Kurt Faber
Dem Glücke nach durch Südamerika
Kurt Faber

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Auf bolivianischer Landstraße

Besuch beim Bürgermeister. – Bolivianische Gasthöfe. – Der Tambo. – Ein seltsamer Gast. – Don Cesar Antonio Baldini kann alles. – Er bietet sich als Reisebegleiter an. – Der Narr auf der Landstraße.– Tschitscha und Koka. – Der Schatten des Peter Schlemihl. – Ein Liebesdienst. – Tupiza, die verzauberte Stadt. – Don Cesar Antonio Baldini entwickelt seine Talente. – Weiter in die Wildnis.

Die Sonne war längst schon hinter den fernen Hügeln im Westen verschwunden, und weiße Nebel begannen aus den feuchten Mulden der Pampa aufzusteigen, als ich ein kleines Dorf erreichte, dessen Namen ich längst vergessen habe. Zu beiden Seiten der Straße tauchten ein paar Lehmhütten auf, die sich von der gelben Erde der Pampa kaum abhoben. Bissige Hunde mit hungrigen Wolfsaugen ließen ihre mißtönende Stimme vernehmen. Nackte Kinder kauten an halb gerösteten Maiskolben, und eine Gesellschaft dunkelhäutiger Indianer war dabei, eine Lamakarawane abzuschirren.

»Jawohl, das ist hier der Tambo,« antwortete mir einer von den Leuten, der ein einigermaßen verständliches Spanisch sprach, »aber erst müssen Sie bei Don Felipe um Erlaubnis fragen, wenn Sie hier übernachten wollen.«

»Und wer ist denn dieser Don Felipe?«

»El señor corregidor – der Herr Bürgermeister.«

Es dauerte eine Weile, ehe ich die Behausung dieses hochmögenden Herrn ausfindig gemacht hatte. Er wohnte in einer Hütte aus ungebranntem Lehm. Durch die niedrige Türöffnung, die durch ein Stück Sackleinwand gegen neugierige Blicke von draußen geschützt war, gelangte man in einen kahlen, finsteren Raum mit rauchgeschwärzter Decke, in dem eben eine alte runzlige Indianerfrau in einem rußigen Kochtopf auf offenem Feuer eine Maissuppe kochte. Bei meinem Anblick fiel ihr vor Erstaunen die Tabakspfeife aus dem Munde.

»Gringo!« entfuhr es ihr gurgelnd.

»Que quiere!« ließ sich eine scharfe Stimme im dunklen Hintergrund vernehmen.

»Ich wünsche den Herrn Bürgermeister zu sprechen.«

»Der bin ich selber!« sagte die Stimme wieder, und dann erhob sich eine lange, dürre Gestalt mit einem knochigen Indianergesicht, auf dem der flackernde Schein des Feuers spielte. »Bueno,« sagte er mit strenger Miene, nachdem ich mein Anliegen vorgebracht hatte. »Sie können hier übernachten, aber morgen in aller Frühe machen Sie, daß Sie fortkommen. Fremde sind verdächtig hierzulande!«

Ich brauchte mich nicht lange nach dem Tambo umzusehen. Das Schreien der Esel und das Blöken der Schafe verriet ihn so gut wie einst die Gänse das Kapitol. Als Gasthof war er das letzte Wort in spartanischer Einfachheit. Am liebsten hätte ich draußen übernachtet; aber es war Winter, es war kalt, die Wölfe und die Schakale trieben draußen ihr Unwesen, und vier rußige Wände sind immer noch ein begehrenswertes Obdach, wenn draußen bei Null Grad Celsius ein Pampawind weht. – Also vorwärts! Nur nicht ängstlich!

Durch ein enges Tor gelangt man in einen weiten, von hohen Lehmmauern umgebenen Hof, wo Esel, Maulesel und Lamas in buntem Durcheinander umherstehen, dicht zusammengedrängt, um sich vor der Kälte zu schützen und unruhig scharrend und stampfend, um den abendlichen Frost abzuschütteln, der sich vom klaren Sternenhimmel herabzusenken beginnt. Im Hintergrund des Hofes liegt ein kleiner überdachter Raum, der als Unterkunftsort für die Menschen vorgesehen ist.

