt deine eigene Leiter mitbringen und alle Früchte mit deiner eigenen Schere abschneiden, denn die kannst du nicht schütteln wie die Pflaumen in Missouri. Du mußt sie alle sauber in die Kisten packen und mit Holzwolle versehen und in der Nacht nach Feierabend mußt du die Kisten nach Hause tragen und auf den Wagen verstauen, während du ausruhst. Wer sich aufs Handwerk versteht, kann fünf Dollars im Tag machen und soviel verdienen, daß er nachher einen ganzen Monat lang nicht mehr nüchtern zu werden braucht in Pat O'Briens Bar. Aber Orangenpflücken! Das tut man doch nicht!«
Und sie schüttelten alle mißbilligend die sachverständigen Köpfe.
So ist es! Ein jeder Stand, auch der geringste, hat seinen Stolz und seine Unmöglichkeiten. Willst du Steine klopfen, so mußt du eine Brille haben. Willst du die Straße kehren, so mußt du Protektion besitzen bei der Stadtverwaltung. Willst du Lumpensammler werden, so mußt du zuvor den Gewerbeschein beziehen und dir einen Sack anschaffen. Überall ist es im großen und kleinen das gleiche, nimmer endende Wechselspiel zwischen Arbeit und Anlagekapital und nur die, die nicht wissen, wie es zuweilen zugeht auf dieser armen Erde, können es so leichtsinnig dahinreden: »Ich will lieber Steine klopfen . . .«
Wenn aber alles versagte und sich selbst in der Sphäre der Straßenkehrer keine Betätigungsmöglichkeit mehr bot, was blieb da anders übrig, trotz aller guten Vorsätze?
Die alte Regel, die dem amerikanischen Wandersmann noch immer zur Richtschnur gedient hat in solchen Fällen:
»Hit the road! Go at the bum!«
Die große, helle Landstraße, oder – genauer gesagt – die Eisenbahn.
Und dazu war hier die schönste Gelegenheit. Aus irgendeinem Grunde, der eines der vielen ungelösten Rätsel ist, die mir das Land Amerika aufgegeben, sind die Personenzüge im fernen Westen der Vereinigten Staaten oftmals angefüllt mit großen Trupps reisender Abenteurer, die auf Kosten der Eisenbahngesellschaften von einer Arbeitsstelle zur anderen fahren. Warum sie es tun können, weiß ich nicht, denn von hundert Rittern der Eisenbahn, die hier das Fahrgeld schinden, sind es im günstigsten Falle drei oder vier, die die Arbeit wirklich antreten. Eine bequemere und billigere Reisemethode läßt sich in der Tat wohl kaum denken. Man geht nach dem Employmentoffice, wo es in riesengroßen Buchstaben an der Tafel steht:
»Fünfhundert Arbeiter für Eisenbahnarbeit nach Arizona. Abfahrt heute!«
Man zahlt seinen Dollar und fährt nach dem Lande seiner Sehnsucht, nicht anders wie einer, der fünfzig, sechzig oder gar hundert Dollars für die Reise bezahlt hat. Als Garantie muß man freilich sein Gepäck zurücklassen, das in dem Packwagen mitgeführt wird. Ein richtiger Hobo führt, wie schon gesagt, nicht mehr Gepäck mit sich, als was er in der Tasche tragen kann. Da aber das Abliefern irgendeines Vorwandes von einem Bündel unbedingte Voraussetzung für solche kostenlose Beförderung auf der Eisenbahn ist, muß er sich nach einem behelfsmäßigen Ersatz umsehen. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg, zumal dort, wo zahlreiche geschäftstüchtige Kinder Israels zu Hause sind. Wo immer diese in der Nähe des Employmentoffice ihre Altwarengeschäfte betreiben, da baumeln zwischen alten Hosen, rostigen Messern und schäbigen Überziehern auch die schmierigen Bündel, die im wesentlichen aus einer mit Papier ausgestopften mottenzerfressenden Schlafdecke bestehen.
»Railroadbundles sold here!« steht darüber in großen schreienden Buchstaben.
»Hier werden Eisenbahnbündel verkauft!«
Man kauft sie für fünfzig Cents, man gibt sie ab und läßt sie in die Welt hinausfahren auf Nimmerwiedersehen.
Heute war die Tafel bedeckt mit mächtigen, beinahe mannsgroßen Buchstaben, die es aufreizend in die Welt hinausschrien:
»Nevada! Nevada! Nevada! – Ship today!«
Heute Abreise nach Nevada!
