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»Das Ding sieht fast aus wie ein Walfisch«
Shakespeare: Hamlet
Eine Weile noch stand Guntram Spatt nachdenkend und dankbar am Grabe des toten Vaters. Ihm war es, als habe der Selige ihm in höchster Not den Helfer gesandt, den Hof von den dunklen Mächten zu befreien und das Glück der späteren Geschlechter zu begründen. Mit leisen Worten sprach er seinen Dank und sah noch einmal auf Wasserstrudel, dräuende Felsklüfte, das steinerne Kreuz und die verwelkten Blumen. Dann rieb er das Zauberhaar an der Rechten und schon stieg er, eifrig flatternd, aus dem Dunkel zum Licht. Der weißbestäubte Müller Packan sah gerade aus dem Mühlenfenster und schalt auf den Novemberwind, der gar zu rasend die Flügel umtrieb, daß der ganze hölzerne Bau schlitterte und ächzte, die Mahlgänge sausten, die schweren Steine schrien, und das Seil um den Balken knirschte. »Kannst Du es denn nicht ein wenig gelassener machen, Wind«, schalt er. »Einmal bist Du nicht da, und dann wieder treibst Du es so arg, daß das Korn schneller als eine Schwalbe durch die Mahlgänge fliegt, und mich die Leute tadeln, mein Mehl sei leichter als Wind und mein Brot schmecke wie gebackene liebe Luft. Doch wer soll Vernunft von einem Wind erwarten?!«
Ein starker Sturmstoß wehte wirbelnd wie ein welkes Blatt einen Spatzen herbei. Doch geschickt wußte sich das Kerlchen vom Winde zu lösen, landete schräg über des Müllers Haupt auf einem Balken, plusterte ordnend sein Gefieder auf, strich es glättend mit dem Schnabel und besah frech von der Seite Herrn Müller Packan.
»Du hast mir gerade noch gefehlt«, murrte der. »Suchst wohl ein lockeres Brett, ein Astloch, eine unverschlossene Luke im Mühlenbau, daß Du Dir Deinen Hungerbauch mit meinem schönen Korn zu einem Mönchswanst mästest! Doch daraus wird nichts, Meister Dieb! – Heh, Johann, Andreas, Jakob – wo steckt ihr Tagediebe? Bringt mir die Schleuder, ein Spatz ist da. Ja, sieh mich nur an, Frechling, gleich werde ich Dir mit einem Kiesel die Knochen brechen!«
Doch Guntram wartete die Schleuder nicht ab, das Mahlgut in der Mühle lockte ihn nicht. Doch hatte er im niedrigen Wohnhaus nahebei ein vergittertes Fenster erspäht, von dem ein Spalt offen stand. Ratend, dies sei wohl der Vorratsraum des Müllers, und an seiner rundlichen Gestalt abschätzend, er möge wohl kein Freund der mageren Kost sein, schwirrte er ab. Durch die Mahnungen des listigen Schuhu aber gewitzigt, flog er nicht vor des Müllers Augen in das Fenster, sondern wartete erst in einem Versteck ab, bis dieser unmutig scheltend den Kopf aus der Luke zurückzog: »Immer kommt ihr zu spät, ihr Faulen! Was soll mir jetzt noch die Schleuder, da der Spatz fort ist –?! Auf euch müßte ich die Steine schießen, daß ihr eure Glieder etwas hurtiger regen lernt!«
Krachend flog der Lukendeckel zu, und unbeobachtet konnte Spatt sich in das erhoffte Speisenreich durch den Fensterspalt einzwängen. Oh, wie hüpfte sein Herz, als er da den festlichen Aufmarsch alles erdenklichen Eß- und Trinkbaren sah! In der Mühle nämlich wollte man Tauffest feiern, und seit Tagen schon hatte die Müllerin mit Beihilfe mancher tüchtigen Frau gebraten und gebacken, geschmort und gebrutzelt. Ach, die schön gebräunten Kalbskeulen, die mit Petersilie garnierten Hammelrücken, die gesülzten Schweinsköpfe, schön weiß, mit der feierlichen Zitrone im Maul, die leckeren Hühner, die mit den erhobenen Keulen dem tüchtigen Esser zu präsentieren schienen, die breitbrüstigen Gänse, aus deren locker genähtem Bauch die gedünsteten Apfel drängten! Ach, die lieben guten Kuchen, in irdenen Formen oder auf schwarzen Blechen, mit schönen Ringäpfeln belegt oder mit bräunlichen Backbirnen geschmückt, auf deren Haut der süße Zucker glänzte; die Schüsseln mit sauren Gurken, mit roten Rüben, die Gläser voll duftendem Honig, die Steinkruken mit schwärzlichem Pflaumenmus, die Tönnchen voller Sauerkraut und Pökelfleisch! Wie würzig roch die Luft nach frisch gebackenem Brot, wie stattlich hingen vom Eisenhaken die fünf Finger starken Speckseiten, die Mannes Arm dicken Liesenwürste, die rotbraunschwärzlichen Schinken wie von Urweltsauen!
