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Auf der Landstraße. – Mit der Eisenbahn geht's doch schneller. – ›Schwarzfahren‹ im Güterzug. – Santa Fe bei Nacht. – Allerlei Betrachtungen über Pueblos, Denkmäler und Señoritas. – Methusalem führt mich bei den deutschen Kunden ein. – Uferlose Reisepläne. – In einer deutschen Kolonie. – Herr Durand und der zerbrochene Gasolinmotor. – Eine starke Zumutung. – Ein Kapitel über Namen. – Wieder auf der Eisenbahn. – Was man bei Regenwetter denkt. – Aber das Glück?
In fremden Landen hängt das Schicksal des Wandersmanns oft an einem Strohhalm. Für den Mann, der, sei es durch die Tücke des Schicksals oder durch eigenen Unverstand gezwungen ist, durch seiner Hände Arbeit in der Fremde von der Hand in den Mund zu leben, gibt es kein entmutigenderes Gefühl, als das Bewußtsein, daß es zumeist allerlei lächerliche Kleinigkeiten sind, die ihn immer und immer wieder hinunterziehen in die Tiefen des Lebens.
Nur in der Stadt – das war klar – konnte ich hoffen, in absehbarer Zeit etwas zu finden, das meinen Wünschen einigermaßen entsprach. Wie aber, so fragte ich mich jeden Tag aufs neue, wie sollte ich mich doch über Wasser halten, wenn das bißchen Arbeit und Verdienst in diesen schlechten Zeiten nur draußen in der Pampa zu finden war? – Ja, und wenn man nun wirklich einmal ein paar Pesos beisammen hatte, die es einem ermöglichten, sich nach etwas umzusehen, mußte man da nicht als Gentleman, als Caballero auftreten? Doch wie, bei allen Heiligen des Landes Argentinien – wie sollte ich beides miteinander in Übereinstimmung bringen? In den vierzehn Tagen auf der Fabrik hatte ich mir keine Reichtümer ersparen können, und der Koffer mit all meinen irdischen Habseligkeiten – ja, der lag wohlgeborgen als Pfand in der Obhut des Ristorante XX Settembre, das mir während meiner Krankheit Kost und Wohnung und noch einiges Geld für laufende Ausgaben gewährt hatte. – Nein, das Leben ist nicht immer ganz so einfach und unkompliziert, wie manche es sich vorstellen, die es hinter dem Ofen verträumen.
»Da kannst du hier herumsitzen bis du einen Bart bekommst,« hatten mir die Kunden in der ›Deutschen Eiche‹ versichert. »Wenn du kein tüchtiges Handwerk gelernt hast, so kannst du in zehn Jahren immer noch mit den Italienern Polenta löffeln, wenn du nicht vorher verhungert bist. – Und das mit dem Korrespondenten, Buchhalter und sonstigem Koofmich schlag dir mal ruhig aus dem Kopf, je eher, je besser. Du glaubst wohl, die haben in den Büros in der Calle Sarmiento gewartet, bis du kommst? – Kaufleute? Mit der Sorte könnte man die Straße pflastern von hier bis nach Buenos Aires, so viele laufen hier herum.«
»Aber was sonst soll man denn anfangen?« fragte ich ratlos.
»Mach's wie wir. Geh' auf die Walz!« meinte ein biederer Schwabe.
»Aber wohin denn?«
»Nach dem Gran Chaco natürlich! Wir machen alle dorthin, wenn der Winter kommt. Dort braucht man wenigstens nicht zu frieren.«
Ich nahm alle meine Geographiekenntnisse zusammen. Der Gran Chaco? der lag weit oben an der Grenze von Paraguay, gute zweitausend Kilometer weiter nordwärts. Wie, beim Kuckuck, sollte man dorthin kommen ohne Geld? Ich setzte meine Bedenken auseinander, ohne etwas anderes zu bewirken, als erstaunte Gesichter und vorwurfsvolle Mienen.
»Geld? Mensch, bist du aber grün! Willst du denn die ganze Zunft blamieren? Wenn man kein Geld hat, so fährt man eben schwarz.«
Da horchte ich auf. Schwarzfahren? Darauf verstand ich mich so gut wie nur einer. Von Neuyork bis San Francisco hatte ich mich in Onkel Sams »box cars« herumgetrieben. Da gehörte das Schwarzfahren gewissermaßen zum guten Ton für jeden Wandersmann. Aber das war in Nordamerika. Ich hatte nicht geglaubt, daß die Kultur in Argentinien bereits ebenfalls bis zu diesem Grade vorgeschritten sei. Nicht minder interessierte mich, was sie über den Gran Chaco zu sagen wußten; jenes unermeßliche, von der Kultur fast noch unbeleckte Waldgebiet im Norden Argentiniens, wo die Indianer noch in ursprünglicher Wildheit hausen, wo bunte Papageien in den Baumkronen schreien und Panther und Riesenschlangen die Dschungel unsicher machen. Das war gerade ein Land nach meinem Geschmack, und ich beschloß, schon am nächsten Tage nach dem Gran Chaco zu ›machen‹.
Nur zehn Pesos hatte ich in der Tasche, als ich auf der staubigen Landstraße zur Stadt hinausmarschierte. Dafür aber viel Unternehmungsgeist und einen Kopf voll großer Pläne, und das ist oftmals mehr wert als ein dicker Geldbeutel.
Die Straße führte ein Stück Weges vorbei an der großen Zuckerfabrik. Das eiserne Tor, durch das ich so oft ein- und ausgegangen war, war fest verschlossen, und um die hohen rauchlosen Schornsteine lag es wie Sonntagsstille. Dann ging es über ein Gewirr von Eisenbahnschienen hinaus in die Vorstadt, wo zierliche Landhäuser sich hinter dunklen Baumkronen und leuchtenden Blumenbeeten versteckten. Dann wurde die Straße breit und sandig, und zu beiden Seiten standen niedrige, verwahrloste Bretterbuden, vor denen alte, stumpfsinnig dreinschauende Weiber ihren Mate schlürften und Hühner und halbnackte Kinder in den Kehrichthaufen wühlten. Da und dort warf ein langer, staubiger Gummibaum einen harten Schatten in den Sand der Straße. Dann kam die offene Pampa mit ihren dürren Weideflächen, umsäumt von blinkenden Stacheldrahtzäunen. Die Sonne stand hoch, und die Luft flimmerte über der heißen Landschaft. Gauchos und Peone galoppierten die Straße entlang auf ihren halbwilden Ponies. Prächtig waren sie anzusehen, diese dunkelhäutigen Gesellen, wenn sie mit fliegendem Poncho in gestrecktem Galopp vorüberrasten und die Hufe des Pony eine Staubwolke aufwirbelten, deren sich ein hundertpferdiges Automobil nicht zu schämen brauchte. Es waren Gestalten wie aus Buffalo Bills Wildwest-Zirkus. Einmal überholte mich auch ein Chacarero, der mit seinem leichten, zweirädrigen Karren aus der Stadt kam und nun mit vielen süßen Worten und noch mehr Peitschenhieben seine alte Stute zur Eile antrieb, weil er wohl noch zu Mittag zu Hause sein wollte.
So war ich also wirklich ›auf der Walze‹! Nach argentinischer Mode. Mit den Wölfen muß man bekanntlich heulen. Nationale Eigenart, auch in äußerlichen Dingen, ist eine gute Sache, aber sie ist nicht immer angebracht, zumal nicht auf dem Camp in Argentinien. Wer dort sich nicht schnell in seinem äußeren Menschen den Verhältnissen anpaßt, der ist wie der Fisch aus dem Wasser. Man braucht vor allem ein Pañuelo, ein buntes seidenes Halstuch, das vorne befestigt ist mit einem kunstvollen Knoten, der keineswegs auf den ersten Versuch zu lernen ist für den, der nicht von Natur eine besondere Begabung auf diesem Gebiete mit sich bringt. Das Pañuelo gehört zur Ausrüstung des argentinischen Landmanns, wie das Amen zur Predigt. Wer keins besitzt, der wird von seinen Mitmenschen einfach nicht für voll angesehen, mag er auch sonst noch so elegant und sorgfältig gekleidet sein.