Dumpf und dunkel ist es dort drinnen, wie in einem Kellergewölbe. Ein dicker, bläulicher Rauch kommt aus der Türöffnung herausgequollen und setzt sich beißend in den Augen fest. Gleich beim Eintritt kommt unser Fuß mit einem quer vor der Tür liegenden weichen Gegenstand in Berührung, worauf sich eine atemberaubende Flut von spanischen und Kitschuaadjektiven, begleitet von der Skala aller Heiligen im Kalender, von der Santa Maria bis zum heiligen Nikodemus, über das Haupt des Unvorsichtigen ergießt. Durch diese Erfahrung gewitzigt, tastet man sich hinfort mit aller Vorsicht über die Menschenleiber nach der Feuerstelle, wo man beim unruhigen Licht der Flammen seine Tasse Tee oder seine Hammelkeule zubereitet. Dort am Feuer hocken gewöhnlich auch noch einige alte Weiber und kochen Suppe mit viel Wasser, wenig Reis, aber desto mehr von dem roten spanischen Pfeffer, der die Lieblingsspeise eines jeden echten Südamerikaners ist. Einen Teller dieser Suppe verkaufen sie für zehn Centavos. Teuer genug.

Als ich es mir gerade nach Möglichkeit am Feuer bequem zu machen suchte, kam noch ein anderer Reisender herein. Ein Riese von einem Menschen, der mit seiner breiten Gestalt nur seitwärts durch die Türe kommen konnte und der sich bücken mußte, um nicht an der rußigen Decke anzustoßen.

»Buenas dias!« sagte er mit dröhnender Baßstimme, die die Teller auf der Feuerstelle rasseln machte und unter den Schläfern einen Chorus der Entrüstung entfachte. Aber der fremde Riese kehrte sich nicht daran.

»Buenas dias!« wiederholte er nochmals, während er sich einen Weg über die umherliegenden Schläfer bahnte. Alsdann setzte er sich gemächlich auf den Herd neben dem Feuer. Wahrlich, er war ein unheimlicher Geselle! Er hatte ein schmutziges, aufgedunsenes Gesicht mit einem dichten, schwarzen Stoppelbart und kleinen, stechenden Augen, die unruhig im ganzen Raum umhertanzten. Plötzlich blieben sie wie gebannt an mir hängen: »Was für ein Landsmann bist du?«

»Ein Deutscher,« antwortete ich.

»So, so,« fuhr der Riese fort, »dann sind wir ja Landsleute. Ich bin auch aus der Gegend – Italiano

»Aber . . .«

»Hier gibt's kein aber! Gringo ist Gringo! Da macht man hierzulande keinen Unterschied! – Und wohin geht die Reise?«

»Nach – nach Norden. Vorerst nach Tupiza.«

»Ha, da will ich auch gerade hin! Reisen wir morgen zusammen. Vamos compagnero, vamos compagnero! Du sollst froh sein, daß du einen Begleiter gefunden hast für die lange Reise,« fuhr er fort, nachdem er beobachtet hatte, mit wie wenig Begeisterung ich seinen Vorschlag aufgenommen hatte, »und dazu noch einen vollkommenen Caballero! – Antonio Baldini ist mein Name. (Dies mit einer königlichen Verbeugung.) – Don Cesar Antonio Baldini! Ingenieur von Beruf. Ich spreche zehn Sprachen. Ingles, Frances, Tedesco das ist bei mir alles ein und dasselbe. Klaviervirtuose bin ich auch. Und Sänger –«

Sicherlich hätte er die Reihe der Fähigkeiten noch weiter fortgesetzt, wenn nicht ein neben dem Feuer liegender dunkelhäutiger Indianer rebellisch geworden wäre und etwas von einem Cuchillo gemurmelt hätte, mit dem er dem Gringo den Garaus machen würde, wenn er sich etwa einfallen ließe, etwas von seinen Gesangkünsten zum besten zu geben.

Das hatte eine entschieden besänftigende Wirkung auf den Redestrom des Italieners, aber wie ich schon in meinen Poncho eingewickelt in einer Ecke des Raumes lag, hörte ich noch mit halbwachen Ohren, wie er in seinem sonderbaren Mischmasch von Spanisch und Italienisch seine Vorzüge als Reisebegleiter auseinandersetzte und hinter jedem neuen Argument den aufmunternden Nachsatz: »Vamos compagnero! Vamos compagnero!« Erst ganz allmählich versiegte seine Beredsamkeit, und nur das eintönige Gebetsmurmeln der anderen war noch zu vernehmen; denn die Leute sind fromm in Bolivien. –

Es war noch früh am Tage, und die flimmernde Pracht des südlichen Sternenhimmels leuchtete noch über der Pampa, als ich die Weiterreise antrat. Leise hatte ich mich davongemacht, damit Don Cesar Antonio Baldini ja nichts davon gewahr wurde.