Dem verhungerten Spatzen lief bei dem köstlichen Anblick das Wasser im Schnabel zusammen, und es war kein Wunder, daß er vor Staunen nicht nur die sofortige Verwandlung vergaß, sondern auch über dem Eßbaren ganz übersah, daß er in diesem Paradies der Schleckermäuler nicht der einzige Eingeschlichene war, sondern daß da noch jemand in der Ecke bei der Sahnenschüssel saß, für den nun wieder er ein sehr wünschenswerter freßbarer Happen war!
Ja, da saß sie, Madame Sachtepot und Leisetritt, felis domestica, die Katz, die Katz! Sie hatte sich an der Müllerin dicker Sahne recht gütlich getan und nun war sie wohl der weichen Milchkost etwas müde geworden und sehnte sich nach frischem Fleisch. Das glühende Auge auf den Eindringling geheftet, saß sie zum Sprunge geduckt da und wartete nur noch, daß der Spatz von der schmalen Fensterbank ein wenig weiter in den Raum hineinhopse.
Der ahnungslose Guntram tats, die Katze sprang, es klirrte und brach, ängstlich piepend flatterte Spatt gegen die Decke, aufgeregt bemüht, das Zauberhaar von der Zehe zu lösen, ohne zu bedenken, welch harten Fall er dann aus der Luft tun würde. Wieder sprang die Katze, wieder klirrte und brach es, im Hause kreischten ein, drei, zehn, nein, schon zehntausend Weiberstimmen schienen zu kreischen ... Neuer Bruch, neues Geklirr und Geklapper, Brechen, Scheppern – das verdammte Haar wollte nicht von der Zehe – jetzt hatte ihn die Katze! Mit beiden Vorderpfoten ihn packend, holte sie ihn zu sich herunter auf den Boden, nahe funkelte ihr grünliches Auge – heiß wehte den Armen, der vor Schreck kein Glied zu rühren vermochte, ihr Atem an.
Doch mit dem Ruf: »De Katt! De Katt! De verdammte Katt!« brachs in die Kammer. Mit geschwungenen Besen, Schaumlöffeln, Feuerhaken drangen die Frauen auf die Übeltäterin ein, die jammernd versuchte, durch das zu enge Fenstergitter zu entrinnen. Da gab es manch trefflichen Schlag – der den Kalbsbraten traf. Oder die Gevatterin. Oder den zerschellenden Mustopf. Heftig wogte die Schlacht, lauter und lauter schwoll das Kriegsgeschrei: »De Katt! De Katt!«
Ängstlich hinter das Spind geduckt, sah der Spatz dem Aufruhr zu. Dankbar begrüßte er die Fügung, daß das festsitzende Haar ihm die Verwandlung unmöglich gemacht hatte. Denn wie wäre es ihm wohl unter dieser Schar wütender Weiber ergangen –?!
»Ick hebb se!« schrie eine und schwenkte am Schwanz das schmerzgepeinigte Tier. Schwapp! – hatte sie, nicht die Katze, einen Stoß mit dem Reiserbesen. Wild schreiend bahnte sich Madame Leisetritt einen Weg über Haare und Hauben der Frauen, zornig kratzend und verzweifelt beißend. Durch die Küchentür entrann sie kläglich schreiend ins Freie, und rachedürstend stürzte ihr der kriegerische Haufen nach.