Nummer zwei ist ein im Gürtel getragenes zehn Zoll langes Scheidemesser. Eigentlich sollte es an erster Stelle genannt werden, denn wer kein gutes Messer besitzt, der ist verraten und verkauft in der Pampa. Und außerdem, der Argentiner liebt nicht die homerische Art der Austragung von Streitigkeiten. Schnell fertig ist er mit dem Wort sowohl als mit der Messerschneide, und wer da nicht noch flinker ist, der kann unter Umständen böse Erfahrungen machen.
Aber wichtiger noch als Pañuelo und Scheidemesser ist der Poncho, ein buntgewebtes, zumeist in farbenfreudigstem Rot gehaltenes Tuch von etwa einem Quadratmeter Flächeninhalt mit einem runden Loch in der Mitte, durch das man den Kopf hindurch stecken kann. Ein Mann ohne Poncho ist in der Pampa ein Ding der Unmöglichkeit. Er ist das Universalkleidungsstück des Südamerikaners. Bei Tag dient er ihm als Rock und bei der Nacht als Schlafdecke. Vor allem aber ist es sein Schmuck, sein Stolz, seine Zierde. Unterwegs rollt man den Poncho zusammen und macht daraus ein Bündel, in das man alle seine irdischen Habseligleiten, wie Wäsche, Kochgeschirr usw., einwickelt. So etwas nennt man in Nordamerika ein bundle, in Australien ein swag und in Argentinien la lingera.
In dieser Aufmachung wandern sie auf argentinischen Landstraßen, die Leute von der Lingera. Zumeist sind es arbeitsuchende Peone, die in ihrem armen Leben nichts weiter kennen als trabajo und noch einmal trabajo. Nie halten sie sich länger auf der Landstraße auf, als während der kurzen Zeitspanne, die eine Tretmühle von der anderen trennt. Was sind sie anderes als Parias, Fremdlinge in ihrem eigenen Lande?
Es gibt aber auch nicht wenige, die zwar stets auf der Suche nach Arbeit sind, jedoch immer den Anschluß dazu verpassen. Ruhelos wandern sie von Ort zu Ort; von Buenos Aires nach Rosario, von Rosario nach Cordoba, von da nach Mendoza oder nach Tucuman und wieder zurück nach Buenos Aires. Immer sind sie unterwegs, immer auf der Wanderschaft; zwanzig, dreißig Jahre lang über endlose Straßen, bis die Sonne die Haut zu Leder gegerbt und die steinige Straße die nackten Füße mit einer Hornhaut überzogen hat. Darüber werden sie alt und grau und gebrechlich und tappen dennoch immer weiter und weiter in die blaue Ferne hinein, als ob sie vor ihrer eigenen Unruhe davonlaufen wollten.
* * *
Wenn ich hier von argentinischen Wandersleuten rede, so darf ich auch den Gringo nicht vergessen. Er ist nicht weniger landfremd und heimatlos wie jene und oft auch mindestens ebenso arbeitsscheu. Jedoch –
So mancher junge Matrose, der drunten an der »Boca« seinem Schiff bei Nacht und Nebel Lebewohl gesagt hat, so mancher europäische Techniker oder Handlungsgehilfe, der in der Stadt auf keinen grünen Zweig gekommen ist, so mancher junge Tunichtgut, der in seinem Leben nichts ordentliches gelernt hat, hat in der Pampa sein Glück versucht und – nicht gefunden. Er hat sich der großen Zunft derer ›von der Lingera‹ angeschlossen und Gefallen gefunden an dem wilden, ungebundenen Leben. Denn in Argentinien lebt der Vagabund oft besser als der Arbeiter. Zu verhungern braucht niemand, und wer nur einen kleinen Batzen Geld bei sich hat, der kann sich einen Küchenzettel leisten, vor dem sich eine deutsche Hausfrau einfach nicht mehr kennen würde vor Neid. Für dreißig Centavos (fünfzig Pfennig) bekommt man in jedem Kramladen ein gut gemessenes Kilo besten Rindfleischs. Ein Laib Weizenbrot kostet zehn Centavos, und Reis, Süßkartoffeln und andere Zutaten bekommt man »for a song and a dance« wie die Amerikaner sagen. Vor allem aber: Der große Schrecken, der in nördlichen Ländern den Vagabunden an jedem sinkenden Abend mit neuem Grausen erfüllt: Die Nacht hat wenigstens im Sommer keinen Schrecken für den Mann auf der argentinischen Landstraße. Kein rauher Wind, der an den dünnen dürftigen Kleidern zaust, kein kalter Nebel, der fröstelnd in die Glieder fährt. Hier ist alles warme, wohlige Beschaulichkeit. Will man irgendwo die Nacht zubringen, so scharrt man den getrockneten Kuhdung als Brennmaterial zusammen. Bald flackert das Feuer. Der Kochtopf zischt und brodelt in den roten Funken. Man breitet seinen Poncho auf der trockenen Erde aus und hüllt sich in den Mantel der lauen Nachtluft. Eine Weile schaut man dem blauen Rauche zu, wie er kerzengerade zum schwarzen, sternbesäten Nachthimmel aufsteigt. Man läßt sich von den Schakalen in den Schlaf singen, und morgens weckt einen die liebe Sonne nicht anders wie einen, der in einem Federbett genächtigt hat.
Zoologisch – wenn man so sagen darf – gehört der Gringo zu der so überaus verächtlichen Klasse der Gewohnheitsvagabunden. Er ist in gewissem Sinne eine Abart des nordamerikanischen Tramps oder Hobo, wenn auch nicht so malerisch. Dieser ist, wie man weiß, der Wandersmann par excellence. Eine Reise von Neuyork nach San Francisco ist für ihn kein größeres Ereignis, als für andere ein Gang zum nächsten Wirtshaus. Einen festen Wohnsitz hat er nicht, und an Gepäck führt er nie mehr mit sich, als was er in seinem Taschentuch tragen könnte – wenn er eins hätte. Irgendwo im wilden Westen begegnest du ihm in einer Dschungel neben dem Wassertank, wo die Züge halten. Er wird auf dich zukommen mit der stets wiederkehrenden Frage: »Hast du ein Streichholz, Jack?« Nachdem du ihn versichert hast, daß du selbst keines besitzest (denn andernfalls wird er dich auch um Tabak angehen), fragst du nach dem Woher und Wohin. Bist du in Kalifornien, so wird er nach Neuyork ›machen‹. In Texas steht sein Sinn nach Kanada; in Boston schwärmt er für Florida. Immer ist er unterwegs, immer auf der Reise: ein quecksilberiges Bündel Nerven, eine Hyäne der Eisenbahn, die um eine Möglichkeit zum Schwarzfahren nie in Verlegenheit ist; auf dem Dach oder auf den Radachsen des Expreßzuges, auf den Puffern der Wagen, dicht zusammengekauert als ein Häuflein Elend unter den Treppen des Pullmanwagens. Oder auf dem rußigen Kohlentender, oder in den Eiskisten der kalifornischen Obstwagen, oder bei zwanzig Grad unter Null in den schmierigen »box cars« am Michigansee. Keine Not, keine Entbehrung, keine der fürchterlichen Gefahren kann ihn abschrecken, solange es nur weiter, weiter geht über die endlosen Schienenstränge mit rekordbrechender Geschwindigkeit; eine wandelnde Verkörperung des amerikanischen Prinzips ›time is money‹, wenn auch sein ganzes Leben nur ein geschäftiger Müßiggang ist. Was liegt ihm daran, daß dabei die schmutzigen Zehen aus den Schuhen herausschauen, daß die Glut der Lagerfeuer die wenigen Lumpen, die er am Leibe hat, noch vollends verbrennt, daß der Ruß der Lokomotiven sich in den Bartstoppeln festsetzt und der Staub der Straßen ihm ein Aussehen verleiht, das man nicht mehr als tierisch bezeichnen kann, ohne das liebe Vieh zu beleidigen. Was kümmern ihn die Menschen, ihn, das menschgewordene dynamische Prinzip.