Bei Tagesanbruch hatte ich schon zwei spanische Meilen zurückgelegt, denn es war ein frostiger Morgen, und man mußte ordentlich ausschreiten, um die steifen Glieder zu erwärmen. Als aber das erste Tageslicht über den östlichen Himmel huschte und dann die warme Sonne sich in Millionen von Tautropfen an den dürren Gräsern der Steppe spiegelte, da wurde es lebendig in mir vor Reiselust. Mir fiel auf einmal ein altes Liedlein ein, das ich längst schon vergessen hatte:

Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt,
Dem will er seine Wunder weisen
In Flur und Wald, in Strom und Feld.

Während ich noch diesen angenehmen Betrachtungen nachhing, vernahm ich plötzlich hinter mir eine gewaltige Stimme, die sich inmitten der schweigenden Wildnis beinahe geisterhaft anhörte: »Vamos compagnero!« Mich überlief es mit einer Gänsehaut – der Italiener? Wahrhaftig, da kam er mit Riesenschritten hinter mir her. Mit den langen Armen zog er beschwörende Kreise, und einmal ums andere wiederholte er mit dröhnender Stimme: »Espere un momentito! Vamos compagnero, vamos compagnero!«

Und wie sah er aus! War er mir schon in der Hütte, beim schwachen Schein des Feuers wenig vertrauenerweckend erschienen, so machte er jetzt im mitleidslosen Tageslicht einen geradezu unheimlichen Eindruck. Die phantastischsten Vagabundenbilder der Fliegenden Blätter, ja nicht einmal Happy Hooligan, Gloomy Gus und Weary Willy, die drei grotesken Trampfiguren amerikanischer Sonntagszeitungen würden ausreichen, um ein solches Bild der Verkommenheit zu malen. Keinerlei Gepäck, nicht einmal einen Poncho trug er mit sich. Vielleicht als einziges trauriges Überbleibsel aus besserer Zeit trug er einen steifen Hut, dessen eine Hälfte den Flammen irgendeines Lagerfeuers zum Opfer gefallen war. Die Blöße des Körpers war nur bedeckt mit einem verschossenen, grünlich schillernden Anzug, der in Ermangelung der Knöpfe mit einer Schnur um den Leib gebunden war. Das aufgedunsene Gesicht mit dem struppigen schwarzen Stoppelbart sah aus, als ob es seit Monaten kein Wasser und keine Seife mehr gesehen hätte. »Vamos compagnero!« keuchte er atemlos, als er mich eingeholt hatte.

»Such dir den Teufel zum Compagnero,« antwortete ich ungnädig.

»Ich bin Ingenieur!«

»Ein Kamel bist du.«

»Ich spreche zehn Sprachen: Ingles, Frances, Tedesco – –«

»Wenn du aber jetzt nicht machst, daß du fortkommst –« Doch er war nicht abzuschütteln. Selbst als ich wütend auf ihn losging und ihn mit einer Auswahl von Attributen bedachte, unter denen das Kamel und das Rhinozeros noch die zahmsten waren, verzog er sein Gesicht nur zu einem mitleidigen Grinsen und schaute mich mit gläsernen Augen an. Diese Augen! An ihrem flackernden, unsteten Licht konnte ich sehen, daß ich es mit einem Irrsinnigen zu tun hatte.

Mir wurde unbehaglich zumute. Mit großen Schritten eilte ich die Landstraße entlang, um den unheimlichen Reisegefährten loszuwerden. Aber Don Cesar Antonio Baldini hatte längere Beine als ich und verfolgte mich während des ganzen Morgens wie mein eigener Schatten.

Gegen Mittag, als die Sonne vom Zenit herunterbrannte, als die vorüberziehenden Karawanen den Sand der Straße zu Staubwolken aufwirbelten und es aussah, als ob die eintönige Steppe kein Ende nehmen wollte, da tat sich ganz unvermittelt ein Landschaftbild vor mir auf, das an verblüffendem Szenenwechsel seinesgleichen sucht. Schroff und unvermittelt bricht das Hochland ab und führt einen steilen Abhang hinab in ein wohl tausend Meter tiefer liegendes Tal, in dessen Grunde zwischen Maisfeldern und Obstbäumen ein breiter Fluß wie ein Silberband dahinzieht. Auf der anderen Seite des Tals, gegen Norden, steigt das Land zu gewaltigen Bergen in blauer, dunstiger Ferne an, wo da und dort eine weiße Schneekuppe aufleuchtet. Bei diesem Anblick lachte mir das Herz vor Freude. Das war Bolivien! Das richtige Bolivien, so wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Dort drunten im Tal lag Tupiza, dort hinten über dem nördlichen Horizont die Schneekuppe, das war die Sierra Santa Barbara, und dahinter – ja, da lag Uyuni, an der Eisenbahn nach Antofagasta! Alles sah man vor sich, wie auf einer Landkarte.