Unschlüssig saß Spatt auf dem Rande eines Spindes. Arg verstört war ihm das geruhsame Mahl, das er sich erhofft. Doch da er hörte, wie ferner und immer ferner die Stimmen der Frauen erschollen, die wohl die Näscherin über Stock und Stein, in Dickicht und Dorn vertrieben, flatterte er eilig zu Boden, streifte das Zauberhaar ab und begann zu essen, hier ein Bratenstück absäbelnd, dort einem Huhn ein Bein ausrupfend, nun wieder einen tiefen Trunk vom süßen Honigbier tuend.
Unterdessen schob sich durch die Tür leise der wildhaarige Kopf des gefürchteten Hofhundes, wie sein Meister ›Packan‹ geheißen. Erst knurrte er bedrohlich und fletschte die Zähne, aber verführerisch süß stieg ihm der Bratenduft in die Nase. Einen Rinderrücken zerrte er vom Tisch, begann den leckeren Fraß und nur ab und zu hob er den Kopf und knurrte böse, wie um zu sagen: ›Bin ich erst satt, beiß ich Dich doch noch in die Wade!‹
An der Tür raschelte und wuselte es. Eine Muttersau, zwölf Ferkelchen führend, erschien, schnüffelte zufrieden und begann eifrig, das Vergossene und Verspritzte vom Erdboden zu schlecken. Die Kleinen schleckten ihr nach, sicher, um den Frauen die Mühe des Aufwischens zu ersparen.
Kauend und lachend betrachtete Guntram die heimliche Diebesgesellschaft. Jetzt fuhr noch eine Ratte aus ihrem Loch und ohne Angst vor dem Hund schleppte sie einen Fleischbrocken im Maule fort. Eben noch in Todesgefahr, konnte doch Guntram schon freundlich seiner Feindin gedenken: ›Arme Katze, du hast am wenigsten vom Mahle bekommen, und dir stäupen sie das Fell am schärfsten. Nun, ich wünsche dir einen recht hohen Baum, der alle Anschläge deiner Feinde zunichte macht, und in der Nacht so viele Mäuse, wie du dir nur in deinen Katzenträumen wünschest.‹ Damit klappte er gesättigt das Messer zu, setzte sich auf die Fensterbank, rieb den Haarring und schon flatterte er als Spatz davon, gerade über den Häuptern der Weiber fort, die scheltend, mit geschulterten Waffen von ihrem Feldzug heimkehrend, nicht ahnten, daß sie die kleine Plage wohl ausgetrieben, die große aber unterdes gemästet hatten. – Schon senkte sich die Sonne gegen den westlichen Himmelsrand, matt durchfilterten ihre Strahlen noch einmal das lockere, grauweißliche Regengewölk, als der fliegende Schreiber sich dem Spatzenhofe näherte. Freundlich erhellt sah er des Vaters Geburtsstätte unter sich mit dem weißen Wohnhaus, dem langgestreckten Stallgebäude, der hohen Scheune, mit dem kleinen Blumengarten, in dem nur noch einige wenige Astern im helleren Licht leuchteten. Und mit dem großen Obstgarten, in dem der Oheim stand und mißmutig einen Apfelbaum betrachtete, an dem der Krebs fraß.
In den kahlen Zweigen dieses Apfelbaums ließ sich der Neffe nieder, um auszuruhen und zu bedenken, was nun zu beginnen sei. Dabei schaute er dem Onkel zu, der mit dem Taschenmesser sorglich alles erkrankte Holz fortschnitt. – ›Ach, du solltest, lieber Mann‹, dachte er bei sich, ›ebenso sorglich das kranke Gewächs, das dir im Hause wuchert, wegschneiden. Besser wäre es dir und – ihr!‹ So dachte er, aber was er sprach, war nur das eintönige Piep.
