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»In solcher Zeit wie diese ziemt es nicht,
Daß jeder kleine Fehl bekrittelt werde.«
Shakespeare: Julius Cäsar
Die Unterhaltung zwischen Wirtsleuten und Gästen schlich sich nur kümmerlich hin, in die fallende Dämmerung hinein. Den vollgestopften Spatzen im warmen Ofenwinkel fiel der Schlaf an, sein schönes Mädchen mochte ihm nun vorm Schnabel sitzen oder nicht. Behaglich plusterte er sich auf, steckte den Kopf unter die linke Flügeldecke, schloß die Augen und schlief ein.
Wie aber ward ihm, als er, wieder erwachend, allein in der völlig dunklen Stube saß?! Vor dem Fenster stand schweigend und dunkel die Nacht, schweigend lag das geräumige Haus. Kein Schritt schütterte die Dielen, keine Kette klirrte vom Viehstall her, es konnte Mitternacht sein oder morgens um zwei! Alles war versäumt, nichts war getan, vielleicht hockten eben jetzt die Verschwörer beisammen und brüteten über einen neuen Plan! Er hätte sie belauschen können, sicher aber hätte er vermocht, dem untergeschobenen Vetter ein Haar zu rauben – nun saß er gefangen in der engen Stube, zu Untätigkeit verdammt! Was würde der Bubo schelten – und gewiß mit Recht!
Ängstlich flatterte der Spatz in der Stube hin und her, den Ausweg suchend, von dem er doch wußte, er war nicht da. Aber nicht einmal kam ihm der Gedanke, daß es ja doch nur der Rückverwandlung in die menschliche Figur bedurfte, und er brauchte nur auf die Klinke der Stubentür zu drücken und konnte gehen, wohin er wollte. Nein, so verwirrt war sein Geist, der sich größter Nachlässigkeit schuldig fühlte, daß er immer von neuem mit jammervollem Piep gegen dieselbe Scheibe flatterte, gleichsam, als sei er wahrhaft weiter nichts als ein törichter Spatz, und es wohne ihm nicht eine menschliche Seele in der gefiederten Brust, als sei nicht menschlicher Geist in seinem Vogelköpfchen daheim.
Aber auch hier noch waltete wie schon über so mancher seiner Unbesonnenheiten bisher, ein gütiges Geschick: plötzlich hörte Guntram mit dem sinnlosen Flattern auf, lauschte und pfeilschnell schoß er zurück in den bergenden Ofenwinkel. Leise, wie Geistertritt, hatte es sein Ohr getroffen, leise, wie Geisterhand, hatte es an der Tür getastet. Nun, kaum war er im Versteck, ging sachte die Tür auf, ein kalter Luftstrom wehte ihn an, schaurig wie Geisterhauch. Sanft knackend fiel die Tür ins Schloß zurück, und jemand stand im dunklen Gemach, lautlos, drohend, unsichtbar in der Schwärze wie ein Geist.
Ach, nun hätte unser Guntram so gut die Augen der Muhmefreundin, der Katze, gebrauchen können. Nichts sah er, und doch war ihm, als komme die dunkel dräuende Gefahr ihm immer näher. Der Ofenspalt verfinsterte sich, furchtsam drückte er sich in den äußersten Winkel ... Griff nun nicht eine böse Hand nach ihm –?! Ach, der Feind war gekommen, er hatte sein Versteck erraten, war gekommen, ihn zu ermorden, ruhmlos, als verachteter Spatz sollte er sterben! Nicht einmal sie würde von seinem Tod erfahren!
Oh, dunkles Dräuen –!
Zweites Einsprengsel
Betrachtung des Schreibers Bubo, weiland
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Den rotsaftigen Rinderbraten konnte man sich schon gefallen lassen. So heruntergekommen man auch im Laufe der Jahrhunderte sein mag, so stumpf der Appetit auf dieses Leben auch geworden ist – den Geschmack an rotem Blut und frischem Fleisch hat man noch immer nicht verloren. Und da, trotz der Torheiten des jungen Spatt, meine Erlösung aus der Knechtschaft beim unwürdigen Asio immer näher winkt, den ich dann umgekehrt für einige Jahrhunderte zu meinem Sklaven machen werde, auf daß er sich ein wenig bessere, so ließ ich es mir auch schmecken. Fast ungebührlich langte ich zu, aber die dicke Großmagd auf meiner Seite half mir und schob mir eine Schnitte nach der andern zu. Es merkte auch keiner, nicht einmal die gestrenge Obereule Petronilla hatte ein Auge für mich, so sehr achtete alles verstohlen auf den armen Schelmen, den verwandelten Spatz, der sich ungeschickter denn je in seinem Menschenleibe benahm. – Bubo, hier hast du dein Meisterstück vollbracht, und daß du dem schlauen Asio diesen dummen Dreckspatzen statt eines sauberen Finken oder einer hübschen Meise, die tausendmal besser ihre Dienste getan hätten, hast unterschieben können – das kostet den Herrn Rat seinen Zauberrang und – Ring!
Natürlich ist selbst solch saftiger Rinderbraten nicht zu vergleichen mit den herrlichen Lendenschnitten, die sich einstens unsere Untertanen, die Kurden, unter ihre Pferdedecken aus Filz legten, und uns vom ersten Sonnenstrahl bis in die Nacht hinein mürbe ritten! Ach, Kaiser Demorus, warum mußtest du dahin aus der Kraft deiner vollbärtigen Mannesjahre, ehe dir noch mein Verjüngungstrank ewige Jugend, ewiges Wohlsein, ewiges, heiteres Lächeln lieh! Die Steinpyramide über deinem Gebein haben längst die zottigen Bergbären auseinandergeworfen. Völlig dahin bist du! Niemand weiß mehr von dir und deinen Heldentaten, nur ich, dein armseliger, arg bestrafter Bubo, gedenke noch manchmal deiner! Ich weiß, ich weiß, die geheimen Mächte wollen nicht, daß wir mit der uns verliehenen Kraft den Kindern der Menschen ewige Jugend verleihen – aber da ich dich doch so liebte! Hart bin ich für meinen Frevel bestraft! Löste sich nur bald meine Fessel – nichts mehr wollte ich von dem Treiben der Menschen wissen. In den dunkelsten, stillsten Schoß der Erde will ich mich zurückziehen und mein nächstes Jahrtausend mit dem Studium der edlen Steine verbringen, der höchsten Reinheit, die vulkanische Glut aus dem Schoß dieses unreinen Planeten geschmolzen! –
Nicht übel dieser Saft, wirklich nicht übel. Aber auch das junge, dunkle Mädchen ißt nicht mehr als der falsche Vetter. Sicher gedenkt sie des echten, der jetzt irgendwo kopflos in der Welt umher flattert: die Liebe hat sich ihr auf den Magen gelegt! Ach, ihr guten beiden Kinder, Monika und Guntram, Guntram und Monika – ihr solltet nur wissen, wie wenig mich euer Geschick kümmert und das Schicksal des Spatzenhofes dazu! Aber die lichten Mächte haben es nun einmal bestimmt, daß nichts auf diesem erloschenen Stern geschieht, das nicht irgendwie dem Guten dient, und so kann auch ich nur erlöst werden, indem ich euch erlöse und eure Liebe zum angenehmen Ende bringe.
Ich freilich halte mich erst einmal an den Rinderbraten und lasse mir von der Liebe den Appetit nicht rauben. Wenn ich genau nachdenke, muß auch ich einmal vor einigen Jahrzehntausenden dieses Gefühl gekannt haben. Richtig, richtig – sie hieß Xara, und keine konnte reizender ihr Köpfchen an eine männliche Schulter schmiegen als sie! Aber als dann der fette Oberpriester (pfui, pfui, dieser Schurke!) uns zusammengesprochen hatte, gärte ihr süßer Wein rasch in Essigsäure um, und wie sie mir dann, als ich ihre Salzfischchen tadelte, die Steinaxt an den Kopf warf, sagte ich nicht nur ihr, sondern auch der Liebe für immer Valet! Wieviel tausendmal habe ich sie seitdem in den Herzen der Menschen keimen und wachsen gesehen, diese Liebe. Sie haben sich um ihretwillen umschlungen und geküßt, um ihretwillen haben sie sich bekämpft und gar erschlagen. Immer aber nannten sie das wechselvolle Gefühl Liebe! Nun seid ihr daran, Mönchen und Guntram, immer erfüllet euern Beruf und liebet euch herzlich. Die Erde wäre längst öde und leer ohne das, was eure Herzen schneller schlagen macht und eure Köpfe verwirrt! (Wo er sich nur wieder herumtreibt, der närrische Bursche! Er bringt mir noch meine Entzauberung in Gefahr.)