Von nun an führte der Weg in langen Windungen bergab, durch einen Buschwald, aus dem da und dort eine Bast- oder Lehmhütte der Indianer hervorschaute, umgeben von einem kleinen Maisfeld, in dem die Schweine und die kleinen Kinder wühlten und dürre, halbgerupfte Hühner nach vergessenen Maiskörnern suchten. Da der männliche Teil der Bevölkerung meist fern der Heimat als Karawanenführer auf der Landstraße weilt, sah man fast nur Frauen und Kinder, die in halbwachem Zustand vor der Tür der Hütte hindämmerten und die Zeit mit Tschitschatrinken und Kokakauen totschlugen. Das Tschitscha ist das Nationalgetränk im Westen Südamerikas. In Chile wird es aus Trauben hergestellt und schmeckt nicht übel. Die Bolivianer aber, denen eine rauhe Heimat die Trauben zu hoch gehängt hat, verwenden Mais zur Herstellung. Solches Maistschitscha schmeckt abscheulich. Das Nationallaster des bolivianischen Indianers ist jedoch das Kauen der Koka, einer gewissen Sorte zäher, dunkelgrüner Blätter, ähnlich denjenigen des australischen Gummibaums. Es ist schwer einzusehen, worin der Genuß besteht, denn das Zeug schmeckt ungemein bitter. Außerdem ist es gesundheitsgefährlichDas Kokablatt enthält das Kokain.. Von Leuten, die einen Einblick in die Verhältnisse haben, hörte ich später oftmals die Ansicht, daß das Koka noch die ganze Rasse zugrunde richten wird, denn ein jeder Indianer jener Gegenden ist ein Sklave dieses Krauts. Neun Zehntel seines sauer erworbenen Verdienstes setzt er in Koka um. Und wenn auch die Zeiten schlecht sind, wenn er keinen Hut mehr auf dem Kopfe und keine Schuhe mehr an den Füßen hat, wenn es keinen Mais, kein Mehl und kein Hammelfleisch mehr gibt, und wenn kein Öl mehr im Kruge ist – so lange noch Koka im Hause ist, hat's keine Not.

Gegen Abend langte ich unten im Tal am Ufer des Flusses an. Er stellte sich als ein größeres Hindernis heraus, als es von oben den Anschein hatte, denn er war breit und tief. Brücken gab es nicht, und bei der Geschwindigkeit, mit der die gelben Fluten talabwärts schossen, war an ein Durchschwimmen auch nicht zu denken. Aufs Geratewohl versuchte ich es mit dem Durchwaten, was mir auch tatsächlich schon aufs erstemal gelang, obwohl mir das Wasser stellenweise bis zum Mund reichte. Schlimmer erging es meinem Compagnero. Mehrmals versuchte er vorsichtig seinen Weg durch eine ihm günstig scheinende Stelle zu tasten, aber jedesmal, wenn sein Körper mit dem ungewohnten Wasser in Berührung kam, zitterte er am ganzen Leib und sein aufgedunsenes Gesicht wurde aschfahl. Einmal rannte er mit einem verzweifelten Vorstoß mitten in den Fluß hinein, und die Strömung begann ihn mit sich fortzureißen. Er machte die verzweifeltsten Anstrengungen, um sich wieder ans Ufer zu retten, und seine Hilferufe waren so laut, daß zwei Lamas, die am Ufer weideten, mit entsetzten Sprüngen davonjagten. Das letzte, was ich von ihm gesehen habe, war ein triefendes Bündel Lumpen, das weiter unterhalb am jenseitigen Ufer an Land gekrochen kam.

Mit beruhigtem Gewissen setzte ich meine Reise fort bis zu dem etwas weiter oberhalb des Flusses gelegenen Dorf Suipacha, wo ich zu meiner Freude eine richtiggehende Fonda ausfindig machte, denn nach den vorhergegangenen Erfahrungen gelüstete mich nicht nach einer weiteren Nacht im Tambo. Die Besitzerin der Fonda, eine waschechte Spanierin, war sehr froh, einmal wieder einen Gringo zu bewirten, und sie erzählte mir allerlei Merkwürdiges über Land und Leute, während sie das Puchero kochte und die Flasche Rotwein auf den wachstuchüberzogenen Tisch stellte.