Doch sah der Onkel trotzdem hoch, nickte dem Federball bedächtig zu und sagte: »Ja, piepe nur, Pieper. Der Winter naht, und dir ist ängstlich zumute. Doch wirst du immer auf meinem Dunghaufen genug Atzung finden, dich über die kargen Wochen hinwegzubringen. Aber merke dir eines, Spatz: wenn das Frühjahr kommt, und du gehst auf die Freite, bestehst mutig Kämpfe mit deinen Gesellen, und erwirbst dir ein Weiblein – niste mir nicht an Haus oder Scheune! Ich kann deine Liederwirtschaft mit hängendem Stroh und weißlicher Kleckerei nun einmal nicht ausstehen, und gleich müßte mir der Enak her und mit dem Besen deinen jungen Hausstand fortkehren.«
Freundlich piepte zur Antwort der Neffe und dachte bei sich: ›Ach, herzlieber Ohm, wenn Du wüßtest, daß es dem fremden Spatzen nicht nach einem Nest unter der Windfeder Deines Daches gelüstet, sondern nach Deiner eigenen schönen Tochter! Freilich – dafür wollte ich sorgen, daß alles hübsch ordentlich und ohne alle Liederei zuginge. Das Bettstroh dürfte mir nicht aus der Lade hängen, und was die weißliche Kleckerei angeht, so könntest Du unbesorgt schlafen.‹
Darüber überkam den Guntram solch inniges Sehnen nach dem Anblick der Liebsten, daß er von neuem die Flügel regte und um das Haus flog. Von den Fensterkreuzen und von den Weinreben spähte er in Fenster um Fenster, und in der Küche erblickte er auch die Muhme Petronilla, umringt von Mägden, wie sie ein schönes Schweineviertel, unterstützt von der Zilli, in den glühenden Bratofen schob. ›Je fröhlicher die Gäste, je trauriger die Schweine!‹ dachte Guntram und flog weiter.
In der Base Monika Stube lag ein Schreibebüchlein aufgeschlagen auf dem Tische, Gänsekiel und Tintenfaß waren dabei. Doch nicht das schöne Gesicht des ernsten Mädchens sah auf die Blätter, sondern, die dicke Brille auf der Nase, saß der graufaltige Schreiber Bubo davor, las eifrig und wendete eilig die Seiten, immer wieder über die Schulter spähend, daß ihn auch keiner überrasche. Zornig über diese Entweihung wollte Spatt mit dem Schnabel gegen die Scheibe pochen, doch besann er sich, daß der weise Schuhu wohl schon mancherlei in seinem Leben erfahren habe und nicht aus unziemlicher Neugierde in den Geheimnissen des Mädchens schnüffele. Ja, plötzlich überkam es den Spatzen, als könnte auf jenen Blättern wohl gar etwas über ihn selbst stehen, vielleicht sogar ein günstiges Wörtlein, trotz des Streites am vergangenen Abend. Wie gerne hätte er da an des Bubo Statt gesessen und gelesen!
Eilig flatterte er weiter und gedachte, einen Einschlupf ins Haus zu finden, etwa durch die zerbrochene Scheibe in der Gästekammer. Im Vorbeifliegen sah er in die Stube der Zilli, doch die war leer. Aber befriedigt erblickte er ein schwarzweiß Kleidlein, das hastig über das Bett geworfen war. ›Oh du neugierige Elster!‹ dachte er. ›Warte, laß mich nur erst im Haus sein, ich will dir deine Zauberhaut schon fein zerpflücken.‹
In der Knechtekammer saß der ältliche, schwärzliche Großknecht, hielt einen Igel bei den Stacheln gepackt und schob ihn nun behutsam, mit gravitätischem Ernst, tief in die Röhre eines ungeheuren Kanonenstiefels. Dann griff er in einen zu seinen Füßen liegenden Sack, brachte einen zweiten Igel hervor und schob ihn in den andern Stiefel. Ernsthaft schaute er nun in das erste, in das zweite Rohr, schüttelte die Stiefel, lauschte, griff prüfend hinein, zog die Hand schnell wieder zurück und stellte die Stiefel dann neben ein Bett. –›Ach, armer Enak!‹ dachte Guntram vergnügt. ›Wie wird es dir ergehen, fährst du morgen hastig in deine Drecktreter. Ach, ärmere Igel, mißbraucht vom menschlichen Übermut –!‹
Er flog weiter zur Gastkammer, aber kein Einlaß war da, eine ordentliche Hand hatte ein gehobeltes Brett vor das Loch genagelt, die kalte Winterluft abzuhalten, bis etwa bei günstiger Gelegenheit aus der Stadt eine neue Tafel Glases beschafft werden könne. In einer Mägdekammer bohrte sich eine Magd nachdenklich in der Nase, über ihr auf dem Dachboden schippte ein Knecht Korn um, indes in einer Abseite ein Völklein Mäuse eine Versammlung abhielt und wohl über die Winternahrung ratschlagte.