Wie anders der Gringo! Er ist schon angekränkelt von der Blässe des Gedankens. Die träge, saumselige Atmosphäre des Mañanalandes hat seinen Unternehmungsgeist erheblich herabgemindert. ›Komm' ich heut' nicht, komm' ich morgen‹ ist seine Parole.
Du wanderst entlang dem Schienenstrang und triffst einen des Wegs kommenden Kollegen ›von der Lingera‹.
»Kenn' Kunde« würdest du nach deutscher Art ausrufen; aber das versteht hier kein Mensch. Gemäß der Landessitte wirst du ihn zu einer Tasse Mate einladen, und es wird sich dabei das folgende Gespräch entspinnen, das mit geringen Abweichungen sich bei derartigen Begegnungen stets wiederholt.
»Buenas dias, amigo.«
»Buenas dias.«
Pause.
»Es ist heiß.«
»Sehr heiß; verflucht heiß – madre dios – noch nie habe ich einen so heißen Sommer erlebt.«
Neue Pause.
»Und wo machst du hin?«
»Quien sabe? – vielleicht hinüber in die Gegend von Santa Fe. Es soll dort Arbeit geben in der Maisernte.«
»Ar-beit? Da kannst du lange herumlaufen, bis du dort etwas findest! Ich komme gerade aus der Gegend. Es ist heuer nichts mit der Maisernte. Die Heuschrecken sind da gewesen und haben alles gefressen.«
»Eh bueno. Was ist da zu machen? Wollen wir hoffen, daß ihnen der Mais gut geschmeckt hat. – Und wo machst du hin?«
Hierauf neue, lange Pause in der einsilbigen Unterhaltung. Man läßt sich auf den blanken Schienen nieder. Man zündet umständlich eine Zigarette an. Man blickt gedankenlos in den blauen Himmel. Man schaut eine Weile der lieben Sonne zu, wie sie tiefer und tiefer zum dunstverschleierten Horizont herabsinkt.
»Tomamos una copita,« sagt dein Gast mit schläfriger Stimme.
Das ist in der Tat das erlösende Wort.
Das Leben ist so kurz, und man muß während dessen so viel Mate trinken, daß man keine Gelegenheit dazu ungenützt vorübergehen lassen kann.
Ergo bibamus!
Wir zünden ein Feuer an. Wir schauen lange in die unruhige Flamme, über der es im rußigen Kochtopf lustig quirlt und brodelt. Wir schlürfen unsren Mate aus der langen Bombilla. Tiefsinnig blicken wir den roten Funken nach, bis die sinkende Nacht ihren schwarzen Mantel über die Pampa breitet. Morgen werden wir weiter wandern. – Mañana – oder sollte am Ende doch passado mañana, ein Übermorgen daraus werden? Wer kann es wissen? – Quien sabe? –
* * *
Langsam marschierte ich weiter in der heißen Sonne. Gegen Mittag kam ich an eine Bahnstation, um die ringsum das wandernde Volk seine Lagerfeuer brennen hatte. Dicht am Wegrand hatte sich ein Spanier niedergelassen.
»A donde va, amigo!« rief er mir zu, »wo geht die Reise hin?«
»Nach Santa Fe.«
»Doch nicht in der Hitze! Du holst dir ja einen Sonnenstich. Wenn man immer so weiter geht, so wird man am Ende müde werden, und das ist das schlimmste, was einem passieren kann. Warte ein Stündchen, dann gehe ich auch mit. Inzwischen kannst du hier mithalten; es ist genug für uns beide.«
Mit seiner schmutzigen Hand deutete er auf einen über einem spärlichen Maiskolbenfeuer hängenden Spießbraten, der groß genug war, um eine deutsche Familie bei Friedensrationen vierzehn Tage lang zu unterhalten.
Dann holte er einen Laib Weißbrot, eine Flasche Rotwein und eine Dose Paprikapfeffer hervor. »Eh bueno,« sagte er beinahe unwillig, als ich mich etwas zierte beim Zugreifen, »yo tambien soy de la lingera!«
Ich bin doch auch von der Lingera!
Nach dem Essen lagen wir lange im Schatten des großen Warenschuppens und hielten Siesta. Erst als die Sonne tief stand, setzten wir gemächlich unsere Reise fort. Wir kamen durch hohe, goldgelbe Maisfelder, in denen die Leute arbeiteten. Meine Hoffnung begann zu steigen, aber der Spanier, der sich in diesen Dingen auskannte, betrachtete unsere Aussichten auf Arbeit und Verdienst äußerst pessimistisch. Das hier sei keine Ernte. In anderen Jahren habe zehnmal so viel auf den Feldern gestanden, während heuer kaum genug gewachsen sei, um das Vieh über den Winter durchzubringen. Das bißchen, was es zu ernten gäbe, besorge der Farmer selbst mit seinem Personal; für die Leute von der Lingera bleibe da nichts mehr übrig. Über diesen trüben Betrachtungen war seine beschauliche Zufriedenheit ganz abhanden gekommen. Mürrisch schaute er in die Gegend. »Que miseria, que miseria!« wiederholte er einmal ums andere, und während wir langsam in die blaue Ferne hineinwanderten, wiederholte er zum hundertsten Male die Geschichte von den schlechten Zeiten, die ich im Ristorante XX Settembre bereits bis zum Überdruß gehört hatte. Als er nach einem abseits gelegenen Farmhaus ging, um Wasser zu holen, benützte ich die Gelegenheit, ihn stillschweigend abzuschütteln.
Es war schon fast dunkel, und vereinzelte Sterne schienen hell und groß am abendlichen Himmel, als ich an der nächsten Station anlangte. Ein bissiger Hund, der neben dem Stationsgebäude an der Kette lag, bellte heiser in die sinkende Nacht. Nur da und dort schimmerte ein anheimelndes Licht aus einem Farmhaus. Einen langen Güterzug, der schwarz und still auf den Schienen stand, betrachtete ich kritisch. – Hatten sie mir nicht gesagt, daß das Schwarzfahren die große Mode sei bei den Leuten ›von der Lingera‹? Und daß die kleinen Kinder selbst hierzulande sich schon darin übten? – Ja, aber wenn sie mich nur zum besten gehalten hätten? Eine Weile stand ich unschlüssig. Wenn's in Texas oder in Kalifornien gewesen wäre, – ja dann! Aber wir waren ja in Argentinien. – Schon begann die Lokomotive geschäftig zu schnauben. Die roten Funken zerstoben wild am Nachthimmel. »Vamos!« rief der Stationsvorsteher. Die Bremser eilten an ihre Plätze, und noch immer stand ich unschlüssig, als ein uniformierter Schaffner auf mich zukam.
»Wo wollen Sie hinreisen?« fragte er freundlich.
»Nach Norden.«
»Entonces –« dies mit einer einladenden Handbewegung auf die leeren Eisenbahnwagen.
»Wenn's erlaubt ist –«
»Aber warum denn nicht, Freundchen? Wir sind doch Christenmenschen! Wir gehen selber nicht gerne zu Fuß.«
Einen Augenblick stand ich starr vor Erstaunen. Oft schon hatte ich Zugführer angetroffen, die einem blinden Passagier gegenüber ein Auge zugedrückt hatten, und andere, die es bei einem nicht bewenden ließen, aber das war das erstemal, daß man mich mit einer förmlichen Einladung bedachte! Ich hatte gerade noch Zeit, mich mitsamt meiner Lingera in einem leeren Packwagen zu verstauen, als der Zug schon polternd davonfuhr.