Nein, nun macht er es zu toll, der untergeschobene Vetter und Neffe! Er hat in den Teller, den ihm die Muhme Petronilla sorglich mit Fleisch vollgeladen, mit dem Löffel hineingeschlagen, daß der Beiguß nur so spritzte. Jämmerlich piept er, sie sollen ihm Körner aus der Futterkiste bringen oder auch einen Wurm – einen guten, saftigen Regenwurm! An der rechten Seite hält ihn die Thalerin, an der linken der Herr Asio, dem die Fettunke das bleiche Gesicht glänzend macht. Der Herr Rat stammelt zu den erschrockenen Wirtsleuten von dem schweren Fieberanfall des Armen, der seine Sinne verwirrt. Jetzt führen sie ihn hinaus. Der Herr Rat Asio sieht sich suchend um, nun muß ich mit, den toll Tobenden ins Bette zu schaffen – und noch drei Scheiben Rinderbraten liegen auf meinem Teller! Ach, Eitelkeit alles Irdischen! Weh, ihr unerfüllten Wünsche –!
Ende des zweiten Einsprengsels
Es griff aber keine Hand nach dem ängstlich in seinen Ofenwinkel geduckten Guntram, sondern scharf pinkte es in der Stubenmitte: Pink! Pink! Pink! Ein kleiner Schauer gelblich-bläulicher Funken fiel auf Zunder, rötlich lief die Glut durch das versengte Leinen, ein Atem fachte sie an – und nun sah Guntram im Schein der aufflammenden Kerze das Gesicht seines ehemaligen Brotgebers, des Herrn Asio.
Vorsichtig musterte auch der den Raum. Er hob den Leuchter, besser in alle Winkel zu leuchten, sah unter den Tisch, in die Schreibschrankecke, und schloß denn sorglich die Stubentür zur Diele gegen jede Überraschung, indem er den Schlüssel im Schloß drehte. Nun setzte er den Leuchter auf den Tisch, ging, noch einmal achtsam um sich sehend, an den Schreibschrank, zog an den Klappen und an den Laden. Sie waren zugeschlossen, doch das entmutigte nicht den nächtlichen Eindringling. Er zog ein schwärzliches Büchschen aus der Tasche des großblumigen lila Schlafrocks, schraubte den Deckel los, hob mit einem Span ein wenig feuerrote Paste heraus und rieb sie auf Schlüsselloch um Schlüsselloch der Schreiblade. Neugierig wagte sich Guntram immer weiter aus seinem Ofenloch hervor, spähte, sah zum ersten Male in seinem Leben Einrichtung und Wirkung der schwarzen Magie.
Der Rat Asio hatte den Tisch zur Seite gerückt, Platz vor dem Schreibschrank zu gewinnen, nun goß er aus einem Fläschchen eine helle Feuchtigkeit zur Erde, schön mit der nassen Spur einen Kreis rundend. Mitten hinein stellte er sich, den Leuchter mit dem Lichte in der Hand. Er neigte ihn zur Erde, hoch auf flackerte der bläulich brennende Weingeist, lustig tanzten und sprangen die Flammen um den Meister, der leise, das Gesicht gegen Osten gewandt, vor sich hin murmelte.
Der Spatz Guntram mußte die Augen fortwenden, immer strahlender, immer heller wurde der Glanz der Mauer, die den Herrn Rat umgab. Da tat es einen lauten Schlag und, als Guntram wieder hinsah, brannte niedrig mit stiller Glut das Kreisfeuer, alle Laden aber waren aufgesprungen und boten ihren Inhalt dem Zauberer dar.
Der hob den Finger – und aus dem Schreibschrank fuhr die erste Lade, durch die Luft flog sie zum Herrn Rat, blieb schwebend vor ihm, ein rechteckiges Holzding, das ihm dienstbar war. Herr Asio spähte hinein, schüttelte verweisend den Kopf und zurück flog die Lade in ihre Höhle.
Zwei Finger wurden gehoben, die zweite Lade flog herbei, aber auch sie wurde zurückgeschickt. So ging es weiter bis zur siebenten. Nicht wich der Herr Rat aus seinem Kreis, der mit niedriger Flamme bläulich um ihn glühte, dienstbar flogen ihm die Laden, eine nach der anderen, herbei. Aus der siebenten endlich hob der Zauberer ein gelbliches, uraltes Papier, in den Bügen gebrochen und zerfasert, mit verschollener Schrift eng bedeckt. Das Papier in der Hand sandte er die Lade zurück, schob die Brille auf der Nase zurecht und begann, eifrig im Diebesgut zu lesen.
Doch nun litt es Guntram nicht länger. Schmählich schien ihm der Diebstahl, gefährlich die verwitterte Urkunde in der Hand des Argen. Sachte flog er heran zu erspähen, was in ihr wohl stünde. Aber er hatte nicht des feurigen Zauberkreises geachtet. Kaum überflog er ihn, tat es einen zweiten, weit stärkeren Schlag. Eine unsichtbare Macht entriß der Hand des Rates das Papier, rauschend flog es durch die Luft in seine Lade zurück, stoßend fuhren alle Laden zu, knackend schnappten die Schlösser wieder ein – aber zur Erde stürzte Guntram, hart aufschlagend, kein Spatz mehr, sondern ein Mensch!
Eilig war der böse Mann über ihm. »Halte ich Dich endlich, Bube!« schrie er kreischend. »Ist es nicht genug damit, daß Du Undankbarer, der genossenen Lehre uneingedenk, mich treulos verlassen – willst Du mir nun auch mein sorglich bereitetes Spiel stören –?! Ja, ich hätte Dich reich und glücklich gemacht, die Monika hätte ich Dir zur Frau gegeben, wärest Du mir weiter gehorsam gefolgt. Aber Du bist, ich weiß es nun, mit dem verräterischen Bubo im Bunde – so klug er sich auch dünkt, das hat er nicht erraten, daß unter seinem Bett die neugierige Elster Zilli hockte, während Ihr heimliche Zwiesprache hieltet. Jetzt zerschmettere ich Dich und ein jämmerliches Los soll Dir werden! Trägst Du doch so gerne das Spatzenkleid, so sollst Du denn immer als Spatz herumschwirren, menschliche Seele in der Brust, aber nicht mehr fähig, Dich zurück zu verwandeln. Und daß Dir auch die geringe Lust des Vogeldaseins fehle, will ich Deinen Augen auch noch das Himmelslicht nehmen! Dunkel soll es ewig um Dich sein, wie Du im Dunkeln mit Deinem Spießgesellen gegen mich gewühlt, den ich nach Dir, und noch viel ärger, strafen werde ...«
So sprach der Herr Rat Asio mit schäumendem Munde, und dabei umstrickte er immer rascher mit fliegenden Händen die Glieder des zu Boden Gestürzten durch einen hauchdünnen Faden, den er, schnell abhaspelnd, aus einem Spinnweb aus der Zimmerecke zog. Machtlos lag Guntram, aber mutvoll antwortete er: »Tu immer, was Du vermagst, schlimmer Asio! Überliste selbst den weisen Bubo – unerschütterlich wohnt mir in der Brust die Gewißheit, daß der Sieg unser sein wird. Denn wir sind im Lichte, Du aber lebst von der Finsternis der Hölle!«
Wütend kreischte der Rat auf, den Leuchter schwang er wie eine Fackel, vom Finger Guntrams streifte er das Zauberhaar, hielt es ins Licht, es zischte auf, dahin war es –! Nun murmelte er geheimnisvolle Zauberworte, der Mensch Guntram schwand dahin, zusammen zog sich sein Leib, aus dem schönen, grünen Rock des Onkels wurde ärmliches, graubräunliches Gefieder. Angstvoll, unfähig jeder Bewegung, hockte er am Boden, hohnlachend rief der Rat, den Leuchter schräg haltend: »Nun tropfe ich Dir glühendes Talg in die Augen, daß Du auf ewig erblindest –!«
Näher kam schon der feurige Schein –: ›Vorbei, vorbei, nie mehr wieder werde ich dich sehen, liebe, güldene Sonne, nie wieder dich, mein freundlicher Geselle, bleicher Mond. Nie wieder werde ich nächtens in der dunklen, niedern Gasse stehen bleiben und zu euch empor blicken, liebe kleine Funkelsterne, unter die ich als Knabe die lieben Eltern versetzt glaubte. Nie wieder sehe ich deine holde Gestalt, Base Monika, dein schönes stilles Gesicht, das Senken deiner Lider, das ist, als fiele ein dunkler Vorhang und löschte das Liebeslicht der Welt aus ...‹
Von oben tönte ein wildes Gebrüll, als schriee ein wütender Bulle. Vieles stürzte krachend. Es lief dröhnend, nun schrie es, schrie piepend ... Ja, ohne Zweifel, der Pieper schrie gellend um Hilfe: »Hiiiilfi! Hiiiilfi!«
Mit einem Fluch raffte der Rat den Spatzen von der Erde, der drohende, glühende Talgtropfen fiel aufzischend in den magischen Flammenkreis, der erlosch. Guntram ward in die Schlafrocktasche gezwängt, eilends schloß der Rat die Tür auf und stürzte in das Obergeschoß, aus dem immer gellender das Hilfegeschrei des falschen Vetters, untermischt von klatschenden Schlägen, erscholl.