Die Menschen drängten sich in Scharen vor der Tür, und der Boß machte große Geschäfte. Was die nur auf einmal alle in Nevada wollten? Ein alter Kunde, der dabei saß und mit der abgeklärten Ruhe eines Philosophen seine Pfeife rauchte, klärte mich auf über diesen Punkt.
»Nach Nevada? Bist du aber grün! Keinen von den Jungens könnten sie mit zehn Gäulen nach Nevada bringen!«
»Wohin denn sonst?«
»Nach Frisko natürlich!«
Der Zusammenhang zwischen den beiden Begriffen war mir nicht ohne weiteres klar, aber nach einigen weiteren erstaunten Bemerkungen über den Grad meiner Grünhornhaftigkeit ließ der andere sich zu einer Erklärung herbei.
»Mensch, laß dir dein Schulgeld zurückbezahlen! Kennst du dich denn gar nicht aus in Gods own country? Wenn man von hier nach Nevada fährt, so kommt man doch in Stockton vorbei.«
»Und –?«
»Dann steigt man eben aus und fährt den Fluß hinunter – kostet dich die Reise nach Frisko einen Dollar für den Boß, einen halben für das Bündel und noch fünfundzwanzig Cents für die Fahrt auf dem Dampfer.«
Das war in der Tat ein Patent, das sich sehen lassen konnte.
San Franzisko!
Ich rannte förmlich zum nächsten Händler und kaufte mir ein Bündel. Da mich der Dollar reute, mischte ich mich unter einen eben abgehenden Trupp und stand bald auf dem Bahnsteig, bereit zur Abfahrt. Der Stationsvorsteher zählte die Häupter seiner Lieben.
»One – two – three – four . . .«
Noch einmal fing er an zu zählen.
». . . thirtysix – thirtyseven . . . God damn! Das stimmt ja gar nicht! – Never mind! Tut nichts!«
Jeder bekam seine Fahrkarte, und fort ging die Reise . . .
An jene Reise nach San Franzisko werde ich immer denken.
Wir fuhren in dunkler Nacht durch ein wildzerklüftetes Gebirge, wo der Pfiff der Lokomotive schaurig widerhallte an den hohen Felsen; wir kamen in eine Wüste, die sich gelb und rot in endlose Fernen breitete, vorbei an kahlen Felsen, die doch in allen Farben sprühten im hellen Lichte des Tages. Dann ging es durch das endlos lange kalifornische Tal, wo dürre staubige Steppe mit trostlosen Sanddünen wechselte. Und immer wieder, wo das Wasser sprudelte, da standen fette Kühe auf grüner Weide, da sah man Obstgärten und Weinberge, da standen weiße Häuser, fast verdeckt unter leuchtenden Blumen, da standen Mandel- und Pinien- und große breitästige Feigenbäume, nicht anders wie in Italien. Eine weiche Luft kam blau geflossen, und weit, weit in der Ferne standen schimmernde Schneeberge unter dem dunkelblauen Himmel. Ehe man's gedacht, war es schon wieder Abend. Fast ohne Dämmerung kam die Nacht, und wir rumpelten immer noch weiter durch das endlose Land.
Gegen Mitternacht erreichten wir eine ansehnliche Stadt mit Namen Fresno. Dort hatten wir einen längeren Aufenthalt, und da es eine gar so warme und wollüstige Nacht war, benützte ich die Gelegenheit zu einem Spaziergang in die Umgegend. Der Wind kam weich aus den Weinbergen. Die Grillen zirpten, und die Frösche quakten in den Bewässerungsgräben. Ich fing an zu träumen unter einem hohen Nußbaum und als ich nach der Station zurückkam, war der Zug natürlich schon längst über alle Berge. Ich hätte mich ohrfeigen können. Alle Romantik der lauen Nacht war mit einemmal verschwunden. Ein kaltes häßliches Gefühl kroch mir den Rücken herunter. Während ich noch dasaß und den finsteren Gedanken nachhing, kam von Süden der Nachtexpreß herangebraust. Schnaubend fuhr er in das Stationsgebäude ein. In großen, goldenen Buchstaben stand es an den Pullmanwagen.