Das Reisen im Güterzug ist kein Genuß für Leute, die von Natur nervös und ungeduldig sind. Man kommt nicht recht vom Fleck. Oft steht man stundenlang auf einem toten Geleise, ohne zu wissen, ob die Reise nicht hier ein vorzeitiges Ende nehme. Auf den Stationen gibt es klirrende Zusammenstöße, wobei die Bretterwände des Wagens in allen Fugen krachen, und unterwegs wird man erbärmlich gerüttelt und geschüttelt, so daß man froh ist, wenn man am Ende der Nacht mit geräderten Gliedern sein Pensum von hundertzwanzig bis hundertfünfzig Kilometern abgefahren hat. Aber, mein Gott, bei den Fahrpreisen –
Um Mitternacht kamen wir auf dem weitläufigen Güterbahnhof der Stadt Santa Fe an. Es war eine kalte, frostige Nacht, und der Mond warf ein weißes Licht über die Geleise. Da und dort tauchten rote und grüne Lichter über dem funkelnden Schienenmeer auf. Lange Reihen von Güterwagen standen da wie die Soldaten. Vor der großen, schwarzen Maschinenhalle, in der die Lokomotiven wie Ungeheuer schnaubten, loderte ein helles Feuer, an dem sich die Heizer und Lokomotivführer, die in ihren dünnen Drillichanzügen erbärmlich froren, die Hände wärmten.
»Guten Abend, Caballeros!« sagte ich, als ich dazukam.
»Guten Abend!« antworteten sie mechanisch, ohne aufzusehen.
Nur einer, ein großer, schlankgewachsener Mann, der mit seinem mageren, glattrasierten Gesicht wie ein Yankee aussah, kam auf mich zu und leuchtete mir mit der Laterne ins Gesicht.
»Hallo, Jack,« sagte er auf Englisch, »wohin des Wegs?«
»Nach dem Gran Chaco.«
»Das habe ich mir schon allein gedacht,« fuhr der andere fort. »Verdammt will ich sein, wenn ich wüßte, was ihr Kerle nur immer dort oben sucht! Goldminen? Was? – Na, meinetwegen kannst du ja mit uns fahren, und der Zugführer wird auch ein Auge zudrücken, wenn du ihm einen Peso schenkst. In einer Stunde fahren wir fort.«
Der Zugführer sagte sogar noch »muchas gracias!«, als ich ihm den Peso gab, und so konnte ich ungestört in meinem Güterwagen den Schlaf des Gerechten schlafen, während der Zug nordwärts rumpelte.
Als ich wieder aufwachte, schien der helle Tag durch die Ritzen des undichten Wagens. Draußen breitete sich eine liebliche Landschaft. Blauer Himmel über goldgelben Maisfeldern und in der Ferne blaue Hügel, die sich in dem Dunstschleier des frühen Tages verloren. Da und dort schaute zwischen dunklen Baumgruppen ein weißes Farmhaus hervor, in dessen Fenstern sich die aufgehende Sonne spiegelte. Zuweilen führte die Bahnlinie über ein träge dahinfließendes, von stattlichen Mombubäumen umsäumtes Flüßchen, oder über eine schilfige Cañada, in der der vorüberbrausende Zug die Flamingos aufscheuchte.
Bald erreichten wir die Endstation, wo die Hauptlinie nach Tucuman westwärts umbiegt und die Schmalspurbahn zum Gran Chaco in nördlicher Richtung abzweigt. Hier zog sich hart an der Bahnlinie ein ansehnliches Städtchen hin mit zahlreichen »Fondas« und »Posadas «, die zu einer Portion Puchero und zu einem Glase Rotwein einluden. Es war eines von den vielen argentinischen Landstädtchen, wie man sie da und dort in den weiten Ebenen findet. Eine Ansammlung von niedrigen, einstöckigen Häusern irgendwo draußen auf dem Camp, als ob sie der wilde Pampawind in seiner Laune gerade hier zusammengefegt hätte. Ich mag sie nicht leiden, diese argentinischen »Pueblos« mit ihren flachen, weißen Häusern, mit der grellen Sonnenhitze in den menschenleeren Gassen und mit der Langeweile, die über der ganzen Atmosphäre brütet. Kahl und nüchtern sind die einstöckigen Häuser an der staubigen Straße. Sie gleichen sich alle wie ein Ei dem anderen. Schweigend, geduckt und in sich gekehrt stehen sie da. Und wenn einmal eines dazwischen steht, das einem Reicheren und Vornehmeren gehört, so sind die Fenster nach spanischer Mode mit dicken gebogenen Stäben vergittert, und das große, eiserne, oftmals kunstvoll verzierte Tor mit dem dicken Klöppel verhindert jeden Blick nach den üppigen Palmen und den duftenden Orangenbüschen, die den Patio beschatten. Wenn es gegen Mittag geht und die Hitze sich wie ein Ungeheuer durch die Straßen wälzt, dann ist der Ort wie ausgestorben. Man hört nur das eintönige Klappern der Windpumpen, die aus den Hinterhöfen hoch in die heiße Luft hineinragen, die über den flachen Dächern zittert, oder das mißtönige Geschrei eines Esels, oder den langgezogenen Ruf eines italienischen Fischhändlers, der mit seiner Ware langsam die Straße entlang zieht: »El pes–ca–dor con sus pes–ca'os!«
Dann kommt man auf die Plaza. Sie ist unendlich groß. In neunzig Fällen von hundert heißt sie zu Ehren des Tages der Unabhängigkeitserklärung »25 de Mayo«. In den seltenen Fällen, wo dies nicht der Fall ist, heißt sie »Constitution« oder »Libertad« oder zuweilen auch »Independencia«. Die Plaza ist der Stolz und die Seele des argentinischen Pueblos. Hier gibt es grüne Rasenflächen und schattige Baumalleen, unter denen bequeme Bänke zur Siesta einladen. Ein Denkmal darf nicht fehlen auf der Plaza, und auch hier ist es wieder in neunzig Fällen von hundert der große Freiheitsheld San Martin, der von dem steinernen Sockel herunterschaut. In die übrigen zehn vom Hundert teilen sich Morena, Rivadavia, Sarmiento und Bolivar. – Ich kenne ihn, diesen San Martin! Ich kenne jeden einzelnen seiner scharfen, energischen Züge. Ich habe ihn kennen gelernt als Krieger, als Gaucho, als General. Ich habe ihn idealisiert als griechische Gottheit geschaut. Ich habe ihn sinnend auf einem Stein sitzen sehen mit einer Rolle Papier in der Hand. In Stein und Stahl, in Bronze und Marmor habe ich ihn gesehen. – San Martin kann es selbst mit Garibaldi aufnehmen in der Zahl und Vielseitigkeit seiner Denkmäler. Und das will viel heißen.
Mittags, wenn die Rasenflächen grau gebrannt sind, wenn die Baumkronen kurze, scharfe Schatten in die gelben Sandwege zeichnen und die mitleidlose Sonne harte Züge in das steinerne Gesicht des großen San Martin zieht, dann ist die Plaza gar öde und langweilig. Aber abends – abends, wenn der kühle Wind in den Baumkronen säuselt und tausend Leuchtkäfer durch das dunkle Laub der Büsche huschen; abends, wenn im spärlichen Licht der Laternen der San Martin noch einmal so groß aussieht wie gewöhnlich; abends, wenn Don Felipe auf der Bank unter den Bäumen dem blauen Dunst seines Zigarillo nachschaut, derweilen Donna Anita ihre bunte Mantilla spazieren trägt –
Doch ich bin ja mit meiner Erzählung auf einem falschen Geleise. –
Als ich an jenem Tage durch den Ort ging, lag gerade eine solche Mittagsstimmung voll Hitze und Sonne über der Gegend. Die roten Beeren an den Pfefferbäumen auf der Plaza leuchteten in der Sonne, und der heiße Wind wirbelte den Staub über den Rasen. Kein Mensch war weit und breit zu sehen, mit Ausnahme eines alten Mannes, der sich auf einer Bank vor dem steinernen San Martin niedergelassen hatte. Er war anständig gekleidet, in einem einfachen, aber blütenweißen Leinenanzug. Mit seinem großen, weißen, wohlgepflegten Bart machte er ganz den Eindruck eines Mannes, der sich aufs Altenteil gesetzt und nun, nach einem arbeitsreichen Leben, – mit sich und der Welt vollauf zufrieden – den Rest seiner Tage in süßem Nichtstun verbringt. Als ich vorüber ging, stand er auf, zog den Hut und strich sich einmal durch das silberweiße Haar.