Als letzten Weg, als besten Blick hatte sich Guntram Spatt den in des Onkels Stube aufgehoben. Aber wie ward ihm, als er durch die Scheibe hineinsah! Einander gegenüber, so nahe, daß sich die Knie berührten, saßen der falsche Schreiber und die schöne Monika. Die Flügelstumpen – denn man konnte das wirklich nicht Arme nennen! – hatte er ausgestreckt. Eine Lage Strickwolle war darum gelegt, und emsig wickelte die Base den weichen Faden auf ein Knäuel. Daneben aber stand der Herr Rat Asio, neckisch mit dem Finger tippend, suchte er den Lauf des Fadens zu verwirren, und so Arm und weißen Hals, Kopf und Kopf einander näher zu bringen.
Wie zornig klopfte das Herz in der kleinen Spatzenbrust vor dem Fenster! Wohl sah er den ernsten, abweisenden Ausdruck im Gesichte der Base, aber viel mehr sah er den frechen Blick des Nebenbuhlers, der mit schräg gehaltenem Kopf einen Blick der Schönen zu erhaschen suchte.
Nun faßte der Rat mit zwei spitzen Fingern in den laufenden Faden, zog ihn hoch, warf ihn als Schlinge über den Kopf des Mädchens, als zweite Schlinge um den Hals des frechen Spatzen – zueinander zog er die beiden Köpfe, die beiden Gesichter ...
In zorniger Wut pickte Guntram gegen die Scheibe. Aber ungehört verhallte sein ohnmächtiger Protest, nahe schon waren die Gesichter, die Münder ... Schon spitzte der Falsche die Lippen und – – –
Erstes Einsprengsel
Bruchstück
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Er ist gegangen, liebe selige Mutter, er ist für immer fort! So feige und unmännlich er sich gestern abend beim Überfall auf mich erwiesen, so mutig hat er heute mit offener Stirne den Beschuldigungen seiner Feinde getrotzt. Ach! mein Kopf muß ja den Beweisen, die von allen Seiten gegen ihn vorgebracht wurden, glauben, und er selbst hat es ja eingestanden, sich als erbärmlicher, gemeiner Spatz bei uns eingeschlichen zu haben! – Aber als er da mit roten Wangen und funkelnden Augen zornig aus der Stube schritt, gefolgt von dem ungefügen Knechte Enak, als er da mir allein noch einen Blick aus sanfterem, milderem Auge sandte, da galt mein weiser Kopf gar nichts, und nur mein altes törichtes Herz pochte, pochte, klagte. –
Doch was erzähle ich dir von mir, herzliebste Mutter?! Der Vater macht mir Sorge. Bald ist er ungewohnt milde, bald plötzlich wild. Ich fürchte, der hohe Herr Rat Asio ist kein guter Mann. So weich er scheint, so hart ist er. Manchmal bemerke ich einen plötzlichen Blick, den er seinem ungeschickten Schreiber, den ich Vetter nennen soll, zuwirft – und ich erschrecke! Gestern abend hat er dem Vater die Urkunde gewiesen, die den Erbanspruch begründet, und der Vater sagt, Schrift und Namenszug seien echt. Ach, wie nur hat der verstorbene Herr Oheim solches schreiben können! Wie vielen Kummer bringt er damit über des Vaters Haus!
Doch ich will nicht über ihn schelten, er ist tot und schläft; stieße es mir doch das Herz ab, würde einer über dich, liebe tote Mutter, schelten!
Noch hat der Vater zu allen Vorschlägen des Herrn Rat geschwiegen. Aber ich merke ihm an, daß er immerzu daran denkt. Einen Rechtsstreit mit dem hohen Herrn darf er, der niedere Bauersmann, nicht wagen. Ihm den Hof zu räumen, das Ererbte und Erworbene fort zu geben und als armer Mann mit dem weißen Stock ins Land zu gehen, das bräche ihm das Herz. Das Dritte aber ...
Ach, liebe Mutter, wäre doch der Erste, der Falsche kein kleinjämmerlicher Spatz und feiger Küssedieb – wäre er ein stolzer Falke, wie gerne würde ich das Väterchen um den Hals fassen und ihm mein ›Ja‹ ins Ohr flüstern ...
Recht böse Gedanken quälen mich diese Tage. Plötzlich ist mir die gute, fleißige Zilli völlig verhaßt. Als sie mich heute morgen trösten wollte, war es mir, als lachte sie immer dazwischen. Und auch die ernste Frau Großmuhme mag ich auf einmal gar nicht, wenn ich sehe, wie sie dem Herrn Rat süße Augen macht ...