»Von La Quiaca kommen Sie?« fragte sie erstaunt, »und von Tucuman? Und von Buenos Aires geradewegs hierher nach Suipacha? Madre dios, auf was für merkwürdige Ideen doch die Alemanos kommen!«

Ich wollte ihr auseinandersetzen, daß ich ja gar nicht die Absicht hatte, in Suipacha zu bleiben, daß ich über die Berge nach Chile wollte, aber da wurde die alte Frau plötzlich sehr ernst, und Tränen traten ihr in die Augen.

»Chile!« sagte sie mit tiefem Seufzer, »ich mag nichts von Chile hören. Es ist ein wüstes, häßliches Land, und alle Chilenos sind Spitzbuben. Einmal ist so ein Chilene hier ins Dorf gekommen und hat mit seiner losen Zunge den Leuten das Blaue vom Himmel heruntergeredet von dem vielen Geld, das man dort drüben in den Salpeterbergwerken verdienen kann. Viele haben sich beschwatzen lassen und sind mit ihm gegangen, und man hat seither nichts mehr von ihnen gehört. Und meine beiden Jungen hat er auch mitgenommen. Das war gerade etwa um diese Zeit – sollte man glauben, daß es erst ein Jahr her ist?«

»Wenn ich drüben bin, kann ich sie ja einmal besuchen,« erwiderte ich, nur um etwas gesagt zu haben. Aber da hatte ich etwas Schönes angerichtet. »Ja, das wäre eine Idee,« rief sie freudig. Und dann erzählte sie mir all ihr großes Leid und trug mir Grüße auf an die beiden, etwa so, wie eine besorgte deutsche Mutter einem Kamerunreisenden Grüße aufzutragen pflegt an ihren Sohn in Kapstadt, in Kairo oder in Swakopmund, nur weil es auch dort drinnen in Afrika liegt. Einen ganzen Brief diktierte sie mir, den ich zur Beruhigung ihres geängsteten Gemüts mit einem Bleistiftende auf lose Notizblätter schrieb. Wirre, zusammenhanglose Sätze, die ebensogut ungeschrieben geblieben wären. Jose sollte aufpassen, daß er nicht nasse Füße bekäme, und Jago sollte sich nicht etwa das Kokakauen angewöhnen wie diese abscheulichen Indianer. Lauter Krimskrams und Kleinigkeiten, aus denen kein Mensch klug wurde und hinter denen doch so viel Kummer und Sorge und eine so große Liebe steckte.

Lange habe ich diese Zettel in der Tasche herumgetragen, bis sie mir Monate später, als ich längst schon drunten in Chile weilte, ganz zufällig zu Gesicht kamen. Wahrhaftig, der Zufall geht manchmal merkwürdige Wege! Es war ja die Adresse der Mine, auf der ich gerade selbst beschäftigt war! Da habe ich denn die beiden aufgesucht und ihnen den Brief vorgelesen. Die Freude der armen Jungen war nicht zu beschreiben. Jago, der ein temperamentvoller junger Mann war, erklärte, er würde dem Capataz den Hals umdrehen, wenn man nicht bald seinen Vertrag rückgängig machen würde, und Jose nahm die zerknitterten Zettel, glättete sie fein säuberlich und küßte sie, wie er das Kruzifix an der Wand zu küssen pflegte. Dann malte er mit ungelenker Hand ein Kreuz darauf und verstaute sie tief unten in seinem Zeugsack, dort wo er die Heiligenbilder aufzubewahren pflegte.

Als der Aufseher am nächsten Morgen den Namen Jose Gonzales aufrief, antwortete niemand. Er war fortgelaufen nach Bolivien.

Und warum das alles? Hätte Jose schreiben und seine Mutter lesen können, so wäre beiden viel Kummer und Not erspart geblieben. Aber mit der südamerikanischen Schulbildung ist es noch niemals weit her gewesen. Für andere Dinge hat man mehr Interesse. Politiker sind sie alle. Jeder Gassenbube hat seine Parteizugehörigkeit und jede noch so kleine Señorita schwärmt für irgendeinen der politischen Gaukelspieler, die das Publikum mit großen Worten füttern: »Libertad

Da bleibt natürlich wenig Zeit für solch hausbackene Künste wie Lesen und Schreiben. –

Wohlversorgt mit tausend guten Ratschlägen, die mir die vortreffliche Frau Gonzales mit auf den Weg gab, machte ich mich am nächsten Morgen auf die Reise nach Tupiza. Als das Dorf schon hinter mir lag, und ich eben an dem etwas abseits liegenden Tambo vorüberkam – da ertönte von drinnen eine nur allzu wohlbekannte Stimme: »Vamos compagnero!«