Drittes Einsprengsel
Klage des gemeinen Stadtspatzen, passer domesticus,
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Hätten sie mich nur in der Stadt gelassen! Der angenehmste Winter stand mir bevor. Gerade war mein dreiundzwanzigstes Eheweib, die liebe Pippi, in den Sprenkel eines frechen Jungen gegangen, und für niemanden hätte ich trauernder Witwer zu sorgen gehabt als für mich. Ich muß gestehen, ich kannte längst diesen mit roten Vogelbeeren verbrämten Sprenkel, aber recht mit Fleiß hatte ich meine Huldin auf den Wohlgeschmack dieser roten, in der großen Stadt so seltenen Beeren lüstern gemacht, denn ein Witwer ist ein viel angesehenerer Mann als ein ewig beaufsichtigter Familienvater. Kurz vor der Sitzung des weiblichen Komitees zur Bekämpfung der überhand nehmenden Drosselplage verspürte Pippi einen unwiderstehlichen Hunger auf Vogelbeeren. Sie pickte ein weniges und erhängte sich. Ich kann sie nur beklagen.
Wie gesagt: mein Winter wäre mir leicht gewesen. Durch Zufall hatte ich einen losen Ziegel am Dach eines Getreidespeichers am Hafen entdeckt, ich zwängte mich ein und fand Körnervorräte, genug für alle Spatzen in der Stadt. Natürlich hütete ich mich, irgend jemandem etwas davon zu verraten. ›Kein Korn dem andern!‹ ist ein Grundsatz gewesen, der das Volk der Spatzen groß gemacht hat.
Es ist männiglich bekannt, daß es kein älteres, berühmteres, mutigeres, klügeres Volk auf Erden gibt als das der Spatzen. Von der stummen Larve im Baum bis zum mistenden Pferd, vom sich ringelnden Wurm bis zum körnerbauenden Menschen hat alles uns dienstbar zu sein, so hat es der Große Urspatz bestimmt. Leider aber sind unsere Feinde, zu denen ich vorzüglich die gänzlich unnützen Nachtvögel rechne, noch immer zahlreich. Und wenn auch zu erwarten steht, daß unsere Übermacht sie eines Tages sämtlich vernichten wird – gelang es uns doch in der berühmten Schlacht am Tannenfluß einen ganzen Eulenhorst voll nackter Junger zu zerhacken und uns selbst vor dem feigen Gegenangriff der Mutter mutig in Sicherheit zu bringen –, so war doch mir das schwarze Los gefallen, daß ich auf meiner Heimkehr von einer fröhlichen Witwerfeier in die Fänge des gräßlichen Schuhu geriet!
Wie wir Spatzen das klügste Volk dieser Erde sind, sind wir auch das listigste. Kaum erriet ich, daß der große Schuhu mich nicht zur sofortigen Hungerstillung gefangen habe, sondern zu einem weitaus anderen Zweck, nahm ich sofort die demütigste und dienstwilligste Miene von der Welt an, in der Hoffnung, bald durch List meinem Häscher zu entrinnen. Ich wurde dem Herrn Rat Asio vorgeführt, der in jener Nacht als Eule verleiblicht war, und ich bin überzeugt, nur meine geschickte Haltung rettete mir das Leben. Herr Asio prüfte mich, meine rasche Intelligenz entzückte ihn, die Vorschläge des alten Bubo wurden angenommen, und ich zum Stellvertreter des läppischen Schreibers Guntram Spatt bestimmt.
Wie ich heute errate, hat ursprünglich der Plan bestanden, mich zu ermorden, abzubalgen, und in meinem Federgewande dem besagten Guntram Spatt die niedrigen Vogelzauberwürden zu verleihen. Doch gewisse trübe Menscheneigenschaften, die bei uns Spatzen längst mit Todesstrafe belegt und darum völlig ausgestorben sind, Eigenschaften wie Wahrheitsliebe, Rechtlichkeit, Edelmut, Hilfsbereitschaft, machten ihn ganz ungeeignet für diesen Plan. Darnach war beschlossen worden, daß eine Stellvertretung stattfinden sollte, und mir wurde durch gewisse Zaubersprüche, die zu behalten ich keine Veranlassung hatte, da sie dem gemeinsten Aberglauben niedriger Wesen entsprungen und vom Großen Urspatz mit dem Bann belegt worden sind, die Fähigkeit verliehen, auf Geheiß des Herrn Asio menschliche Gestalt, und zwar die des Schreibers Guntram, anzunehmen.
Ich kann es niemandem ausmalen, welch widrige Gefühle mich befielen, als ich zum ersten Mal in einem stinkenden, dunklen, luftlosen Raum saß und meine Feder, die Pose eines wohl tiefstehenden, aber immerhin doch verwandten Vogels, über das Papier laufen ließ! Mit welcher Sehnsucht dachte ich meiner behaglichen Ruhestatt unter der Rinnentraufe am Domdach! Frei und luftig, mit weitem Blick über die Stadt, gesichert vor allen Feinden, konnte ich dort sitzen, indes hier jede Minute ein Mitmensch eintreten konnte, mich – mit sanftem Lächeln und verstellter Freundlichkeit – zu Not, Hunger, ja in den Tod zu treiben! Was für ein niederes Wesen ist doch diese bleiche, größte Made des Weltalls, Mensch genannt! Hier spritzte ich in gutem Eichenwald gewachsenen Galläpfelsaft über faseriges Papier zu Schriftzügen, die in einem Spatzenalter kein Mensch mehr lesen würde, und allein diese alberne Tätigkeit gab mir das Recht auf Atzung und Wärme, das mir doch mein Mitmensch Asio jederzeit trotz meines größten Eifers wieder nehmen konnte, nur um etwa einem Gevatterkind meinen Stuhl zu geben oder dem Sohne eines gleich mächtigen Ratsherrn! Nein, der Große Urspatz hat es schon weise eingerichtet, daß diese niederen Tiere in dunklen, riechenden Höhlen leben müssen, ewig uns dienstbar als Anbauer unserer Nahrung.
Wie zwickte und preßte mich schon meine lächerliche Gewandung an allen Gliedern! Auf der untersten Stufe alles Lebens stehend, dem nackten Wurme gleich, sind diese Menschen gezwungen, um sich vor dem Erfrieren zu schützen, uns höherstehenden Wesen unsere Bälge und Häute zu stehlen, aus denen sie mancherlei künstliche Röhren, Gehäuse und Futterale verfertigen. Aber wie erbärmlich ist das doch alles gegen das warme, nahtlos angepaßte und doch lockere Gewand, das wir Spatzen tragen! Schändlich rieb es mich bei jedem Schritt, den ich tat. Rührte ich aber einmal kräftig die Flügel, die ich jetzt Arme zu nennen hatte, um mich schneller vorwärts zu bringen, so kniff es mich in den Achseln, daß ich hätte schreien mögen! Ach, überhaupt diese Arme mit den ungeschickten fünf nackten Würstchen am Ende – wie recht haben die Menschen, sie ›arm‹ zu nennen! Da lobe ich mir einen kräftigen Spatzenflügel mit schönen Schwungfedern – das ist ein trefflich Ding, das seine Schönheit in sich und an sich hat.
Doch ich will nicht gar zu weitläufig bei diesen Anfangsmolesten meiner Menschenlaufbahn verweilen, waren sie doch nur ein kleiner Vorgeschmack der Kümmernisse, die mich später auf dem Lande heimsuchten. Stundenlang könnte ich von alledem erzählen, wie ich zum Exempel stets zusammenfuhr, wenn der große Kater des Herrn Rat lautlos in die Schreibstube geschlichen kam und, immer mich überraschend, plötzlich schnurrend auf den Tisch sprang, mich mit seinen bösen Augen grell anblickend. Meinte ich doch immer, ich sei noch ein kleiner Spatz und jener könne mich verschlingen! Wie ich dann allmählich lernte, daß ich nun der große Mensch sei und er bloß ein Kater, und wie ich ihm manchen Lebensschreck gar mutig mit heimlichen Tritten, ausgerissenen Schnurrhaaren, ja, einmal mit einem zwischen die Tür geklemmten Schwanz heimzahlte! Ja, damals war ich ein rechter Held und ich bin gewiß, die spätesten Spatzengeschlechter werden noch von meinen Taten piepen!
