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Inzwischen hatten Lulu Behn und Beuthien aus der Annäherung auf dem Ottensener Tanzboden Veranlassung zu wachsender Vertraulichkeit genommen.
Lulus Angst, ihr Abenteuer möchte durch irgend einen Zufall ihrer Familie verraten werden, wurde bald eingeschläfert. Lange Nachgedanken und ängstliche Sorgen lagen überhaupt nicht in ihrer Natur.
Und wie viel größere Heimlichkeiten hatte sie jetzt zu bewahren.
Beuthien bereitete es eine prickelnde Genugtuung, die Jugendfreundin, das Pensionsfräulein, die vornehme Hausbesitzerstochter, zu sich herab zu ziehen. Aber auch ihre Person ließ ihn nicht kalt. War er auch nicht verliebt, so war sie ihm doch eine willkommene Abwechselung, einmal etwas anderes und besseres als Stine und Mine.
Und im Hintergrund stand bei ihm auch die Überlegung; wer weiß, wie es kommt. Zuletzt war sie doch immer keine schlechte Partie.
Freilich, es war höchst unwahrscheinlich, daß der alte Behn sie ihm jemals geben würde.
Doch er dachte ja auch nicht eigentlich ans Heiraten, ging nicht darauf aus.
Lulu aber war ganz Leidenschaft. Mit geschlossenen Augen folgte sie ihrer Neigung für den ehemaligen Spielkameraden. Es war, als ob ihre gewöhnliche Natur sich für die Verbildung, für die aufgedrungene Überfeinerung rächen wollte.
Leichter, als die erste Wiederannäherung, war die Fortsetzung des Verkehrs zwischen den beiden. Lulu, unbeschränkt in ihrem Thun und Lassen, Herrin ihrer Zeit, konnte den Geliebten treffen, wann und wo er bestimmte.
Traf sie ihn unterwegs, und seine Droschke war unbesetzt, so stieg sie ein, und er fuhr sie auf Umwegen spazieren. Dehnte sich die Fahrt zu lange aus, so daß er über die Zeit seinem Vater Rechenschaft ablegen und den Fuhrlohn abliefern mußte, so konnte sie unbedenklich von ihrem nicht kärglich bemessenen Taschengelde opfern. So ermöglichten sie, da auch er in nötigen Fällen nicht mit dem Gelde zurückhielt, gelegentlich weitere Ausfahrten, wo sie zwischen der aristokratischen Abgeschiedenheit parkumgebener Villen, oder auf einsamen Landstraßen in schon ländlicher Gegend sich sicher fühlten.
Lulus ruhige, träge Natur kam ihr zu Hilfe bei der Aufgabe, zu Hause jeden Verdacht nieder zu halten.
Sie war nicht leicht aus ihrer täglichen Art und Weise zu bringen. Zu statten kam ihr das Gebot des Arztes, der dem häufig an Kopfschmerzen leidenden, verwöhnten Mädchen, das sich in den Jahren seiner größten Entwickelung viel zu wenig Körperbewegung machte, tägliches, womöglich mehrstündiges Spazierengehen empfohlen hatte.
So setzten denn die Eltern den lebhafteren Glanz der Augen, die schnellere Beweglichkeit der immer von einer inneren Unruhe geplagten Tochter als wohlthätige Wirkung auf Rechnung dieser Spaziergänge, ohne zu ahnen, wie sehr sie, wenn auch im andern Sinne, recht hatten.
Schuldbewußt, jeden Anlaß zur Entzweiung vermeidend, ward Lulu auch in ihrem Benehmen gegen die Mutter und Paula freundlicher, zuvorkommender, nachgiebiger.
Anna, die seit jener thätlichen Zurechtweisung einen versteckten Krieg gegen Lulu geführt hatte, war plötzlich entlassen worden.
»Wegen unmoralischen Lebenswandels,« sagten die Damen der Nachbarschaft.
»Se is rinfull'n,« hieß es bei den Kolleginnen der Gekündigten.
Die offizielle Behnsche Erklärung aber lautete. »Sie hat sich mit meiner Tochter nicht vertragen können.«
Minna, die Nachfolgerin, ein kleines unbedeutendes Mädchen vom Lande, kam für Lulu nicht in Frage. Ihrer Autorität konnte von der Seite kein Angriff drohen.
Die Hauptsache für sie war, sich die Schwester gut gesinnt zu erhalten.
Paulas Vertraulichkeit mit ihrem alten Tänzer hatte keine Abnahme erfahren, zur Belustigung Beuthiens, der an dem Mädchen eine willkommene Handhabe hatte, sich Lulu in allem gefügiger zu machen.
»Ich sag's Paula,« drohte er, und ängstlich gab sie nach.
Paula, deren ganzes Trachten es war, nur ein einziges Mal wieder tanzen zu können, hatte schließlich Mut gefaßt und sich an einem unbewachten Sonntagabend davon gestohlen, ohne Hut und Jacke, um sich auf dem Holsteinischen Baum unter die Zuschauer im Tanzsaal zu mischen, in der Hoffnung, Beuthien dort zu treffen.
Diesen hatte sie nun nicht dort gefunden, wohl aber Bernhard Prüßnitz, der mit einem älteren Bruder, einem Sattlerlehrling, anwesend war.
Der Erkennung war eine hastige Begrüßung gefolgt.
»Ach, tanz mal mit mir,« bat Paula.
»Kostet das was?«
»Ich habe zwanzig Pfennige, hier.«
Sie steckte ihm das Geld zu, und dann stürzten sie sich unter die Tanzenden, mit klopfenden Herzen und heißen Wangen.
»Du kannst ja nicht,« wollte sie ihn anfahren, denn er hüpfte wie ein junger Hahn und stieß sie gegen die Knie. Aber sie besann sich. Wenn er sie stehen ließ, wer tanzte dann mit ihr? Besser hopsen, als gar nicht tanzen.
Gerade wollte sie zum zweiten Mal mit ihm antreten, als sie jemand heftig am Ellbogen zerrte.
»Paula, Deern, dat segg ich Din Vadder.«
Es war Minna, die auf der Suche nach der Vermißten von dem untrüglichen Instinkt einer gleichgestimmten Seele den Flüchtling sofort hier vermutet hatte.
Durch Minna, die auf Paulas Bitten und Drohen furchtsam log, was das größere, ihr überlegene Mädchen ihr einschärfte, kam es nun zwar nicht an den Tag, aber auf irgend eine für Paula unbegreifliche und nie aufgeklärte Weise erfuhr Vater Behn von der heimlichen Belustigung seiner Jüngsten, und zwei gewaltige Maulschellen waren die Anerkennung ihres frühzeitigen Unternehmungsgeistes.
Paula, wütend auf den unbekannten Verräter, bezichtigte unter zwanzig anderen auch Lulu der Schändlichkeit, sie »verklatscht« zu haben. Diese, der Paulas Maulschellen einen Vorgeschmack gaben von dem, was ihrer im Entdeckungsfalle warten würde, schwur Stein und Bein, unschuldig zu sein, bemitleidete die Schwester und fand die ganze Geschichte überhaupt nur halb so schlimm, »aber Papa is ja nu mal so heftig.«
Mutter Behn wunderte sich, wie gut sich die Kinder jetzt vertrugen. »Se ward ja ok ümmer öller und verstänniger«, meinte sie.