»Mit Ihrer Erlaubnis, mein Herr,« sagte er in wohlgesetztem Spanisch, »die Heiligen werden Ihre Güte vergelten, und Ihr ergebener Diener wird noch heute für Ihr Seelenheil einen Rosenkranz beten, wenn Sie einen armen Reisenden mit einer kleinen Gabe erfreuen wollten.«
Ich schaute ihn verwundert an. – Hm, armer Reisender!?
»Caballero!« fuhr der alte Mann fort mit zitternder Stimme, »Sie sind noch jung, und Sie wissen noch nicht, wie traurig diese Erde ist und wie schlecht die Menschen sind! Glauben Sie mir, Caballero! Ich bin in dieses Pueblo gekommen, wie noch die Mulas hier auf der Plaza geweidet haben. Ich habe hier sieben Kinder groß gezogen. Sieben Kinder, Caballero! Aber was hat man davon? Wenn das junge Volk erst flügge wird, dann läuft es davon und läßt die armen alten Eltern verhungern. Vor fünf Jahren ist Rosita mit einem Gaucho davongelaufen, vor zwei Jahren ist so ein fein geputzter Stadtfratz gekommen und hat auch meine Anita mitgenommen. Und Donna Elvira. Meine liebe Donna Elvira – Elvira mi coraçón! –, die liegt schon seit fünfundzwanzig Jahren auf dem Campo Santo von Santa Fe.«
Während er so sprach, traten dicke Tränen in seine wässerigen blauen Augen, und seine Rede wurde oft unterbrochen durch einen heiseren, trockenen Husten. Dieser Husten! Ja, nun kannte ich ihn wieder! »Mensch – Methusalem? Wie kommst du hierher?«
Methusalem – denn es war kein anderer als er – warf mir einen zornigen Blick zu.
»Das hättest du auch vorher sagen können, ehe ich dir den langen Schmus vorgemacht habe!« sagte er auf Englisch, »du willst wohl einen alten Strandläufer zum Narren halten? Im übrigen heiße ich gar nicht Methusalem. Das ist nur so ein Unname, den mir die »Boys« angehängt haben. Aber meinetwegen! Es ist mir einerlei, wie man mich ruft, solange es nicht zu spät zum Essen ist.«
Dann lud er mich ein, neben ihm auf der Bank Platz zu nehmen, denn nur die Narren, meinte er, liefen um diese Tageszeit in den Straßen herum und holten sich einen Sonnenstich. So saßen wir eine ganze Weile auf der Bank und schauten gedankenlos der heißen Sonne zu, wie sie sich langsam auf die Baumkronen am Rande der Plaza herunter senkte und nach den hellen Lichtern, die ihre brechenden Strahlen in den Fensterscheiben entzündeten. Methusalem streckte wohlig seine alten Glieder. Ja, die Sonne! Das sei so recht etwas für alte Leute! Wenn man jung ist, dann wüßte man das gar nicht so zu schätzen. »Aber sei du erst einmal dreißig Jahre lang auf der Walze.«
Dann fing er an allerlei zu erzählen aus seinem traurigen, buntbewegten Leben. Vor beinahe einem halben Jahrhundert war er erster Koch gewesen in dem feinsten Hotel von Rio de Janeiro. Dann hatte er ein paar Jahre lang Cooks Reisegesellschaften im Fluge durch ganz Südamerika gehetzt. Dann war er Versicherungsagent und fliegender Buchhändler geworden. Dann hatte er ein bißchen in Revolution gemacht. Und dann – dann hatte er nicht mehr gearbeitet. Das war vor dreißig Jahren gewesen. Dreißig Jahre lang war er umhergewandert als ein hungriger, heimatloser Vagabund. Anfangs – so versicherte er mir – sei es ihm schlecht ergangen, aber heute – nun ja, man wird ja mit der Zeit bekannt – heute habe er sein gutes Auskommen, Zwischen Buenos Aires und Tucuman gäbe es viele wohltätige Menschen, bei denen er gut angeschrieben sei. Die warteten in jedem Jahre auf Methusalem, so wie man im Frühjahr auf die Schwalben warte. Bei denen sei er immer gut für einen tüchtigen Batzen für die Weiterreise. Und dazwischen könne man immer noch ab und zu einen anderen Dummen finden, der einen Peso schwitzt, wenn man ihn ordentlich verkohlt. Dazu brauche man sich bloß auf die Plaza zu setzen; die Gimpel kämen ganz von selber. Aber eine saubere und glaubhafte, den Verhältnissen angepaßte Geschichte müßte es sein. Das sei gerade die Kunst! Und wenn man einmal einen Dummen gefunden habe, so solle man sich die Adresse warmhalten und nicht gleich in den Kaschemmen das Maul aufreißen, damit die Kunden und die Strandläufer am nächsten Tag den armen Leuten das Haus einrennen. Nein, das sei das Verkehrteste, was man machen könne. Man schade nur sich selbst und verderbe anderen das Geschäft. Man solle den Leuten die Wohltätigkeit nicht abgewöhnen. Einen Augenblick hielt Methusalem in seinen Betrachtungen inne, um sich eine Zigarette anzustecken.
»Merkwürdig,« sagte er, indem er nachdenklich dem blauen Rauch nachblickte, »Zigarren kann ich nicht rauchen. Und eine Pfeife schon gar nicht. Immer nur Zigaretten! Die schmecken viel besser. Man kann dabei so gut seinen Gedanken nachgehen, und dann kommt man sich auch am ehesten als Gentleman vor.«
Als es anfing dunkel zu werden, zeigte mir Methusalem den Weg nach dem Bahnhof der Chacobahn, wo ringsum die Campfeuer wie rote Punkte in der Pampa leuchteten. Es gibt keine Eisenbahnstation in der weiten Paranaebene, um die nicht im Spätsommer, zur Zeit der Ernte, allmählich diese Lagerfeuer flammten. Meist sind es harmlose Landarbeiter, die hier die Nacht zubringen. Nicht selten aber trifft man auch eine Gesellschaft von Vagabunden, wie man sie schlimmer auf der ganzen Erde nicht wiederfindet. Vor denen kann man sich nie genug in acht nehmen. Sie würden eine tote Katze berauben, wenn sie ihnen unter die Finger käme. »Beach-combers« nennt man sie, was man auf Deutsch etwa mit »Strandläufer« übersetzen kann. Meist sind sie vor Jahren einmal von irgendeinem Schiff weggelaufen, und da sie sich weder mit der spanischen Sprache noch mit den Landessitten zurechtfinden können, verlieren sie bald jede Energie und jede Selbstachtung und geraten allmählich in einen Zustand der Zerlumptheit und Verkommenheit, der nur in dem nachsichtigen Südamerika als nicht polizeiwidrig angesehen werden kann. Sie kommen in die Wirtshäuser und trinken den Gästen das Bier vor der Nase weg. Wenn sie jemand auf der Straße begegnen, der wie ein Seemann aussieht, so kommen sie auf ihn zu und klopfen ihm vertraulich auf die Schulter: »Hallo, Jack! Wie wär's mit einem Peso oder mit ein paar Centavos für einen Whisky?« Oder wenn einer ausschaut wie ein Lord, der eben von drüben kommt: »Sie werden entschuldigen, mein Herr, wenn ein armer Landsmann Sie um eine kleine Gabe bittet, aber ich habe seit vierzehn Tagen nichts mehr gegessen.«
Die »Boca« von Buenos Aires ist das Paradies des Strandläufers. Die Kneipen entlang des Paseo de Julio sind sein Jagdgebiet. Hier, wo es gutmütig-dumme Seeleute mit großen Abrechnungen und fetten Vorschußraten in hellen Haufen gibt, hält er sich, solange er kann, und nur wenn er sein Gewerbe so lange und so intensiv getrieben hat, daß selbst die argentinische Polizei auf ihn aufmerksam wird, begibt er sich schweren Herzens auf die Reise nach dem Inland. Was sich also dort in der Pampa herumtreibt, das ist die Auswahl der Schlechten unter den Schlechten. Denen kommt es auf eine Mordtat mehr oder weniger gar nicht an. –
Ich fürchtete schon, daß Methusalem, der doch auch ein ausgekochter Strandläufer war, mich in eine solche Gesellschaft hineinlotsen wollte, damit die mich noch um meine wenigen Habseligkeiten brächten. Aber ich hatte ihn in falschem Verdacht gehabt. Er brachte mich nach einem Platz, wo eine Gesellschaft von waschechten deutschen Kunden abkochte.