Da habe ich es doch geschrieben – ach, liebe Mutter, behüte mein Herz!
Ende des ersten Einsprengsels
Schon spitzte der Falsche die Lippen und sein ganzes Gesicht drückte die diebische Freude über den erwarteten Kuß aus, da stieß Monika kräftig mit dem Fuß gegen seinen Stuhl. Er wankte, krampfhaft hob der Erschreckte die mit der Wolle gefesselten Arme in die Luft ... Schon stürzte der Stuhl und der Liebhaber fiel hart aufstoßend zur Erde. Da lag er, zappelte kläglich und verstrickte sich immer ärger in die Fäden, die er doch, das kostbare Gut achtend, nicht zu zerreißen wagte. Hilflos rückte der Herr Rat an seinem Toupet, bald bückte er sich zu dem Gefallenen und verwirrte nur noch mehr die Verstrickung, bald wandte er sich an das Mädchen, das – oh! ernste, gehaltene Monika! – lauthals lachte. Vor dem Fenster aber der Spatz führte einen wahren Triumph- und Siegestanz auf. Er hüpfte, schlug mit den Flügeln, wirbelte gegen die Scheiben, piepte, als piepe ein ganzes Ährenfeld voller Spatzen, und führte sich so unbesonnen auf, daß ihn jeder Feind ganz unversehens hätte überraschen können.
Es war aber nur der Schreiber, Herr Bubo, der ihn mit der Hand von der Fensterbank wischte und scheltend sprach: »Beherzigt Er so meine Lehren, Musjö?! Dann wäre es Ihm besser, die Katze fräße Ihn gleich, damit Er nicht den Jammer, den Er doch nicht verhüten kann und will, mit Augen sieht. Wo ist das Haar vom Haupte des Feindes, heh? Hat Er schon im Kamm auf der Fremdenstube nachgesehen, ob darin vielleicht ein Haar des Burschen sitzt?! Hält Er so seine Versprechungen, heh?«
Wie hilflos war dem Schreiber da, als er im Gitterwerk der großen Menschenhand saß, und statt aller Gedanken nichts hervorbringen konnte als ein erbärmliches Piep-Piep?! – »Ja, Piep-Piep, das glaube ich wohl«, schalt der Schreiber weiter. »Piep-Piep hin und Piep-Piep her, aber das Haar haben wir doch noch nicht, sonst würden wir nicht so jämmerlich piepen. Nun komm, Du Wicht, und erzähle mir nicht auf Spätzisch, sondern auf gut Deutsch, was Du denn bisher verrichtet. Gefressen hast Du, das fühle ich an Deinem Bauch, aber sonst hast Du wohl wenig getan.«
Damit steckte der Schreiber den Spatzen recht resolut in die Tasche und ging mit ihm ins Haus zurück, wo er sogleich die Treppe zum Dachgeschoß empor zu steigen begann. Sehr schlimm fühlte sich Guntram in dem tuchenen Gefängnis des alten Junggesellen, ohne Licht und Luft ward sein empfindlicher Schnabel noch durch die verlorenen Krümel ausgestreuten Spaniols gereizt. Krampfhaft zuckte er, wenn ein neues Niesen ihm in die Nase fuhr. – »Ruhig bist Du!« krächzte der Schreiber und klopfte derb auf die Tasche, und ›Ob ich wohl der erste niesende Spatz dieses Erdballs bin?‹ fragte sich Guntram und nieste neu.