Und schon kam Don Cesar Antonio Baldini herausgestürzt und sang mir in seinem italienisch-spanischen Kauderwelsch das ganze Lied von gestern noch einmal vor. Daß er ein Klaviervirtuose sei und zehn Sprachen spreche. Ingles, Frances, Tedesco . . . Wieder fing ich an zu fluchen und zu protestieren, und wieder hatte er als Antwort nur das blöde Grinsen. Wieder verfolgte er mich wie das böse Gewissen, während der Weg durch das enge, wildromantische Tal flußaufwärts führte, bis dieses zu einem gewaltigen Felsentor zusammenschrumpfte, dessen mächtige Pfeiler senkrecht emporragten bis zu einer Höhe von über hundert Metern, wo sie sich beinahe zu berühren schienen. Dicht hinter diesem Tor öffnet sich das Tal zu einem weiten Kessel, in dem, fern von Eisenbahn und Telegraph, die Stadt Tupiza liegt.

In der Mittagshitze erreichte ich die engen Gassen der Stadt. Sie war eine Überraschung wie alles, was ich bisher in jenen Gegenden gesehen hatte. In La Quiaca hatte ich eine Stadt erwartet und dafür ein elendes Nest von Lehmhütten gefunden, und hier, wo ich bei allem Optimismus nichts Besseres vermuten konnte als eine Miniaturausgabe von La Quiaca, zeigte sich eine richtige Stadt mit einer Plaza, einer Kathedrale und allem anderen Zubehör. Ringsum schauten zwar die kahlen Berge herab, aber entlang des Flußtals breiteten sich die schönsten Gärten mit stolzen Pfirsich- und Kastanienbäumen, die ihre breiten Äste über die Gartenmauern reckten. Niedrige, weißgetünchte Häuser mit flachen Dächern und vergitterten Fenstern umsäumten die Gassen. An den Häusern der Reichen und Vornehmen war das eiserne Tor, das nach dem Patio führt, zumeist fest verschlossen, und von drinnen hörte man ganz leise die eintönige, schwermütige Melodie irgendeines spanischen Cantante. Es war ganz die verschlafene Atmosphäre einer spanischen Kleinstadt.

Die Geschichtsforscher haben im allgemeinen keine gute Meinung von den kolonisatorischen Fähigkeiten der Spanier. Man denkt da gleich an Gewaltmenschen wie Cortez und Pizarro und sieht in jedem spanischen Beamten oder Soldaten ein kleines Ungeheuer, das nur danach trachtet, mit möglichster Beschleunigung seine Taschen zu füllen; oder allenfalls einen fanatischen Klosterbruder, der die Wilden nach Art des Eulenspiegel bekehrt. Wer aber einmal sehen will, wie dieses Volk es, wie kein zweites, verstanden hat, seine Heimat mit all den großen und kleinen Dingen, die ihm lieb sind, in ein fremdes Land zu verpflanzen, der gehe nach Tupiza oder nach irgendeiner anderen jener weltverlassenen Städte, die, fern von der Eisenbahn, im innersten Südamerika ihre Tage verträumen.

Ja, hier unter den hohen Bäumen der weiten Plaza ist man noch in der guten alten Zeit. Gerade so ein Tag wie heute muß es gewesen sein, damals vor hundert Jahren, als der wilde Bolivar über die Berge kam und dort vor dem »Almacen«, den Lamas, den Mulas und den Muleros die Freiheit verkündete, mit der sie so wenig anzufangen wußten. Die stolze, zweitürmige Kathedrale in fanatischem Jesuitenstil hat jedenfalls auch schon gestanden, und die alten Damen, die jetzt in die Mantilla gehüllt die hohe Freitreppe hinan dem Orgelton entgegeneilen, der durch das offene Portal ins Freie dringt – sie hätten auch ganz gut ins Bild gepaßt. Und das Glöcklein auf dem kleinen Turm des nahen Klosters! Mir scheint, als ob es vor hundert Jahren schon gerade so eintönig gebimmelt hätte wie heute, und als ob es damit ohne Unterbrechung fortfahren wollte bis zum Tage des Jüngsten Gerichts.

