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Donia aber kam nicht gleich angelaufen; ihre Scheu war zu groß. Dagegen nahm Herr Purtaller die Stunde am nächsten Tage wieder auf und war sanft und schonend gegen Max. Nach der französischen Stunde erschien Hanna, von Herrn Purtaller mit einer Verbeugung begrüßt; er nannte sie Fräulein Hanna und war von ausgesuchter Liebenswürdigkeit, hinter der sich eine leichte Verlegenheit zu verbergen schien. Hanna war in der Schule vom Englischen dispensiert worden, weil ihr das Französische schon genug Schwierigkeiten machte. Nun wollte sie sich von Herrn Purtaller vorbereiten lassen, um nicht in den höheren Klassen hinter ihren Mitschülerinnen zurückzubleiben.
Herr Purtaller begann mit der ersten Seite des Buches und bemühte sich, Hanna die Aussprache klar zu machen. Es ging überraschend leicht, und Hanna schien die Schwierigkeiten der englischen Aussprache spielend zu überwinden. Wie Herr Purtaller es ihr vorsprach, sprach sie es nach, und er war immer zufrieden. Es war übrigens nicht schwer, es so zu machen, wie Herr Purtaller es vormachte. Er besaß eine große Gabe, alles recht deutlich vorzumachen. Er legte seine Zunge lose zwischen die Vorderzähne, und ließ Hanna die rosige Spitze seiner Zunge so lange ansehen, bis sie die ihrige auf dieselbe Weise zwischen die Zähne brachte. Und dann zischten sie gegeneinander an und waren erfreut, wie schön ihnen das th gelang, »weich und stimmhaft«.
Herr Purtaller hatte eine virtuose Zunge. Er riß den Mund auf und ließ Hanna sehen, wie die Spitze dieser Zunge leicht den harten Gaumen berührte; dann ließ er sie vibrieren, während die Luft aus dem Munde entwich, und das schönste R rollte dahin. Viermal machte er es, viermal wiederholte Hanna es und belustigte sich köstlich dabei.
»Englisch ist furchtbar leicht, Mama,« sagte sie nachher zu Frau Köpke, »soll ich dir mal etwas vorlesen?«
»Jetzt nicht, mein Kind, nachher.«
Nachher aber war Hannas Eifer verraucht, und sie begnügte sich mit der Versicherung, daß es ihr gar nicht schwer fiele. – –
»Warum kommt Ihre Tochter nicht?« fragte Frau Köpke eines Tages. »Schicken Sie sie doch einmal zu uns.«
»Sie hat so viele häusliche Abhaltung,« entschuldigte Herr Purtaller sie. »Bedenken Sie, sie soll nun alles allein tun.«
»Das arme Kind! Aber es muß sie doch glücklich machen, so für ihren Vater sorgen zu können.«
»Es ist ihr größtes Glück,« sagte Herr Purtaller mit Überzeugung. »Leider nur ihr einzigstes,« setzte er mit Bedauern hinzu.
Das veranlaßte Frau Köpke, ihn noch einmal aufzufordern, Donia doch ja zu schicken.
»Wenn sie auch etwas älter ist, so spielt sie am Ende doch noch mit Hanna.«
Herr Purtaller erklärte, daß Donia sich unendlich freuen würde und versprach, daß sie kommen solle.
Nun mußte Donia ihre Scheu überwinden. Sie kam in einem neuen Kleid, mit einem breiten schwarzen Band in ihren blonden Locken. Die Verlegenheit hatte ihre Wangen gerötet. Sie sah allerliebst aus und roch gar nicht muffig. Frau Köpke empfing sie sehr freundlich, und Hanna begrüßte sie mit einem gezierten Lächeln.
»Wie nett, daß du kommst.«
Im Herzen aber dachte sie: was soll ich nur mit ihr anfangen? Sie zeigte ihr ihre Bücher und ihre Ansichtskarten.
»Zeige Donia doch mal deine neue hübsche Puppe,« sagte Frau Köpke.
Hanna wurde dunkelrot. »Ach,« sagte sie, und machte eine wegwerfende Bewegung. Was würde Donia davon denken, daß sie noch eine Puppe hätte. Die Mutter war auch immer so komisch; sie könnte es doch wissen, daß die Puppe hier nicht am Platze sei. Frau Köpke aber fragte Donia geradezu, ob sie auch noch mit Puppen spiele.
»Aber Mama!« rief Hanna.
Donia verneinte es bescheiden. Sie habe lange keine Puppe gehabt. Ihre letzte – ja, wo sei doch ihre letzte Puppe noch geblieben? Irgendwo in einem Ascheimer war sie verendet.