Deutsche Kunden, deutsche Vagabunden, deutsche Handwerksburschen – wo findet man sie nicht? In Spanien, in Österreich, im Orient, auf den langen staubigen Landstraßen der Campagna sowohl wie an den Ufern des Nils und in den winkligen Gassen der heiligen Stadt. In Amerika, in Australien, in Indien, in den fernsten Zonen dieser allzukleinen Erde ist er überall zu Hause; überall wird man es wieder finden, das unternehmungslustige Bürschchen mit den hellen Augen, aus denen die Wanderlust leuchtet. Andere Völker haben auch ihre Vagabunden. Italiener z. B. trifft man allenthalben in Scharen; aber es ist nur die Not, die sie in die Ferne treibt. Wandernde Söhne Albions – man findet deren mehr, als man gemeinhin glaubt – sind zumeist Opfer des Whiskyteufels. Der Amerikaner kann keine drei Schritte außer Landes gehen, ohne bei Tag und Nacht einem jeden, der es wissen will – und auch vielen, die gar nichts danach fragen – von ›Gods own country‹ und seinen Vorzügen zu erzählen. Und gar erst der Franzose! Nichts Bemitleidenswerteres als Jean auf der Landstraße mit seiner verzehrenden Sehnsucht nach ›la belle France‹, nach dem geruhsamen Leben und nach der gesicherten Rente, die der Abgott seiner Rasse ist! Der Deutsche aber ist der einzige Landstreicher aus Passion. Was andere als einen vorübergehenden Notstand auffassen, als ein Kreuz, das man tragen muß, mühselig und beladen, weil Schwäche, Energielosigkeit, körperliche Gebrechen oder andere widrige Umstände einen dazu zwingen, treibt der Deutsche nur allzuoft als Gewerbe. Das hat nicht immer zur Erhöhung des deutschen Ansehens im Ausland beigetragen. Aber dennoch!
Es war schon ganz dunkel, als wir dort ankamen. Das südliche Kreuz stand hoch am Himmel, und unzählige Sterne leuchteten weithin über die nachtschwarze Pampa. Der helle Widerschein des Lagerfeuers spielte auf den jungen Gesichtern. Der Bratengeruch, der aus dem Kochkessel aufstieg, erfüllte die Luft mit süßen Wohlgerüchen. Kaum einer von ihnen schien von unserer Ankunft Notiz zu nehmen.
»Paß auf, du Döskopp!« fuhr mich einer an, »schmeiß mal ja meinen Hühnerbraten nicht um.«
Dann machte ich mich daran, mir einen Braten zurechtzumachen aus dem Kilo Fleisch, das ich mir für dreißig Centavos im Pueblo gekauft hatte. Auch die anderen waren eifrig beim Kochen und Braten. Jeder hatte Fleisch und Brot im Überfluß. Wer sich nichts kaufen konnte, der hatte sich sein Teil erfochten. Und die, die gefochten hatten, hatten mehr als die anderen. Denn was man immer sonst über den Argentiner sagen mag: Sein weiches Herz und seine unerschöpfliche Gastfreundlichkeit sind seine schönste Tugend.
»Wo macht ihr denn hin?« fragte ich einen biederen Schwaben, der sich neben mir am Feuer zu schaffen machte.
»Mir machet alle nach'm Gran Chaco,« antwortete der treuherzig. – »Ja, was wollet mr sonscht mache?« fuhr er fort. »Wenn's jetzt kalt wird, kannscht nimmer am Camp hocke. Un z'schaffe findscht scho gar nix! Da mache mir's, wie d' reiche Leut'. Mir gehet auf d' Walz.«
Während er noch redete, kamen zwei weitere Kunden hereingeschneit. Weiß der Kuckuck, wie sie sich immer finden! Der eine von den beiden war ein schlanker Jüngling in einem großen, schäbigen Überzieher, der ihm fast bis zu den Zehen reichte.
»Bischt du der Iberziehermarder von Buenos Aires?« fragte ihn der Schwob. Er war aber kein Überziehermarder, sondern nur ein armer österreichischer Handlungsgehilfe, den die schlechten Zeiten um seine mager bezahlte Stellung gebracht hatten. Sein »Compagnero« aber war eine Erscheinung. Er sah aus wie ein verkrachter Referendar oder ein durchgefallener Kandidat der Theologie. »Sie gestatten doch« – sagte er, als er sich neben einem verwittert ausschauenden Kunden am Feuer niederließ. Der aber schaute ihn mißtrauisch von oben bis unten an.
»Hab dich mal nicht so, du verhungerter Schulmeister, du!« fuhr er ihn an. »Willst wohl wat Besseres sein wie unsereener?«
Der Schulmeister war aber nicht auf den Mund gefallen. Er verbat sich energisch die Vertraulichkeiten und erklärte dem anderen, daß er besser daran täte, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, worauf dieser sofort einlenkte.
»Na lass' man gut sein,« sagte er besänftigend. »Es war ja nicht so gemeint. Überhaupt mag ich dich ganz gut leiden. Wir beide – wir passen zusammen, wie ein Kanarienvogel zum anderen. Da werden wir wohl morgen zusammen loszittern nach dem Gran Chaco. So einen Compagnero wie du habe ich mir schon lange gewünscht. Du hast noch 'ne dufte Kluft, bist gewissermaßen repräsentationsfähig. Reden kannst du wie ein Buch, und das Verkohlen verstehst du doch auch, schon von Berufs wegen. Einmal habe ich in Frankreich mit einem Schulmeister getippelt. Das war der beste Kunde, den ich je gesehen habe. Aber dann hat ihn die Polente erwischt, weil er keine richtigen Fleppen gehabt hat. Ich hab' mich oft gewundert, was aus ihm geworden ist. Vielleicht haben sie ihn in die Fremdenlegion gesteckt, den armen Teufel. Aber hierzulande brauchst du keine Angst zu haben vor der Polente. Und eine Fremdenlegion gibt es auch nicht. Da können wir ganz unbesorgt auf die Fahrt steigen und unterwegs die reichen Engländer mitnehmen. Die sind alle ein bißchen dumm, und wenn man ihnen einen richtigen Kohl vormacht, kann man ihnen die Pfunde ganz leicht abknöpfen. Sind wir aber erst mal im Gran Chaco, so werde ich selber für alles weitere sorgen. Da werden wir dann beide katholisch und lassen uns von der Mission durchfüttern über den Winter. Das habe ich schon öfters so gemacht. Wenn dann das Frühjahr kommt, dann gehen wir hinauf nach Paraguay. Dort ist es wenigstens immer schön warm. Bananen und Orangen gibt es dort die schwere Menge. Und gut sind die Menschen dort. Gut wie Gold! Du brauchst nur einmal über die Straße zu gehen, ehe so eine dunkeläugige Señorita dich beim Arm nimmt: ›Toma maté, amigo!‹ Das ist noch so ein Land für uns Kunden.«
Der Schulmeister hörte diesen Ergüssen nur mit halbem Ohre zu, und auch die andern hatten kein richtiges Interesse für die verlockenden Bilder, die diese glühende Vagabundenphantasie ihnen vorgaukelte. Stiller und stiller wurde es ringsum, während sich einer nach dem anderen in seinen Poncho rollte. Der Mond war aufgegangen und warf ein blasses Licht auf die weiße Asche des verglimmenden Lagerfeuers. –
* * *
Die Nacht ist der Vater der guten Gedanken. Was immer am Abend beim Lichte des Lagerfeuers sich schön und gut und erstrebenswert angesehen hatte, das sieht zumeist ganz anders aus, wenn der graue Morgen heraufzieht. Viel nüchterner und geschäftsmäßiger! Und auch sehr viel realer. Ich beredete die Sache mit dem Schulmeister, der mir noch der Anständigste in der Gesellschaft schien, und noch vor Sonnenaufgang saßen wir zusammen in einem Güterzug, der uns westwärts nach den Zuckerrohrfeldern von Tucuman entführte. Während der Zug in den dämmernden Tag hineinrollte, erzählte der »Schulmeister« seine Lebensgeschichte: Er war Chemiker von Beruf und hatte sich das Geld zum Studium am Munde abgespart. Fleißig und sparsam war er überhaupt immer gewesen, aber Glück hatte er nie gehabt. So war es stetig bergab mit ihm gegangen, bis von all den großen Plänen nichts mehr übrig geblieben war als Ärger und Verdruß und verbissener Hader mit dem blinden Schicksal. Alles in allem war er ein wenig angenehmer Reisegefährte.