Nein, von alledem will ich nicht berichten, genug, wir fuhren – zu unheilvoller Stunde – auf das Land, zum sogenannten Spatzenhof. Ich muß nur noch das eine sagen, daß mir unterdes der Herr Rat Asio wegen seiner meisterhaften Schurkerei recht lieb geworden war, so weit eben solch nieder Wesen wie ein Eulenmensch einem hochgeborenen Spatzen lieb werden kann. Völlig verhaßt war mir auf der anderen Seite aber der Schreiber Bubo oder Schuhu, und nicht nur darum, weil recht eigentlich er mir mein elend Los bereitet, sondern vor allem deswegen, weil er, wie ich bald sah, heimtückisch die listigen Pläne des Meisters Asio durchkreuzte. Ich hätte wohl den Meister warnen können, aber das ist nicht Spatzenart. ›Jeder suche sich selbst den Schlund, der ihn verschlingt!‹, ist ein altes gutes Spatzenwort.
Was aber den sogenannten Spatzenhof angeht, so kann ich nur sagen, es ist eine Anmaßung, es ist eine schamlose Frechheit, diesen Menschenhöhlen einen so hehren, erlauchten Namen zu verleihen! Wir Spatzen sind das freieste Volk dieser Erde, wir kleben nicht an den Dingen, wir werden nicht ihre Sklaven; frei schalten wir mit ihnen, heben sie auf und lassen sie fallen, wie es kommt. Hat unser Nestbau seine Dienste getan, so mag der Wind nur die Halme auseinander raufen; wir wissen, es gibt genug Halme auf dieser Welt. Es kümmert uns nicht, immer wieder werden neue Halme wachsen, die uns dienstbar sein müssen. Eine heitere Großzügigkeit, eine wohl angebrachte Verschwendung, die dem Plan des Lebens, der Unerschöpflichkeit der Erde vertraut, sind hervorstechende Grundzüge jedes Spatzencharakters.
Wenn wir von der Zeitkrankheit ›Lebensangst‹ verschont geblieben sind, so danken wir das diesen Eigenschaften. Die von ihr erfaßt sind, sind alles niedere, in der Erde, im Dunkeln wirtschaftende Tiere. Es ist zuerst der Mensch, der sich nicht genug darin tun kann, alle Kammern, Scheunen, Keller mit Vorräten vollzuhäufen, über die wir dann, im Verein mit unseren vierbeinigen Gesinnungsverwandten, den Mäusen, am freiesten verfügen. Es ist auch der jähzornige Hamster, der den ganzen Sommer und Herbst schleppt und sich rackert, um, ehe er in den Genuß des Erworbenen gerät, schmählich in einer Falle oder in den Fängen eines Raubvogels zu enden. Es sind ferner die törichten, im lichtlosen Korb lebenden Bienen, die von früh bis spät ohne Erholung Honig tragen; kommt aber der Winter, setzt der Mensch ihren Bau über ein Rauchfeuerchen, tötet sie und beraubt sie der mühseligen Tracht.
Wie frei schalten wir Spatzen dagegen mit den Gütern der Welt! Recht feindlich berührte mich schon der Anblick der weißen Höhle, an deren Außenseite jedes Weinränkchen sorgsam aufgebunden war, jedes Rißlein säuberlich verkittet! Und als ich erst eintrat in diesen dunklen, luftlosen Mief und Muff, in dem Hausrat herumstand, der wohl schon tausend, zehntausend Spatzengeschlechter alt ist, von Würmern angenagt, vom Alter gebeizt, mit dem abgestandenen Geruch längst vermoderter Geschlechter! ›Ach, ihr törichten Menschen‹, dachte ich da. ›Wächst nicht alle Jahre neues Holz im Walde? Müßt ihr das alte so sorgsam bewahren? Ist ein Sommer nicht schöner im grünen Buchengeäst als in solch düsterer Höhle, deren Scheiben ihr wohl immer wieder mit Tüchern abwischt, durch die aber das Sonnenlicht doch nur zu einem trüben Dunst gefiltert dringt –?! Ach, der Herr Rat Asio hat mir keinen Gefallen getan, als er mir diesen Spatzenhof als Erbe und Eigentum versprach! Ich mag ihn nicht, ich will ihn nicht. Niemand auf der Welt braucht mir etwas zu versprechen, es ist ja alles da, was ich liebe – ich brauche es mir nur zu nehmen!‹
So dachte ich, aber ich lag in den Banden der Verzauberung und mußte tun, was sie wollten! Einigen Spaß bereitete es mir noch, den dummen Mitmenschen Guntram zu überlisten und ihm ein Haar auszureißen! Aber auch das hätte ich nicht getan, hätte ich die Folgen geahnt! Widernatürlich genug war es schon für mich gewesen, auf Menschisch einherzugehen, aber wie wurde mir erst, als ich nun noch à la Mensch parlieren sollte! Wie taten mir diese A's und E's, diese dumpfen O's und U's wehe, wie völlig verhaßt waren mir die gemeinen Zischlaute aus S und Z, die jedes Spatzenohr verwunden müssen. Wie herrlich klingt dagegen ein offen spätzisches Piep, wie schmeichelt es sich ins Gehör! Die Menschen haben das ja auch längst erkannt und zugegeben, indem sie das einzige Gefühl, für das sie sich interessieren und auf das sie Wert legen ›Liebe‹ nennen, ein Laut, der mit ›Piep‹ nahe verwandt ist.
Nie habe ich mich ganz an diese barbarische, zungenbrechende Sprache gewöhnen können und mögen. Als ich das Guntramhaar erst einige Stunden im Besitz hatte, hätte ich recht gut Menschisch reden können, aber alles in mir sträubte sich dagegen! Sie konnten mich verzaubern und sich dienstbar machen, meine Liebe zum angestammten Spatzenvolk brach doch immer wieder mit dem geliebten Piep-Laut durch. Da hörte ich nun wirklich auf keinen Tadel des sonst geschätzten Herrn Asio!
Er glaubte mich gefügiger zu machen, indem er mir die sogenannte schöne Monika zur Frau versprach! Nun, ich kann nur sagen, ein wirklich weiser Zauberer hätte mir mit dem Versprechen einer Hand voll Weizenkörner eine größere Freude gemacht! Wie bereits bemerkt, habe ich schon dreiundzwanzig Ehen hinter mir, und ich weiß, was ich von dieser Einrichtung zu halten habe! Um es kurz zu sagen, sie ist ein Schelmenstreich der Natur! Für ein recht vorübergehendes Vergnügen werde ich gezwungen, wochenlang eine Frau zu ernähren, dann die ewig aufgesperrten Schnäbel von sechs Kindern zu stopfen, die sich nicht entblöden, kaum sind sie herangewachsen, um jeden Brocken ihre Schnäbel gegen den Erzeuger zu kehren, ja, ihm die reizendsten, jüngsten Spätzinchen abzujagen! Ich muß ja gestehen, daß auch ich immer wieder dieser List der Natur aufsitze, aber ich tue es mit dem überlegenen Geist des spätzischen Philosophen, der wohl seine Pflichten zum Ruhme des Spatzenvolkes erfüllt, aber die Eitelkeit des Weges, der dahin führt, durchschaut.
Wie über alles haben auch hierüber die Menschen ganz andere Anschauungen als wir: rückständige, barbarische Anschauungen. Ich sprach schon von der abgöttischen Verehrung, die sie dem Gefühl ›Liebe‹ weihen. Es war für mich recht possierlich anzusehen und gehört zu den schönsten Erinnerungen meines Lebenswandels, wie der junge Guntram die Augen verdrehte, wenn er auf seine sogenannte Schöne sah, wie er von einem Fuß auf den andern trat, blaß und rot wurde, mit der Hand zum Herzen und nun wieder verzweifelt durch die Haare fuhr, wie er seufzte, an den Lippen käuete, das Schnurrbärtchen zwirbelte – kurz, was es alles für verliebte Albernheiten gibt. Wir Spatzen sind da etwas klüger, ist es die eine nicht, ist es die andere, zum Schluß kommt es doch nur auf besagtes Futterschleppen und Atzen heraus, und das ist bei der einen genau so wie bei der anderen! Gib dir darum bloß nicht so viel Mühe, törichter Mensch!