In seiner Kammer angekommen, drehte der alte Schreiber vorsichtig den Schlüssel im Schloß, hängte eine Decke vors Fenster und setzte dann den Spatz mit den milderen Worten zu Boden: »Nun werde wieder Mensch, lieber Bruder, und berichte.« Und als der junge Guntram, stattlich und gut anzusehen, statt eines schäbigen Spatzen vor ihm stand, setzte er noch hinzu: »Wie wunderlich es doch ist! Obwohl ich genau weiß, Du bist Mensch und kein Sperling, hätte ich Dir eben, als ich Dein unsinnig Beginnen auf der Fensterbank sah, fast den Hals umgedreht, denn Du warst ja nur ein Spatz. Jetzt aber, da Du als Mensch vor mir stehst, frage ich ganz manierlich: Was hast Du begonnen, lieber Bruder? Was hast Du ausgerichtet?«
Ein wenig beschämt berichtete Guntram von seinen Erlebnissen in der Speisekammer des Müllers Packan. Sinnend wiegte der alte Bubo den Kopf hin und her. Schließlich sprach er: »Gleichst Du doch wirklich, Bruder, einem Kochtopf, der auf zu hitzigem Feuer steht. Immer klappert bei Dir vor aufsteigendem Wrasen der Deckel, und denkt man, nun ist endlich eine vernünftige Suppe gar gekocht – zisch! kochst Du über und fährst nutzlos verdampfend über die Herdplatte. – Immerhin muß ich Dir sagen, daß ein glücklicher Stern Deinem törichten Tun einen vernünftigen Sinn gibt. Denn die Katze, der Du so glücklich entronnen, war keine gewöhnliche, sondern eine Zauberkatze, genannt Mimi, eine enge Freundin der Muhme Thalerin. Manch Böses hat sie schon mit Spionieren und Leisetreten angestiftet, ich will nur hoffen, die Weiber haben ihr mit Schürhaken und Reiserbesen tüchtig das Fell gegerbt, daß sie nicht so bald imstande ist, hier zu erscheinen. Vorhin auf der Fensterbank wärest Du ein unfehlbarer Fang für sie gewesen! – Und was weiter?«
Leichteren Herzens berichtete Guntram von der eben belauschten Szene in der kleinen Wohnstube, auch von dem vernagelten Loch in der Fremdenkammer. »So müßte ich Dich«, sprach Herr Bubo, »sogleich durch die Tür in die Fremdenstube setzen. Verbirg Dich dort gut, bis Dein Feind erscheint. Sicher wird sich dann für Dich eine gute Gelegenheit bieten, ihm ein Haar zu rauben.«
Doch voll heimlicher List bat Guntram: »Trage mich doch, weiser Meister, hinab in die Wohnstube. Mir schwant, daß sich dort mit der Rückkehr des Onkels wichtige Dinge begeben werden. Deine Kundschafterin, die Maus, wird lange nicht so aufmerksam lauschen, so rasch verstehen, wie ich.«
Lächelnd sprach Bubo: »Wenn der Maus gebratener Speck den Kopf verdummt, so rate ich, lieber Bruder, daß Dich ein anderer Speck in die Wohnstube lockt, und ein recht appetitlicher, rosig-weißer ist das wohl. Nun, ich will es immerhin wagen, mag ja sein, daß Dich dieser Speck hellhörig macht.«
Damit schob er den rasch verwandelten Guntram wieder in die Tasche, stieg leise ins Erdgeschoß, schlich lautlos über die Diele, lauschte einen Augenblick an der Tür und trat dann ein mit der demütigen Frage, ob der Herr Rat nach ihm gerufen? Es sei ihm so gewesen.
Unwillig rief Herr Asio: »Was klabastert und knastert denn ewig an der Türe?! Jede Magd schiebt jede Minute ihren naseweisen Kopf herein. Und nun kommst auch noch Du, alter Krächzer! Noch ist der Brautkuchen nicht gebacken, noch brauchst Du das Pergament nicht zu glätten für den Ehevertrag – hebe Dich hinweg, graues Staubhaar, und zähle mir die Astlöcher in den Bodendielen! Daß Du mir aber nicht um eines fehlest!«
Keck krächzend antwortete der alte Schreiber, er werde die Mäuse fragen, die am besten die Astlöcher kennten. Seine Haare aber habe er sich nicht selbst gemacht, sondern seine Mutter, die wieder nicht allein die Schuld an ihnen trage, denn sein Vater habe ihr dabei geholfen. –
»Schere Dich hinaus, frecher Vogel!« schrie der Rat. »Wie magst Du solche Reden vor jungen Leuten führen. Fort! Fort! Weg! Husch!«
Unterdes aber war es dem Schuhu gelungen, scheinbar verlegen hin und her tretend, den Spatzen hinter den Ofen zu schieben. Nun entwich er eilig.
Guntram aber saß in sicherem Dämmer und spähte neugierig in die Stube. Seine Base saß jetzt am Tisch und strickte eifrig, und vielleicht nicht ohne Absicht hatte sie die größesten und spitzesten Nadeln gewählt, mit denen sie dräuend hin und her fuhr. Auf dem Kanapee hockte halb liegend der falsche Vetter und ächzte jämmerlich. Mit gerunzelter Stirne schritt der Herr Rat auf und ab und versuchte vergebens, sein Gesicht in freundliche Falten zu legen.