Grübelnd schaute er vor sich hin, und während des ganzen Abends wollte nur noch eine einsilbige Unterhaltung aufkommen, bis das eintönige Lied der rollenden Räder uns in den Schlaf gesungen hatte. –
Als ich wieder aufwachte, stand der Wagen einsam und verlassen auf einem Seitengeleise. Durch den Türspalt betrachtete ich die Gegend. Es war eine schöne, sanftgewellte Landschaft mit gelben Maisfeldern und grauen Buschwäldern, über denen der Dunst des frühen Tages wie ein Blauer Schleier lag. In einiger Entfernung breitete sich eine ansehnliche Stadt, von der ich bei bestem Willen nicht wußte, wohin ich sie tun sollte. Ein Indianer, der auf der breiten holperigen Straße hinter einer Hammelherde hergeritten kam, schien nicht geneigt, uns hierüber Auskunft zu geben. Verächtlich schaute er uns an aus einem Winkel seiner bösen Augen, während er wortlos vorüberritt. Selbst seine abgetriebene Rosinante bäumte sich auf ob solcher Unwissenheit. Ein des Wegs kommender Milchhändler schüttelte ebenfalls erstaunt und mißbilligend den schwarzen Haarschopf. »Was das für eine Stadt ist? – Madre dios, wissen Sie es denn nicht? San Christobal! Was denn sonst?« sagte er mit einer Stimme, in der der ganze Zorn eines gekränkten Lokalpatrioten nachzitterte.
In der grellen Mittagshitze standen wir auf der Plaza des Städtchens. Auf den ersten Blick konnte man sehen, daß hier nicht lauter »Hiesige« wohnten! Da hingen weiße Gardinen hinter blitzenden Fensterscheiben; da waren große, saubergefegte Höfe im Schatten knorriger Feigenbäume; da spielten wilde, blondhaarige Kinder auf den Straßen, und die saubergekleideten Frauen vor den Haustüren – ja, das kam mir spaßig vor – die redeten Deutsch!
Ein alter Bäckermeister, in dessen Laden wir Einkäufe besorgten, fragte uns eingehend nach dem Woher und Wohin.
»Was hand'r für e Profession?« fragte er in seinem breiten Schweizerdeutsch.
»Ingenieur,« sagte der Schulmeister.
»So, so,« meinte nachdenklich der alte Mann, und ohne ein weiteres Wort holte er aus dem Schrank eine altmodische Feder und ein verstaubtes Tintenfaß hervor. Dann malte er mit ungelenker Hand ein paar Worte auf einen fettigen Papierbogen, den er einem seiner zahlreichen flachshaarigen Kinder übergab.
»So, das bringsch zum Monsieur Durand.«
Dann führte uns der Alte in die Wohnstube, wo sie gerade am Kaffeetisch saßen. Eine bunte Kaffeedecke von solidem, gewürfeltem Muster lag auf dem Tisch. Jeder hatte vor sich eine große, bauchige Tasse, und die Alte schleppte immer neue Kannen von duftendem Kaffee und ganze Berge von appetitlichem Kuchen herbei. Und alle Augenblicke fragte sie uns ängstlich, ob es uns denn schmecke und ob wir uns auch nicht genierten. Der Alte aber, der in dem Sessel am Ende des Tisches saß, blinzelte nur zuweilen vergnügt über die große Hornbrille, mit deren Hilfe er das »Argentinische Sonntagsblatt« studierte.
Ja, so viel Luxus hatte ich nicht mehr gesehen, seitdem die »Pernambuco« an der Darsena Norte von Buenos Aires angelegt hatte.
Nach einer Weile kam der kleine Junge wieder zurück, gefolgt von einem kleinen, quecksilbrigen Franzosen mit schmalem Gesicht und rabenschwarzem Spitzbart: der Monsieur Dürand.
»Ah bonjour, monsieur,« rief dieser, als er meiner ansichtig wurde, »à la bonne heure! Je suis ravi!«
»Awer, das isch jo dr falsch!« protestierte der Bäckermeister, der mich offenbar für einen nichtsnutzigen Vagabunden hielt. »Dr andr isch dr Herr Ingenieur!«
Doch der Franzose hörte ihn gar nicht.
»A la bonne heure!« sagte er wieder. »Sie kommen gerade wie gerufen. Mon Dieu! Wie ein richtiger Engel vom Himmel! Schon seit drei Wochen sitze ich hier und schreibe mir die Finger wund nach einem Ingenieur, aber bis jetzt ist noch keiner gekommen. Immer vertröstet man mich auf morgen. ›Mañana – quien sabe?‹ Das ist so die Mode hierzulande. Letzte Woche habe ich's mit einem Mechaniker aus der Umgegend probiert, aber – sacré nom de dieu – der Kerl hat drei Tage lang daran herumgepfuscht, und das Ding läuft immer noch nicht. Was soll ich bloß tun?«
»Aber Monsieur Dürand –« versuchte ich seinen Redestrom zu unterbrechen, »ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihnen viel helfen kann.«
Doch der entzückte Monsieur Dürand ließ sich nicht in seinem Glauben irremachen.
»Aber ich bitte Sie!« sagte er händeringend, »für Sie wäre das doch eine Arbeit von wenigen Stunden!«
Kurzum, es gab kein Entrinnen vor der stürmischen Beredsamkeit des begeisterten Monsieur Dürand. Schon hatte er uns vor sein »Hotel français« geführt, ehe einer von uns Zeit gefunden hätte zu einem Wort der Erklärung.
»Einen Augenblick!« sagte Monsieur Dürand, während er über den Hinterhof rannte und kopfüber in eine Rumpelkammer tauchte.
Wenige Minuten später erschien er wieder auf der Bildfläche in einem blauen Arbeitsanzug, wohlbewaffnet mit einem Dutzend Schraubenschlüssel aller Größen und Fassons. Dann rief er noch zwei seiner Peone herbei, die er ebenfalls bis zur Grenze ihrer Tragfähigkeit mit Bohrern, Meißeln, Brecheisen und anderen gefährlichen Instrumenten belud. »Eh bien,« sagte er nach einem prüfenden Blick auf sein Gefolge: »allons!«
Wenn ich mich bisher in einem geheimen Winkel meiner Seele noch der Illusion hingegeben hatte, daß mein technisches Verständnis vielleicht doch auf der Höhe der mir zugemuteten Ingenieuraufgabe stehen könnte, so war es damit zu Ende in dem Augenblick, als wir an Ort und Stelle anlangten, wo wir die Bescherung mit eigenen Augen sehen konnten. Was? Alle diese, in einem genialen Durcheinander über ein halbes Kleefeld zerstreuten Maschinenteile sollte ich zusammenlesen und daraus eine mechanische Windpumpe mit einem Gasolinmotor aufbauen? Ich, der ich so viel von Motoren verstand, wie die traditionelle Kuh vom Klavierspielen! Ich, der ich mich vor einem laufenden Treibriemen mehr fürchtete als vor einem wildgewordenen Pampapferd!
Doch der Franzose merkte nichts von meiner Verlegenheit. Er machte sich sogleich daran, uns den Fall auseinanderzusetzen, und da das Französisch meines Kameraden nie über den großen Plötz hinausgekommen war, mußte ich das ganze Trommelfeuer der gallischen Beredsamkeit aushalten. Es war ein ununterbrochenes, prasselndes Schnellfeuer, das mir nur ab und zu Gelegenheit gab, ein verständnisvolles »c'est ça« einzuschalten. Monsieur nahm sich die Zeit, mir alles gründlich zu erklären und seine Vorlesung mit praktischen Demonstrationen zu begleiten. Er tanzte wie ein Derwisch zwischen den Maschinenteilen umher und fuchtelte mit den Schraubenschlüsseln, die fast so groß waren wie er selber.