Und wenn man sich dann noch dazu diese sogenannte Schöne und Huldin betrachtete! Das Beste, was ich an ihr rühmen kann, war, daß sie bis oben an den Hals sorgfältig mit einem bunten Futteral zugedeckt war, und das hatte sie ja zweifelsohne nur darum getan, weil sie selbst den Anblick des eigenen Leibes nicht ertragen konnte! Wie mußte da erst andern zumute werden! Die Kostproben, die sie mit Gesicht, Haaren und Händen gab, genügten wahrhaftig, einen rechten Spatzen blind zu machen! Ich kam einmal, durch die Arglist des Herrn Asio, in die schreckliche Lage, meinen Schnabel ganz in die Nähe ihres Mundes bringen zu müssen – auf der Stelle bin ich hingestürzt und habe mich sogar arge verletzt –! Lügnerischer Spatz! hast Du nicht recht artig Dein Schnäblein ihrem Mündlein entgegengespitzt, und hat nicht allein das Mägdlein mit einem kräftigen Stoß gegen Deinen Stuhl Deine Frechheit vereitelt?! – So fälscht man Geschichte, Herr Spatz! (Anmerkung des Herausgebers.)
Doch war der lächerliche Guntram bei weitem nicht der einzige, der diese Menschenmade, dieses Menschenmädchen mit verliebten Augen ansah! Von dem Vater Spatt will ich ganz schweigen, auch das scheint so eine rechte Menscheneigenschaft, daß Väter in ihre Töchter verliebt sind; wir Spatzenväter sehen in unseren Töchtern nur das Ebenbild ihrer Mütter, und das genügt völlig, ihnen recht kühl gegenüber zu stehen.
Nein, fast jedes männliche Auge sah ich wohlgefällig auf der Monika ruhen, und hier kann ich nicht einmal den sonst ganz vernünftigen Herrn Asio ausnehmen. Einzig der alte Bubo machte da eine Ausnahme, doch war das keine Merite von ihm; man kennt ja die Art der mißvergnügten alten Schuhus, alles anzukauzen und anzukrächzen! Aber da war ein Knecht, ein ungeheurer Lehmbrocken Mensch, der wandte kein Auge von ihr, er vergaß über ihrem Anblick sogar das Essen, das sonst sicher seine liebste Beschäftigung war. Und ertappte er gar einen anderen auf Blicken zu der Monika, so schossen seine Augen so finsterglühende Strahlen, daß es mir vor Lachen den Bauch schütterte.
Kaum hatte ich seine hilflose Verliebtheit bemerkt, so bereitete es mir das größte Vergnügen, das Mönchen ständig mit den verdrehtesten Augen anzuschauen, ja, war er in der Nähe, überwand ich mich sogar so weit, das Mädchen mit dem Ellbogen zu streifen, von hinten anzustoßen. Und einmal streichelte ich sogar der Monika auf dem Gange oben recht sichtbarlich mit erheucheltem Wohlgefallen den Rücken und das Daruntere – da mußte ich mich aber mit einem raschen Sprung in meine Kammer retten und den Schlüssel im Schloß umdrehen, so zornentbrannt stürzten sie alle beide auf mich! Nachher ließ ich mich fein nur in der Gesellschaft des Herrn Rat sehen, bis der erste hitzige Zorn verraucht war. Hätten die beiden gewußt, welche Überwindung es mich gekostet, diesen weichen, breiigen Leib anzufassen, der Knecht wäre kaum so zornig hinter mir dreingesprungen. Freilich, die ›schöne‹ Monika hätte mir wohl erst recht das Gesicht zerkratzt –!
Das Haus war nichts, die Sprache war nichts, das Mädchen war nichts – aber ein altes Spatzenwort sagt: ›Der Bauch zuerst!‹ Hätte nun wenigstens das Futter noch was getaugt! Sie hatten doch alle Kisten, Kasten, Keller und Scheunen voll, konnten sie da einem Spatzen nicht ein ordentliches Körnermahl vorsetzen?! Im Garten und auf dem Feld lagen genug Steine, sie hatten sattsam Kräfte, sie umzudrehen – warum drehten sie sie nicht um und gaben einem ehrlichen Spatzen seinen ehrlichen Wurm?! Es ist nichts los mit diesem Menschengesindel, so geschäftig sie auch tun! Meinen sie doch wirklich in ihrem beschränkten Verstande, die ganze Erde sei nur für sie geschaffen, und sie wollen, jedweder lebe nach ihrem Kopf, auf ihre Art!
Kein Bitten und kein Zureden konnten den Herrn Rat Asio überzeugen, daß mir ein Würmermahl zuträglicher sei als eine Bratenschnitte, daß zur Not trockene Brotkrumen mir besser täten als eine Scheibe Brot mit versalzenem Kuhfett und gewürzter Wurst. »Was sollen denn Braut und Schwiegervater denken, wenn Du Würmer schlingst!« rief er. Da hat man so recht die Menschen! Uns Spatzen kümmert gar nicht, was ein anderer von uns denkt; wir nehmen und tun, was wir lustig sind, und mit diesem Grundsatz wurden wir das mächtigste Volk dieser Erde!
Den Tag über mochte es noch gehen; was ich am Morgen vor der Verwandlung erpickt, hielt noch den schlimmsten Hunger ab. Als dann am Nachmittag der Herr Rat im Sofa ein weniges nickte – ihm gegenüber blies im Ohrensessel die Petronilla sanft durch die Nase –, schlich ich mich in den Garten und tat mich gütlich. Es gab da genug Pickenswertes. Ich muß überhaupt sagen, daß wir Spatzen, wie in allen Wissenschaften, auch in der Pickwissenschaft am weitesten fortgeschritten sind.
Drei Grade gibt es in dieser Wissenschaft, einen immer höher als den anderen. Den unteren Grad, die einfache Sättigung des Hungers, kennt alles Lebende. Es ist ein recht langweiliges Geschäft, wir Spatzen begnügen uns damit höchstens im tiefsten, strengsten Winter.
Der zweite Grad, das Anpicken, haben nur wenige Wesen mit uns gemein. Zu ihnen gehört der Mensch, und etwa noch das Schwein. Bei diesem feineren Grade ist der Hunger bereits gestillt, man pickt nun über den Hunger hinaus, da ein bißchen, dort ein weniges, und läßt um ein Bröselchen vieles verderben. So sehr der Mensch in diesem Falle unser Beispiel nachahmt, so erzürnt ist er doch auch wieder, wenn wir ihm im Frühsommer alle Kirschen an seinen Bäumen angepickt haben, so daß Fäulnis in sie eindringt. Da sieht man so recht die Verkehrtheit seiner Natur: diesen selben Menschen sah ich seinen Teller vollhäufen, daß die Tunke über den Rand tropfte und er es unmöglich bezwingen konnte. Er tats aber lieber in den Schweineeimer, als daß er es seinem hungernden Mitmenschen gönnte.
Der dritte und vornehmste Grad dieser Wissenschaft schließlich ist das Wüstpicken. In diesem Grade sind wir Spatzen unübertroffene Meister. Wenn etwa kurz vor der Erntezeit ein Feld Weizen recht stattlich auf des Bauern Sense wartet, verabredet sich unser ein ganzes Volk, bricht ein, knickt, pickt wüst, zerrt, läßt fallen, verstreut – und je größer die angerichtete Verwüstung ist, um so strahlender ist auch der Ruhm, den solches Volk erntet. Es gibt mutige Spatzenvölker, von denen die Überlieferung berichtet, die lieber Dutzende von Toten auf dem Kampfplatz ließen, als daß sie auf das Wüstpicken solcher Felder verzichtet hätten. Ewiger Ruhm ist ihnen sicher!