»Golden State Limited.«
Und zu denken, daß diese schon in wenigen Stunden in San Franzisko sein würden! Der Gedanke war genug, um einen wahnsinnig zu machen. Sich abends schlafen legen in Los Angeles und morgens aufwachen in San Franzisko. Wie fein das sein mußte! Und auf einmal kam es über mich mit unwiderstehlicher Gewalt: der oder keiner! Blitzschnell überlegte ich in den paar Minuten. Alle erdenklichen Fahrgelegenheiten, von denen ich gehört und die ich selber schon ausprobiert hatte, zuckten mir durch den Kopf. Blindbagage gab es hier nicht. Kohlentender – die Lumpen hatten Ölfeuerung. Aber ich wollte, ich mußte doch unbedingt nach San Franzisko, und also blieb keine andere Reisemethode als die, die stets so viel gepriesen wurde von den anderen Jungens an der Eisenbahn, die ich aber bisher noch nicht ausprobiert hatte auf allen meinen Wanderungen, da sie mir doch gar zu abenteuerlich vorkam. »Riding the rods.«
Das Fahren auf den Radachsen. Die amerikanischen Personenwagen – zumal die Pullmans an den Schnellzügen – sind sehr hoch gebaut, so daß das Gestänge unter dem Wagen eine bequeme Sitzgelegenheit bietet für den blinden Passagier. Die Sache sieht und hört sich gefährlicher an, als sie in Wirklichkeit ist. Wer sich auskennt dort unten, der fährt fast ebenso sicher und geborgen wie der zahlende Passagier im Ledersessel. Wenn trotzdem jahraus, jahrein zahlreiche Unglücksfälle vorkommen, die auf diese Reisemethode zurückzuführen sind, so liegt das nur daran, daß sich immer wieder blutige Grünhörner finden, die statt der Stangen die breiter und einladender ausschauenden Bremsblöcke als Sitzgelegenheit benützen, und natürlich bei deren Anziehen unter die Räder geworfen werden.
Das alles hatte ich theoretisch schon begriffen, denn ich hatte oft schon zugesehen, wie es die anderen machten. Nun aber, da ich es selbst ausprobieren wollte, fand ich doch einen erheblichen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Es blieb indes nicht viel Zeit zum Fürchten. Schon pfiff die Lokomotive. »Nur nicht ängstlich!« sagte ich mir. Und schon saß ich kunstgerecht auf dem abenteuerlichen Sitzplatz. Im nächsten Augenblick hätte ich etwas darum gegeben, wenn ich wieder irgendwo anders gewesen wäre. Auf den Hexensabbat war ich allerdings nicht gefaßt! Jedes Geräusch, das man oben nur gedämpft vernimmt, wird dort unten zur Höllenmusik, die kleinste Bewegung zum wilden Aufruhr. Da lärmen die Bremsen mit ohrenzerreißendem Schreien, da kracht und stöhnt es in den Fugen des Wagens, da knackt es im Eisen, da fliegen die Staubkörner vor dem messerscharfen Winde, und alles ist gehüllt in eine Wolke von fauchendem, zischendem Dampf. Bald aber kommt mehr System in den Aufruhr. Die Luft wird klar und die Staubwolken fliegen hart am Boden hin. Das Zerren und Schütteln des Wagens geht über in eine rhythmische, eintönige, fast einschläfernde Bewegung, nicht anders wie die Fahrt eines Schiffes.
Da erfaßte mich ein großes Gefühl der Sicherheit, trotz meiner abenteuerlichen Lage. So gefiel es mir. So wollte ich immer weiter fahren, wenn's sein mußte, bis an das Ende der Erde. Ich ärgerte mich, wenn ich daran dachte, wieviele kostbare Zeit ich schon verloren hatte auf den langweiligen Güterwagen und beschloß, in Zukunft nur noch auf diese Weise zu »jumpen«. Fast eine Stunde lang ging es so weiter in gleicher, eintöniger, sausender Fahrt. »Time is money, time is money –« schien man herauszuhören aus der Musik der Radachsen. Da brüllten die Bremsen. Zischender Dampf hüllte alles in eine weiße Wolke. Mit einem Ruck, der mich fast von meinem Sitze warf, kamen wir zum Stillstand.
Minutenlang wartete der Zug auf der Station. Mir schienen sie Ewigkeiten. Draußen auf dem Kies gingen eilige Schritte. Der Bremser kam herbei und beklopfte alle Radachsen. Neugierig leuchtete er mir ins Gesicht mit der Laterne.
»Hallo, Bo!« sagte er freundlich, »kind o, cold, to night!«
Kalt heut nacht?
Dann ging er weiter ohne ein weiteres Wort.
Im Grauen des Morgens fuhren wir über holprige Weichen in einen großen Bahnhof einer großen Stadt. Das war Oakland. Da lag auch wieder das Meer. Blutrot kam eben die Sonne hinter den Hügeln von Sacramento heraufgestiegen. Wie feiner Goldstaub lag der Morgennebel über dem hellen Wasser. Da und dort standen hohe Inseln in der weiten See, und weit, weit drüben, auf der anderen Seite, da schimmerten Häuser und Türme einer großen, hochgebauten Stadt. – Das war San Franzisko!