Neben der Kathedrale befindet sich das Zollgebäude; ein stattlicher Bau neueren Datums, von dessen Dach die rotgelbgrüne Fahne Boliviens weht und vor dessen Hauptportal eine Wache aufgezogen ist. Denn Tupiza ist Garnisonsstadt. Sie sind ein Studium für sich, diese bolivianischen Soldaten. Zweifellos sind sie tapfer und todesverachtend. Der mit der Heranbildung der bolivianischen Armee betraute deutsche Major soll sogar geäußert haben, daß er sich für einen tüchtigen Soldaten kein besseres Rohmaterial wünsche, als einen richtigen Boliviano. Aber bis jetzt scheint man noch nicht viel darüber hinausgekommen zu sein. So wie man sie heute sehen kann, macht die ganze Gesellschaft einen etwas operettenhaften Eindruck. Namentlich die Uniformierung läßt an Buntscheckigkeit nichts zu wünschen übrig. Im allgemeinen ist sie von französischem Schnitt, mit weiter capote und martialischem Käppi. Doch das Käppi ist durchaus nicht immer notwendig. Wer einen Strohhut besitzt, findet es schön und elegant, seine uniformierte Gestalt damit zu krönen. Daneben findet man aber auch englische Mützen und breitkrempige Sombreros von unmöglicher Form. Schuhe sind in allen Preislagen vertreten, von den eleganten Lackschuhen bis zu den Segeltuchpantoffeln, die man in Argentinien Zapatillos nennt. Wer sich auch diesen Luxus nicht leisten kann, der darf barfuß gehen, ohne gegen die Dienstvorschrift zu verstoßen. Seit kurzem war eine deutsche Militärmission ins Land gekommen, um diesem paradiesischen Zustand ein Ende zu machen. Doch schienen die Schwierigkeiten für unsere Landsleute sehr groß zu sein, da sie von den im Rang höher stehenden eingeborenen Offizieren mit scheelen Augen angesehen wurden. Bei den letzten Manövern soll es sogar zu einem offenen Zwiespalt gekommen sein, und es hätte nicht viel gefehlt und aus dem Manöver wäre bitterer Ernst geworden. So wenigstens berichtete mir ein Engländer. Aber wo in der weiten Welt wäre eine deutsche Militärmission, der ein Engländer etwas Gutes nachsagen würde?

Während ich noch, in die Betrachtung dieser Dinge versunken, auf einer Bank unter den Bäumen neben der Statue des Kupferkönigs Aramayo saß, hatte ich ein kleines Erlebnis, von dem ich hier nur mit Zagen berichte, weil ich befürchten muß, bei dem »geneigten Leser« in den Geruch eines Münchhausen zu geraten. Ich fände das sogar verständlich, denn wenn ein anderer mir diese Geschichte erzählen würde – – aber sie hat sich dennoch wirklich und wahrhaftig so zugetragen, wie ich hier als getreuer Chronist berichte:

Über die flachen Dächer der benachbarten Häuser – wahrlich, Bolivien ist das Land der Wunder! – kam ruhig und majestätisch ein schwarzer Vogel von gewaltigem Umfang herangeschwebt. Mit der größten Sicherheit und Selbstverständlichkeit, als ob das so sein müßte, ließ er sich auf der Plaza nieder und wetzte seinen gewaltigen Raubtierschnabel an den Denkmalstufen. Um das Maß des Erstaunens voll zu machen, hüpfte er noch näher herbei und hockte sich dicht neben mir auf die Bank. Keine Spur von Menschenscheu war bei ihm zu bemerken. Er ließ sich streicheln und füttern und von den Vorübergehenden necken und mit Fußtritten mißhandeln; und war doch kein anderer, als Seine Majestät der Kondor. Der Kondor – das wußte ich von der Schule her – ist der größte der Raubvögel. Er klaftert so und so viele Meter. Immer hatte ich mir ihn einsam schwebend vorgestellt, in unnahbarer Majestät über den höchsten Schneegipfeln der Anden, ihn den König der Vogelwelt. Aber so –

Das alles klingt, wie gesagt, wie die Münchhausiade eines phantasiebegabten Weltenbummlers, aber für einen, der längere Zeit in den Anden gelebt hat, ist es ein alltägliches Ereignis. Die Zähmung eines Kondor ist keineswegs das Non plus ultra der Tierzucht, denn er ist von Natur schon zahm und zutraulich, wohl deshalb, weil er bei seinem gewaltigen Körperumfang von der Jagdbeute allein nicht satt werden kann und auf die Brocken angewiesen ist, die ihm die Menschen zuwerfen und auf die hors d'oeuvres, die in den Mülleimern zu finden sind.