Um aber zu meinem Bericht zurückzukehren. Leider konnte ich bei meiner Exkursion in den bäuerlichen Garten nicht den zweiten, geschweige denn den dritten Grad des Pickens erreichen, denn unversehens trat der Bauer Spatt hinter einem Gebüsch hervor und fragte mich recht barsch, was ich da treibe. Keck erwiderte ich ihm, ich suche schädliches Gewürm, und nun wies ich dem Staunenden, wie meine spätzische Weisheit mich noch in der kleinsten Baumritze, hinter der sachtesten Rindenlockerung das entdecken ließ, was er recht töricht Ungeziefer nannte. Zwar blutete mein Herz und mein Magen kollerte kräftig protestierend, wenn ich seinen derben Lederschuh die seltensten Delikatessen der Jahreszeit zertreten sah. Aber ich hatte doch die Befriedigung, daß er am Ende milder sagte: »Du hast ein gutes Auge und viel Geschick für einen Obstgärtner, Guntram. Ganz unbrauchbar scheinst Du nicht.«
Ich bedankte mich mit tiefer Verbeugung für dieses seltsame Kompliment – denn wir Spatzen haben nicht den Ehrgeiz, brauchbar zu sein –, und wünschte mir Glück, daß ich meinen Hunger gezügelt hatte. Leider gelang mir das später, beim Abendessen, nicht so gut. Ich hätte wohl noch den Mangel jeder vernünftigen Eßware ertragen, und mich, in der Hoffnung auf die Nacht, mit dem bloßen Zusehen begnügt, aber der widerwärtige Anblick der Essenden, der ekle Geruch der verdorbenen Speisen, die der Mensch mit dem feindlichen Feuer und dem scharfen Gewürz wieder eßbar zu machen meint, schließlich der eigene Futternapf, den die Muhme Petronilla, die es besser hätte wissen müssen, immer voller häufte – all das erhitzte mir das ruhige Blut zu wildestem Fieber. Mit dem Löffel schlug ich in die auseinander spritzenden Gifte und piepte empört – was, weiß ich nicht mehr.
Doch sahen sie sogleich ein, daß sie mir mehr zugemutet, als ein edel Spatzenherz ertragen kann. Eilig führten sie mich aus der mit den üblen Freßdämpfen geschwängerten Diele in die reinere Luft des Stiegenhauses und endlich in meine Kammer, wo sie mich aufs Bett legten. Mit ernstem Wort wies der Herr Rat den Schreiber Bubo, der recht an der Wand festklebte, hinaus, schloß dann sorgfältig die Tür hinter ihm, setzte sich zu mir auf das Bett und sprach also: »Edler Spatz, ich weiß wohl, wie sehr Dich das niedrige Gefängnis dieses Menschenleibes bedrückt, leide doch auch ich Unsägliches in dieser schamlosen Nackthaut. Aber ich bitte Dich doch herzlich, Dich noch einige Tage zusammenzunehmen, bis wir Vater, Mädchen und Hof völlig in Fesseln geschlagen haben. Ich weiß, was Deinem erlauchten Verstande möglich ist – tu also mir zuliebe, was nur Du vermagst!«
Wir Spatzen haben immer die Gewohnheit gehabt, Bittende recht kräftig in den Kopf zu picken, auf daß sie noch tiefer geduckt werden. So wandte ich mich nur stöhnend auf meinem Lager und klagte, ich werde dem Bauern und seiner Tochter alles entdecken müssen, damit ich nur recht bald eine schöne Schwinge voller Weizenkörner bekomme. Oh, wie böse leuchteten da die gelben Augen des Listigen auf! »Hoho! Brüderchen! kommst Du mir so?« krächzte er. »So siehe zu, wie Dir dies gefällt!« und mit einem raschen Zauberwort hatte er mir meine Spatzengestalt wiedergegeben, während er als breitschwingige Eule auf mich niederstieß, ehe ich mich noch vor ihm in Loch oder Lücke hätte bergen können. Da saß ich Armer, gefangen zwischen seinen spitzen Fängen, nahe drohte sein krummer Schnabel, nahe glühten die bösen gelben Augen. Kläglich piepte ich um Gnade und versprach, ihm in allen Dingen zu Willen zu sein – denn man muß sich vor den Mächtigen dieser Erde ducken, wenn sie zürnen.
»Wirst Du fein Menschisch reden, elendes Spatzgetier?« krächzte er. »Wirst Du picken, was Dir auf den Teller getan wird? Wirst Du dem Mönchen schöne Augen machen und ihr Schnäbelchen küssen, so oft sie es verlangt?!« Zitternd versprach ich alles. »So wollen wir erst einmal«, krächzte er, »hier üben, wie man richtig auf Mensch geht, sich bewegt, steht. Du törichter Spatz bewegst Deine Arme noch immer, als seien es Flügel, und statt gesittet einher zu schreiten, hopst Du mit gebogenem Knie!«
Was soll ich sagen? Drei Stunden exerzierte der Grausame mit mir; in jede Haltung, nur in keine vernünftige, mußte ich meine Glieder bringen. Und zum Schluß übte dieser alte Kracher gar, wie ich das Mädchen etwa zu umfassen, zu umarmen, zu küssen hatte! »Küsse fester!« befahl er. »Feuriger! Drücke Deine Lippen mehr auf die meinen! Hast Du denn kein Feuer im Leibe?! Bist Du denn ein toter Schellfisch?!« Ach, mir wurde fast ohnmächtig bei der Berührung seiner welken, runzligen Lippen! Gar zu gerne hätte ich mich gegen ihn aufgelehnt, aber mutig hielt ich durch, eingedenk seiner scharfen Krallen und seines krummen Schnabels.
Schließlich – in tiefer Nacht – ließ er von mir ab und ging, indem er mir befahl, sofort ins Bett zu steigen. Völlig ermattet sank ich auf mein Lager, gänzlich verzweifelt war ich. Hätte ich gewußt, wo mich sicher vor ihm bergen, ich wäre auf der Stelle geflohen. Aber mir war bekannt, daß viele und geheime dunkle Mächte ihm hilfreich zur Seite standen und daß es keinen Fleck auf Erden gab, der vor seinen Häschern verborgen blieb. In den Nächten, da ich für den Schreiberberuf zurechtgestutzt wurde, hatte ich es wie einen grauen Schleier durch das Schlüsselloch seiner Stube rinnen sehen, und als es vor seinem Schreibtisch anlangte, waren es Fuchs und Maus gewesen. Die böse, spatzenfeindliche Natter und die sanfte Taube, das Eichhörnchen aus dem Walde wie der Maulwurf aus dem Erdenschoße hatten ihm Botschaft zugetragen – nirgend gab es Rettung vor ihm! Es blieb mir nichts, als auszuharren und auf irgend eine glückliche Erlösung zu hoffen.
Allmählich überkam der Schlummer mich Verzweifelten, und als ich, von einem stinkenden Qualm erweckt, erwachte, brannte das Licht mit langer Schnuppe. Ich stützte den Kopf auf und lauschte in das Haus. Alles war totenstill, alles schlief wohl längst. Plötzlich fiel mir ein, daß ich im Traum über einem herrlichen Kornfeld dahin geflogen war. So oft ich mich aber, von den Körnern zu picken, hinablassen wollte, hinderte ein feines Netz, das dem Auge aus der Höhe unsichtbar blieb, mich daran. Ein quälendes Gefühl in meinem Leibe erinnerte mich, daß dieser Traum mich nicht umsonst aufgesucht hatte: die vom Bauern unterbrochene Würmermahlzeit war verbraucht und der Magen schrie nach neuer Atzung.
Ich stieß das Fenster auf und spähte hinaus. Aber kein Mond schien, es war völlig dunkel und ganz unmöglich, bei dieser Schwärze einen Wurm zu finden. Plötzlich fiel mir der Pferdestall ein und die Futterkiste auf seinem Gang, die ich heute auf einem Rundgang gesehen. Barg sie auch nicht Weizen oder Roggen, hat er Hunger, nimmt der Spatz auch mit Hafer vorlieb.
Eilig ergriff ich den Leuchter und leise schlich ich mich durch das schlafende Haus in den unteren Stock. Durch die Ritzen der Wohnstubentür sah ich Licht, auch meinte ich Gemurmel zu hören; um so leiser drückte ich die Tür nach dem Hofe zu auf. Für den mutigsten Spatzen ist es – auch in menschlicher Gestalt – ein waghalsiges Unterfangen, auf nächtlichen Abenteuern unterwegs zu sein. Wir Spatzen lieben das Licht und hassen das Dunkel, in dem nur unsere Feinde, die Katzen, Eulen, Käuze, Uhus gespenstern. Wie leicht konnte solch Katzentier mich auf meinem Weg belauern, mich im Dunkel anspringen und zerreißen Ach, heldischer Spatz, in Deinem Über-Mut vergißt Du ganz, daß Du in Deiner Menschengestalt bist, 1,76 Meter hoch und 65 Kilogramm schwer – ein etwas zu kräftiger Bissen auch für den größten Kater! (Anmerkung des Herausgebers.)! Sorglich schirmte ich das mit freundlichem Gelb leuchtende Licht und wagte heldenhaft den Gang.
Aber wie ward ich enttäuscht, als ich zur Futterkiste kam! Ein durch eine Eisenkrampe gezogenes Schloß schützte den Inhalt der Kiste vor jedem Zugriff! Ich rüttelte an dem Deckel, dann versuchte ich die Krampe herauszuziehn – alles umsonst! Ich suchte mit dem Licht auf der Erde, ich wagte mich bis an die Futterkrippe der Pferde, ob nicht wenigstens ein verstreutes, vergessenes Körnchen zu finden sei – aber nichts!