Endlich sprach er: »Ehe der lästige Bubo hereinkam, Guntram, bat Deine Base, ihr etwas vom Leben der großen Stadt zu erzählen. Wohlan denn, schönen Mädchen muß man ihre kleinen Wünsche erfüllen, auf daß sie, äußert man etwa einen großen, nicht zage seien.«
»Er soll sich nicht bemühen, hoher Herr Rat«, sagte Monika mit einem Blick auf den vorgeblichen Vetter. »Es könnte ihm zu viel Mühe machen.«
Und klagend piepte der Falsche: »Mir ist so trieb, mir ist so schlicht; ich firchte, ich kriege die Mauser!«
Unwillig sah der Rat auf den ungeschickten Lehrling, indes das Mädchen verstohlen lächelte. Dann sprach er: »Er ist wirklich krank diese Tage, der Herr Guntram Spatt. Schon mit einem Fieber bestieg er die Kalesche, vergebens riet ich ihm von der durchkältenden Fahrt ab – zu groß war sein Eifer, Dich zu sehen, mein schönes Kind.«
Gelassen antwortete die Base, doch ihr Strickzeug klirrte bedrohlich: »Er hätte in der Stadt sein Fieber pflegen sollen, wir konnten seiner noch gut entraten.«
Ernsthaft mahnte der Herr Asio: »Hüte Deine Zunge ein wenig, mein Kind, Du weißt gar wohl, was Dein Vater wünscht; und unziemlich ist es, den künftigen Gatten zu kränken.«
»Noch ist er mein Gatte nicht!« rief zornig das Mädchen und hob die funkelnden Nadeln. »Und helfen die guten Mächte, wird er es nie!«
»Ich ahne«, sprach recht höhnisch der Stadtrat, »hinter diesem Zorn ein weicheres Gefühl. Wie – die Tochter eines ehrbaren Landmanns hängte ihr Herz an einen betrügerischen Schuften?!«
»Ja«, rief sie flammend. »Ich leugne es nicht! Wenn ich diesen erbärmlichen – Pieper sehe, scheint der andere mir ein recht mutiger Mann! Sind doch die Rollen wie vertauscht! Er, der als Spatz gekommen, scheint ein Mann, dieser aber, der als Mensch aus der Kalesche stieg, piept hier herum, als sei er eben aus dem liederlichen Nest seiner Eltern gefallen!«
In seinem Ofenwinkel freute sich Guntram herzlich. Ehe aber der Herr Rat noch hatte antworten können, sprach die strenge Stimme der Muhme Petronilla Thalerin, die unvermerkt eingetreten: »Monika, Mädchen, mäßige Dich! Wie kannst Du so zum Herrn Rat sprechen? Der Vater ist auch auf dem Wege! Willst Du durch raschen Zorn sein Herz tief verwunden?! Rasch, beruhige Dich. Sprich: wie heißt der erste Grad der Zuckerläuterung?«
»Ach«, sagte Monika unwillig, »wenn man mich peinigt ...«
Unerbittlich verlangte die Muhme: »Der erste Grad, Monika. Sprich.«
Und gehorsam antwortete diese: »Der erste Grad heißet der Breitlauf.«
»Und wie beweiset sich der Breitlauf?«
»Daß der Zucker in breiten Tropfen vom Schaumlöffel fällt.«
»Und wie heißet der dritte Grad?«
»Der dritte Grad heißet der Große Faden.«
»Und wie beweiset sich der Große Faden?«
»Wenn der Zucker zwischen Daumen und Zeigefinger einen großen Faden macht und nicht abreißt.«
»Und der sechste Grad, Monika?«
»Der sechste Grad heißet Flug.«
»Und wie beweiset sich der Flug?«
»Bläst man durch den in Zucker getauchten Schaumlöffel und entstehen fliegende Blasen, so ist der Zucker zum Flug gekocht.«
»Siehst Du, Monika«, sprach ernst die Muhme, »so zeiget sich des Wissens Macht über die menschlichen Leidenschaften: schon bist Du wieder ruhig, wirst artig zu Deinen Gästen sein und den lieben Vater nicht betrüben.«