Es wird indes höchste Zeit, daß ich den Faden meines Garns wieder aufnehme. –

Man lernt niemals aus. Wer hätte hinter dem abgerissenen, idiotenhaften italienischen Vagabunden einen verhältnismäßig wohlhabenden und – in seiner Art – einen gerissenen Geschäftsmann vermutet? Aber so war es, wie ich bald zu meiner nicht geringen Bestürzung erfahren mußte.

Kaum waren wir bei den ersten Häusern der Stadt angelangt, als er plötzlich spurlos verschwunden war. Schon hoffte ich, daß er sich auf Nimmerwiedersehen empfohlen hätte, als er spät abends im Tambo erschien, in dem ich übernachtete. Fast erkannte ich ihn nicht wieder. Er war ganz Geschäftsmann geworden. In seinen stumpfen Augen leuchtete es wie Triumph, während er mir an Hand eines zerknitterten, mit wunderlichen Hieroglyphen bemalten Papiers seinen Schlachtplan entwickelte. Es war offenbar ein behelfsmäßiges Adreßbuch von Tupiza.

»Den Pfaffen,« erklärte er mir, »den werde ich mir kaufen. Er ist ein Italiener, und wenn ich ihm sage, daß ich aus Mailand komme und kein Wort Spanisch spreche, dann ist er wohl gut für einen Boliviano und ein Mittagessen im Kloster. – Mit dem Bürgermeister ist nichts zu wollen, er ist ein ›Hiesiger‹. – Der Besitzer des Almacen an der Plaza ist ein Neapolitaner. Die sind immer geizig; aber wenn ich ihm sage, daß ich eine Frau und sieben Kinder habe – –. Der Apotheker ist ein Deutscher. Mit dem kannst du dein Glück versuchen. Dann wäre noch die »Santa Barbara Zinnminengesellschaft«. Es sind Engländer. Wenn du dich bei denen als Ingenieur vorstellst, bezahlen sie dir die Reise und noch zehn Pesos Zehrgeld.«

»Was? Du hast keine Lust?« fuhr er fort, als er merkte, wie wenig bereitwillig ich auf seinen Vorschlag einging. »Du glaubst wohl, daß ich mich nicht verstehe aufs Geschäft?« Dabei schaute er sich vorsichtig im Kreise um und holte aus der Tiefe seines zerlumpten Anzugs einen fettglänzenden Beutel hervor. Ja, es war kein Zweifel! Es war Gold! Ein halbes Dutzend echt englische Pfundstücke, an denen seine Augen mit irrsinnigem Glanze hingen! Und was war das? Ein Hinterlegungsschein von zweitausendfünfhundert Bolivianos auf der Bank von Uyuni!

Sorgfältig verpackte er den Schatz wieder in dem schmutzigen Beutel. Dann lachte er leise vor sich hin und verschwand lautlos aus der Tür. Ich habe ihn nie wieder gesehen . . . Damals habe ich den Menschen gehaßt und verachtet und ich mochte nicht mehr an ihn denken. Aber heute, wo ich wieder von diesen Ereignissen erzähle, da kommt es mir so vor, als ob man ihn nicht ganz verurteilen dürfte. Warum sammelte er das Gold? Tat er es aus Ehrgeiz und Machthunger? Tat er es, um andere zu betrügen? Tat er es um der Vorteile willen, die er davon haben konnte? Nein – er tat es aus reiner Lust am Sammeln, so wie andere Käfer, Schmetterlinge oder seltene Briefmarken sammeln. Aber er tat es auch aus Trotz gegen seine Mitmenschen, die ihn verachteten und verspotteten wegen seines verwirrten Verstandes. Darum ertrug er auch willig die namenlosen Entbehrungen seiner zwecklosen Wanderungen und das Gespött der Menschen. Zuweilen wird er heimlich an den Beutel mit den Pfundstücken gefaßt haben: »Ja, lacht nur, ihr einfältigen Menschen! Spottet meinetwegen, so viel ihr wollt! Wenn ihr wüßtet, was ich weiß! Dort drüben in der Bank von Uyuni . . .«

Als ich am nächsten Morgen weiterreiste, gratulierte ich mir selber, daß ich den unheimlichen Gesellen losgeworden war. Mehrmals mußte ich mich allerdings umsehen, ob er mir am Ende nicht doch noch nachkäme, denn noch lange konnte ich ihn nicht aus dem Sinn bekommen. Ja, selbst noch heute, nach vielen Jahren, erscheint er mir manchmal im Geist und es gehört zu meinen schlimmsten Träumen, wenn ich nachts den Wind über der Pampa singen höre und dazu die dröhnende Stimme des Don Cesar Antonio Baldini mir in den Ohren klingt: »Vamos compagnero! vamos compagnero!«

 


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