»Voyons,« sagte er, »die Sache ist ganz einfach! Die Teile sind ja alle numeriert, und Sie brauchen nichts zu tun, als sie nach dem Reglement zusammenzusetzen. Und wenn einmal ein Teil nicht ganz paßt, so müssen sie ihn eben zurecht feilen, oder abmeißeln, oder, wenn ein Stück zerbrochen ist, so kann man die Teile ja meist wieder zusammenlöten.«
Nur zuweilen blieb er unvermittelt stehen und schaute mich mit großen Augen an, während er mit dem riesengroßen, blauweißrot getupften Taschentuch den Schweiß abwischte, der in Strömen von der Stirn rann.
»Compris?«
»Parfaitement,« antwortete ich jedesmal.
Vollauf zufrieden mit seinen beiden Ingenieuren brachte uns der famose Monsieur Dürand wieder zurück nach dem Hotel, wo man mit einem leckeren Mahl aufwartete. Doch ehe es mittags an die Arbeit gehen sollte, hatten die beiden Ingenieure noch einmal eine private Unterredung.
»Ja, verstehst du dich denn auf solche Arbeit?« fragte der Schulmeister mit zweifelnder Miene.
»Keine Ahnung!« antwortete ich.
Da machte der andere ein höchst bedenkliches Gesicht. »Du,« sagte er, »es wäre doch am Ende das beste, wir machten uns aus dem Staube, ehe wir hier gelyncht werden.« –
Heimlich und mit einem bösen Gewissen marschierten wir davon über die sonnige Landstraße, und keiner von uns wagte auch nur einmal umzusehen, weil der händeringende Monsieur Dürand uns in unseren Gedanken verfolgte wie ein Gespenst. Mir war, als ob ich noch immer deutlich hinter mir seine verzweifelte Stimme vernähme: »Messieurs, je vous en prie – –«
Es war gut, daß wir bald einen Italiener antrafen, der sich anbot, uns mit seinem leichten Wagen nach der Bahnstation zu fahren. Das ließen wir uns nicht zweimal sagen und machten es uns auf der breiten Holzbank zwischen dem Alten und seinem etwa zehnjährigen Mädchen bequem. Das kleine Würmchen trug den stolzen Namen Adria, denn Papa war selbst noch in Amerika ein eingefleischter Irredentist. Er selbst hieß mit Vornamen allein: »Hannibal, Alexander, Garibaldi.«
Wie bescheiden sind doch wir Deutsche mit unseren nüchternen, phantasielosen Vornamen! Karl oder Heinrich oder Jakob oder Kurt. Und wenn einer einmal seine Phantasie etwas weiter schweifen läßt und seinen hoffnungsvollen Sprößling »Roderich« oder seine Tochter »Marzipilla« tauft, so schütteln die Leute die Köpfe und sagen: »Ist denn einer in deiner Verwandtschaft, der also heißet?«
Das ist bei den Ausländern ganz anders. In bezug auf die Masse der Vornamen stehen entschieden die Holländer obenan. Was ein richtiger Mijnheer ist, der tut es nicht unter fünf. In der Qualität aber gebührt die Palme den Yankees: Mayor, Colonel, Marshall. Oder George Washington, Abraham Lincoln, Andrew Jackson oder Henry Clay. Ist es nicht schon eine ansehnliche Mitgift, wenn man als Marshall Smith oder als Abraham Lincoln Jones auf die Welt kommt?
In der Neugestaltung blumenreicher, phantasievoller Vornamen sind aber die Italiener allen anderen über. »Adria« ist unzweifelhaft ein hübscher und klangvoller Name. »Italia« ist auch nicht übel. »Avanti Savoia!« klingt schneidig. Zuweilen ist es aber doch zuviel der Kühnheit. Als vor Jahren das erste italienische Luftschiff über dem Dom von Mailand kreuzte, da taufte ein begeisterter Patriot sein neugeborenes Mädchen »Dirigibile Italiano« (lenkbares italienisches Luftschiff)!
Aber in was für eine Sackgasse bin ich hier geraten über dem Plaudern!
Dieser Hannibal, Alexander, Garibaldi – um wieder mit der Erzählung ins alte Gleis zurückzukommen – wurde nicht müde, uns im zungenfertigsten Italienisch zu unterhalten. Das Leben hier in Argentinien – so meinte er – sei buona, molto buona. Dagegen in Italien! buonissima! Schneller als man gedacht, waren wir wieder an der kleinen Eisenbahnstation angelangt, die ziemlich einsam und verlassen am Rande eines struppigen Buschwalds stand, aus dem eben die Nacht hervorgekrochen kam.
Schwärzer noch als die Nacht kam ein Gewitter hinter dem Buschwald heraufgezogen. Es fing an zu regnen; es regnete wirklich! So lange hatte man vergeblich darnach ausgeschaut, so lange war alles Leben verdorrt und vertrocknet unter der erbarmungslosen Sonne, so lange hatte der Himmel in mitleidslosem Blau gestrahlt und die Wolken, die sich oftmals um die Mittagsstunde zusammenballten, waren immer und immer wieder zerronnen ohne einen Tropfen für das verschmachtende Land, so daß man im Ernste gar nicht mehr an solches Wunder zu glauben vermochte. Nun aber war der Bann gebrochen, und es fielen wirklich und wahrhaftig dicke Regentropfen, die die vertrocknete Erde mit langen, durstigen Zügen in sich aufsog. Bald war es zuviel des Segens. Eine Stunde Regenwetter ist in allen Zonen eine harte Probe, wenn man draußen im Busch ohne Obdach ist; aber so ein argentinischer Wolkenbruch ist doch etwas anderes, als ein zahmer europäischer Landregen. Hier hatten sich im wahrsten Sinne des Wortes die Schleusen des Himmels geöffnet, und unter grellem Blitzen und betäubenden Donnerschlägen rauschten die Wassermassen herunter, als ob sie die Erde selbst mit sich hinwegschwemmen wollten. Der alte Packwagen, in dem ich Zuflucht gesucht hatte, bot nicht mehr Schutz vor dieser Sündflut, als ein Sonnenschirm vor einer Kanonenkugel. Bald war kein trockener Faden mehr an mir, und immer rauschte das Wasser noch weiter. Richtig wie ein begossener Pudel stand ich da. Melancholisch schaute ich hinaus in das graue Unwetter. Das Leben kam mir mit einemmal so sinn- und zwecklos vor. Gar nicht zufrieden war ich mit mir und meinen Taten in Südamerika. Das Glück wollte ich finden und hatte doch nur immer mit genauer Not das Unglück bei den Rockschößen erwischt. ›Wo du nicht bist, dort ist das Glück,‹ konnte ich nach berühmtem Muster sagen. War es nicht wie ein Verhängnis gewesen? Überall wo ich meinen Fuß hinsetzte, war gleich eine Mißernte, eine Heuschreckenplage, schlechte Konjunktur und Arbeitslosigkeit oder sonst irgendeine Kalamität über die Menschheit gekommen, und wenn es je einmal irgendwo Brei regnete, so hatte ich gewiß keinen Löffel mitgebracht.
Und das sollte nun immer so weiter gehen? Da sollte ich nun immer, immer weiter wandern wie ein hungriger, heimatloser Landstreicher?
Nach dem Gran Chaco.
Warum?
Nach Bolivien.
Über die Anden.
Warum?
Warum? Warum? Ich fing wirklich an, darüber ernsthaft nachzudenken. – Aber natürlich! – beim Teufel, ja! weil es dort drüben in der blauen Ferne so sehr viel schöner war als im Lande Argentinien. Bolivien war ein gar interessantes Land; die Anden, den Gran Chaco, das mußte man gesehen haben!
Denn dort drüben über den Wäldern und über den Bergen, dort auf den unruhigen Wellen des blauen Meeres, da mußte es doch ganz gewiß zu finden sein: das Glück – das Glück! Wo anders sollte es denn wohnen?