›Der Bauch zuerst!‹ Diese edle Spatzenweisheit hatte mich nun ganz entflammt. Ich war fest entschlossen, nicht eher ins Bett zu gehen, ehe ich nicht meinen Hunger gestillt. Schon war der kühne Plan entworfen und beschlossen, den späten Murmler in der kleinen Wohnstube, vermutlich den Bauern selbst, um die Schlüssel zu bitten; wollen wir Spatzen erst einmal etwas, so setzen wir es auch durch! Ich hatte Hunger, also wollte ich.
Ich brauchte nicht bis in die Wohnstube zu gehen. In der Küche fand ich eine junge Magd, die, mit gelöstem Haar und Nachtjacke und Rock recht mangelhaft bekleidet, nach einer Mausefalle suchte. Eine Maus hatte sie in ihrem Schlafe gestört und statt, wie es ein Spatz getan hätte, bei ungünstigen Umständen einfach einen anderen Sitz- und Ruheplatz zu suchen, sann sie recht nach Menschenart auf Mord an diesem uns Spatzen so verwandten Tier.
Die Schöne errötete gewaltig, als ich sie in so mangelhafter Kleidung überraschte, und, wahrlich! sie hatte alle Ursache dazu, denn der Anblick ihres bloßen Fleisches war höchst widerwärtig! Leise kreischend forderte sie mich auf, sofort wegzugehn, dabei aber hielt sie meine Hand wie im höchsten Schrecken umklammert. Ich kenne diese zippe Art wohl von unseren Spatzenfräuleins, die auch tun, als sähen sie unsereinen nicht, um so verführerischer aber mit den Flügeln schlagen und mit dem Bürzel wogen. Hier hilft nur äußerste Grobheit, sonst verrennen sie sich ganz in ihren Liebeswahn. – »Wo schlafen die Knechte?« fragte ich scharf. Sie kreischte, aber nur leise: »Oh, was das Herrchen von mir denkt! Für solche hat doch meine Mutter keine Tochter gekriegt.« – »Gans!« schalt ich nach Menschenart und tat ihr damit mehr Ehre an, als sie verdiente. »Ich will wissen, wo die Knechte schlafen. Ich brauche die Schlüssel zur Futterkiste.« – »Ach, Herrchen!« bettelte sie. »Helft mir doch, die Maus fangen! Kommt mit – sicher sitzt sie unter meinem Bett.«
Scheinbar willig ging ich mit ihr, denn ich erriet, daß die Knechtstube in der Nähe der Magdstube sein müsse. Im Wohnzimmer brannte noch immer Licht, und die Lautlosigkeit, zu der wir dadurch genötigt waren, benutzte die Liebestolle, meine Hand auf ihr pochendes Herz zu legen. Beschämt gestehe ich, daß ich schon so vermenscht war, daß dies mir einiges Vergnügen bereitete.
Doch: ›Der Bauch zuerst!‹ – und als ich schon mit ihr in ihre Kammer zu treten schien, fragte ich gedankenlos, leichthin: »Und wo schlafen die Knechte?« Sie wies auf eine Tür gegenüber. Mit einem Ruck machte ich mich los, sprang hinüber und hinein, noch hörte ich den leisen, bedauernden Aufschrei hinter mir ...
Das Licht meiner Kerze erhellte nur unzureichend den kleinen Raum mit seinen zwei Betten, dessen schlechte Luft mir fast die Besinnung nahm. Doch erkannte ich in dem einen Bett einen ältlichen, schwärzlichen Knecht, den ich beim Essen schon gesehen, in dem andern aber jenen dicken, ungefügen, jungen Burschen, den ich am Nachmittage durch meine Vertraulichkeiten mit dem Mönchen so sehr gereizt ... Doch muß ich gestehn, daß mir diese Tatsache im Augenblick völlig entfallen war, sonst hätte ich wohl kaum so kühn in der Kammer gestanden! Vorsicht, umsichtigste Vorsicht ist eine Eigenschaft, die das Spatzengeschlecht über alle Geschlechter dieser Erde erhoben hat. Daß ich sie im Augenblick so völlig außer acht ließ, lag nicht nur an meiner Umwandlung in Menschengestalt. Der mutige Gang über den nachtdunklen Hof, die Begegnis mit der liebestollen Magd, vor allem aber der nagende Hunger in meinen Eingeweiden – dies alles hinderte mich, an Vergangenes zu denken, vorsichtig zu sein.
So fragte ich denn ganz kühn den schwärzlichen Knecht, der vom Licht meiner Kerze erwacht war, um die Schlüssel zur Futterkiste. Der Alte sah mich prüfend an, dann stieß er seinen weiterschlafenden Bettnachbarn derb an: »Du, Enak! Sollst die Futterschlüssel hergeben!«
Nur schwer ermunterte sich der grobe Bengel. Zehnmal drehte er sich wieder in seine Decken und Kissen, doch stets von neuem stieß ihn der Alte wach. Schließlich setzte sich Enak im Bette auf, rieb sich die Augen und sah mich an, als sei ich eine Traumfigur. Doch als er schließlich begriffen, daß Ich Ich sei, war er völlig wach und sagte gehorsam: »Die Futterschlüssel? Ja, Herre, ich komme gleich mit.« Der drohende Stimmklang, die düsteren Blicke, alles hätte mich warnen sollen, immer noch war Flucht möglich. Aber in dieser Nacht war ich von allen guten Mächten verlassen, nur ungeduldig nach meinem Hafer sah ich zu, wie der Knecht seine Hosen anzog –
Ich sah noch den Ältlichen schmunzeln ...
Knecht Enak fuhr mit beiden Beinen in seine Langschäfter ...
Ach, hätten sie mich doch in der Stadt gelassen!
Ende des dritten Einsprengsels
Der Rat Asio rannte, den Leuchter in der Hand, den oberen Gang entlang, so schnell er nur konnte. Der echte Guntram Spatt in seiner Schlafrocktasche arbeitete sachte, doch eifrig gegen den Druck des Stoffes, gegen die Taschenklappe an, die wie ein Dach über seinem Kopf saß. Ohrenbetäubend gellte das Hilfe-Geschrei des falschen Guntram aus der Knechtekammer, der in keinem besseren Gefängnis steckte als der echte, nämlich zwischen den derben Oberschenkeln des Enak. Nächtlich vermummte oder entblößte Gestalten spähten durch Türen, traten schon, hilfsbereit oder neugierig, auf den Gang hinaus. Der Notschrei des gepeinigten Leibes hatte fromme Zucht und Sitte vergessen lassen. Zilli merkte nicht, daß sie nur im Hemde war, die Muhme Petronilla zeigte ihren Kahlkopf, den niemand unter ihrem ehrwürdig weißen Altershaar geahnt, und bei der Nachtjacke der jungen Magd standen noch zwei Knöpfe mehr auf. Nur die Türen des Bauern und seiner Tochter Monika waren noch geschlossen.
Welch kläglicher Anblick aber bot sich dem Rat dar, als er flugs und ohne Zögern in die Knechtekammer trat! Auf seiner Bettkante saß der Knecht Enak, seine kleinen, schwarzen Augen funkelten vor wilder Wut. Zwischen den Beinen eingeklemmt hielt er den falschen Schreiber und taktmäßig, mit ungeheurer Wucht, fielen seine schweren Fäuste auf Rücken und Gesäß des Unglücklichen nieder. »Das Feldgeschrei, Bursche!« verlangte der Knecht. »Sage an das Feldgeschrei, daß ich auch nicht den Falschen gerbe!« Der andre aber verstärkte nur beim Anblick des Rates sein jämmerliches Hilfegeschrei, doch war vor lauter piependen I-Lauten ganz und gar nicht auszumachen, wie er denn in diese Lage gekommen sei. Der Knecht hingegen rief: »Falsch das Feldgeschrei! Ich gerbe den Rechten!« und schlug schweigend weiter. Schrie jener lauter, schlug dieser fester, und beider Beginnen schien immer noch größerer Steigerung fähig.
Der ratlos umherirrende Blick des nun auch recht erregten Herrn Asio übersah das Einzige, was etwas Licht in das Dunkel der Geschehnisse hätte bringen können: die von Igelstacheln gespickten, heftig blutenden Füße des Knechts. Er blieb auf einem stark wellenden und wogenden Kissengebirge haften, aus dem von Zeit zu Zeit Teile des in Lachkrämpfen sich windenden ältlichen Knechtes auftauchten. »Was bedeutet dies?« fragte er schwach. Doch der Alte war zu sehr in den Genuß der Schadenfreude versunken, um antworten zu können, nur das rätselvolle Wort: »Igel –! Igel –!« tönte dumpf aus den Kissen.