Donia wurde sehr gesprächig in Erinnerung an diese Puppe; sie beschrieb sie genau, wie sie in ihrem gesunden und in ihrem leidenden Zustand gewesen war, und wußte noch die Anzahl der Kleider, die sie besessen.
»Wie hieß sie?« fragte Hanna.
»Sie hieß Hanna,« erwiderte Donia, ein wenig errötend.
»Das ist doch kein Puppenname,« sagte Hanna mit leiser Entrüstung.
»Wie heißt denn deine Puppe?« erlaubte Donia sich zu fragen.
»Meine heißt Alma. Es ist aber auch eine ganz große Puppe. Sie könnte ebensogut lebendig sein, so groß ist sie.«
Donia machte ungläubige Augen und sagte:
»Ich habe immer nur ganz kleine Puppen gehabt.«
»Das glaube ich,« sagte Hanna, ging ins Nebenzimmer und holte Alma. Sie hielt sie still und triumphierend ihrem Besuch hin. Donia hatte noch nie eine so schöne Puppe gesehen, außer in den Schaufenstern.
»Darf ich?« fragte sie und nahm die Puppe in die Hand.
»Kann sie auch schreien?«
»Nein, es ist ja kein Baby,« belehrte Hanna sie.
»Spielst du noch damit?« fragte Donia.
»Manchmal,« antwortete Hanna wegwerfend. »Aber nur selten. Möchtest du noch mit Puppen spielen?«
»Ach ja, gern!« rief Donia.
Wie dumm mag sie noch sein, dachte Hanna, daß sie noch mit Puppen spielen mag; so alt wie sie schon ist.
»Ich spiele viel lieber Klavier,« sagte sie dann. »Spielst du auch Klavier?«
»Leider nein.«
Hanna ging gleich ans Klavier und schlug den Deckel zurück. Donia legte die Puppe leise auf einen Stuhl und trat zu Hanna.
»Du kannst gewiß schon sehr schön spielen?«
»Sie spielt ja erst seit einem Jahr,« sagte Frau Köpke. »Zeig Donia doch mal, was du kannst, Kind.«
Hanna blätterte in ihrer Klavierschule und spielte endlich: »Lang, lang ist's her.« Sie spielte es ausdruckslos und machte zweimal einen Fehler. Aber Donia hörte andächtig zu, und ihre Augen wurden größer, ihr blasses Gesicht spiegelte eine tiefe Bewegung wider, und plötzlich fing sie an, heftig zu weinen.
Hanna brach ab und starrte sie verwundert an. Frau Köpke aber, in einer plötzlichen Erleuchtung, verstand Donia; sie legte ihren Arm um sie und zog sie an sich.
»Ja, ja,« sagte sie mütterlich, »weine dich nur aus.«
Donia wagte kaum ihr verweintes Gesicht aus der Umarmung wieder aufzurichten, so schämte sie sich vor Hanna. Sie wollte eine Erklärung für ihr Verhalten geben, aber die Tränen erstickten ihre Stimme, und sie konnte nichts weiter hervorbringen als: »Dieses Lied ...«
»Ja, es ist so traurig,« sagte Frau Köpke. »Warum spielst du auch ein so altes trauriges Lied, Hanna! Du kannst doch auch etwas Heiteres.«
Hanna empfand diesen Vorwurf als ungerecht. Wie konnte sie ahnen, daß Donia bei dem langweiligen Lied weinen würde; sie, Hanna, war noch nie davon gerührt gewesen. Sie hatte dieses Lied auch ganz gern, weil es sich so leicht spielte, man konnte sich kaum dabei verzählen: aber gerührt hatte es sie nie. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte; Donias Schmerz war so echt, daß er Eindruck auf sie machte. Sie empfand etwas wie Scheu vor Unverstandenem, Geheimnisvollem. Sie hatte doch etwas die Weichheit ihrer Mutter geerbt und war so aufrichtigen und wahren Tränen gegenüber wehrlos. Sie fühlte eine Rührung in sich aufsteigen, ein Mitgefühl; die Heiligkeit des Schmerzes ließ sie verstummen. Schweigend stand sie am Klavier und sah fast scheu auf Donia.
»Donia kommt mal wieder,« sagte Frau Köpke. »Dann sind wir vergnügt miteinander.«
Donia, ganz beschämt, daß sie diese Szene gemacht hatte, wagte kaum, die Augen zu Hanna zu erheben und ließ sich wie ein Kind vor die Türe bringen.