So eilte Herr Asio beherzt auf den Knecht Enak zu, schüttelte ihn mit der Hand an der Schulter und rief: »Hör Er sofort auf, Er Kerl, mit diesem unzüchtigen Beginnen, was hat ihm dieser Unschuldige tun können?!«
Der Knecht wankte so wenig unter diesem Rütteln, wie eine hundertjährige Eiche vom Schütteln einer menschlichen Hand sich gerührt hätte. Doch rann von der schief gehaltenen Kerze des Rats ein ganzer siedender Talgstrom in den Nacken des unseligen falschen Schreibers und entlockte ihm einen Schrei, gellender, fürchterlicher als jeder vorhergehende. Dies brachte den Bauern auf den Plan; anständig mit einer blauen Beiderwandjacke bekleidet, trat er ein, ging auf den Knecht zu und rief ihn an: »Enak, bist Du toll geworden?! Sofort hörst Du auf.«
Enak starrte einen Augenblick seinen Hofbauern an, einen Augenblick war es, als erwache er aus seinem Zornesrausch für die Umwelt. Aber schon erinnerten ihn wieder die brennenden, wie mit Dolchen stechenden Schmerzen der Füße an die Untat, und von neuem fielen die Fäuste auf den Ächzenden.
Auf der einen Seite der Rat, auf der anderen der Bauer zerrten, pufften, schlugen sie den Enak jetzt, der unermüdlich walkte. Dabei warfen sie einander bittere Worte zu. Erzürnt verlangte der Herr Rat, daß der Bauer sofort seinen Knecht wieder unter Botmäßigkeit und in Zucht bringe; der Bauer fragte dagegen, was der Bengel denn in der Knechtestube zu suchen habe. Hinter ihnen tanzte, dumpf durch die Kissen prustend, der ältliche, schwärzliche Knecht seinen Schalksnarrentanz.
Nun aber trat durch die sich in der Tür drängenden Zuschauer, die das ungewohnte Nachtspiel als Belebung des dörflichen Einerleis mit vollen Zügen genossen, die schöne Monika. Frisch wie der frühe Morgen, anständig gekleidet, ein gutes, geblümtes Tuch um das nur lose aufgesteckte Haar, ging sie auf die Gruppe der Schläger und Geschlagenen los. Unverzüglich sah ihr Auge Ursache dieses Gemenges. »Vater!« rief sie bittend. »Herr Rat!« sprach sie mahnend. »Enak! Oh, Enak!« rief sie ihn sanft an.
Es war, als fiele ein Wolkenbruch rauschend in ein aufzüngelndes Feuer. Die zum Schlage erhobenen Arme sanken herab, die zornverzerrten Gesichter hoben sich ihr entgegen und glätteten sich, tiefe Stille trat ein, und nur der immer noch zwischen den Beinen Eingeklemmte ächzte leise weiter und kam nicht in den Genuß des Gesichtes von diesem Friedensengel. Sondern er mußte weiter in ein Astloch der Dielen starren, in das er sich schon manche qualvolle Minute vorher so gerne verkrochen hätte.
Mit behutsamen Händen zog die umsichtige Monika den einen, dann den andern arg gequetschten Igel aus den dunklen Röhren ihres Verließes. »Oh!« rief sie, »welcher Feigling hat euch nützliche, listige, mäusefresserische Stacheltiere zu solchem Bubenstück mißbraucht?! Marsch, los, Elsa«, rief sie der jungen Magd zu. »Hinunter mit ihnen in die Küche und ihnen warme Milch und geschabtes Fleisch gegeben, daß sie uns nur nicht eingehen! Aber mach erst einmal die Knöpfe Deiner Jacke zu – bist Du denn eine Schlampen oder eine ehrliche Magd?!«
Errötend nestelte das Mädchen an seinen Knöpfen; die Igel aber, als ahnten sie das freundliche Gemüt, schnüffelten mit ihren schwarzen Schnobernasen auf den Armen der Monika und hatten die Stacheln fein glatt gelegt. Freilich sträubten sie sie sofort, als sie der Magd zugereicht wurden, die sich mit ihnen treppab trollte.
»Und nun laß endlich den Armen aus Deinen Beinen, Enak!« befahl das Mädchen weiter. Und gehorsam klappte Enak die Schenkel auseinander. Aufseufzend sank der falsche Guntram zur Erde. Ihm sprangen der Rat wie der Bauer zur Hilfe, während Monika die Füße des Knechtes in eine Waschschüssel tauchte und mit sanfter Hand die Stachelspitzen auszog. Die beiden männlichen Helfer wollten ihren sterbensbleichen Betreuten zum Sitzen bringen, aber gerade das widerstrebte ihm gänzlich. Die einzig ruhevolle Stellung schien seinem gepeinigten Gesäß die Bauchlage. So wirtschafteten die drei stumm, aber eifrig. Saß der falsche Guntram halb, rollte er auch schon wieder nieder. Unermüdet hoben sie ihn, hartnäckig entglitt er ihnen wieder.
Über den Füßen Enaks, der milde lächelnd sich die Pflege gefallen ließ, rief Monika: »Und wer hat Dir so übel mitgespielt, Enak? Sprich doch, antworte!« – Im Kopfe von Enak war alles von Anfang an klar gewesen: wer die Monika, ihm zum Tort, zwickte, war ein Schurke. Nur ein Schurke hatte die Igel in die Stulpen gesteckt. Und da der Schurke den Erfolg seines Streiches nicht abwarten konnte, war er unter dem falschen Vorwand, die Futterschlüssel haben zu wollen, nächtens in die Kammer gedrungen. So hob Enak auf die Frage des Mädchens nur den Finger, wies und sprach: »Dieser!«
Doch die kluge Monika sah klarer. Zum anderen Bett rief sie streng: »Du da, alter Maulwurf, schäle Dich aus Deinen Kissen! Sieh mich an und sag, wer die Igel in die Stiefel gesteckt!«
Langsam und zögernd nur kroch der Schwärzliche aus seinen Hüllen, auf die Lust sollte Leid folgen, und dieses mögen die Menschen nie, wie oft sie es auch von Kindesbeinen an erfahren. Doch war ihm noch ein kleiner Aufschub gewährt. Ehe er noch ganz enthüllt antworten konnte, fuhr aus der Tasche des Herrn Rat aufpiepend der Spatz. Die Stimme des geliebten Mädchens, die selbst durch die dicke Wattierung des Schlafrocks zu ihm gedrungen, hatte ihm die Kräfte eines Überspatzen verliehen. Er hatte die Deckelklappe gesprengt und stieg flatternd nun auf in Licht und Freiheit.
Wütend über dieses neue Ärgernis ließ Herr Asio den Kopf des Verletzten los, der hohl dröhnend gegen die Dielen schlug. Eilig sprang er dem Ausreißer nach und griff nach ihm. Doch dieses Mal war der Spatz dem Zauberer überlegen, rasch flatternd landete er auf der Schulter der Monika und schmiegte seinen Leib gegen ihre Wange, kläglich piepend, als erbitte er Hilfe.
»Mit Verlaub, mein schönes Kind!« rief der Rat hastig und griff nach Vogel und Mädchen. – »Aber nein, hoher Herr!« rief die Schöne zurücktretend. »Bei mir hat er Schutz gesucht und – mit Verlaub – er sei dir gewährt, kleiner Bettelmann.« Der Spatz piepte in herzlicher Dankbarkeit. – »Es ist mein Spatz«, beharrte der Rat und ging ihr nach. »Ich habe ihn mit unsäglicher Mühe zu einer recht künstlichen Uhr abgerichtet. Schon vermag er die vollen Stunden zu piepen, drücke ich ihn auf den Bauch.« Und er griff wieder nach dem Vogel. – »Monika!« rief schrill die Muhme Petronilla von der Tür her. »Du ungezogenes Mädchen wirst doch nicht dem Herrn Rat widerstehen?!«
Unschlüssig blickte Monika, ängstlich piepte der Spatz an ihrem weißen Halse. Doch gewaltig platschend trat aus der Schüssel Enak und stellte sich vor die Bauerstochter. »Der Spatz ist ihrer«, sagte er drohend. »Wenn sie es sagt, ist er ihrer.« – Und griesgrämig bemerkte auch der Bauer: »Ich hoffe, Herr Rat, Ihr seid nicht auch mit diesem unverschämten Vogelunwesen behaftet, das der fortgejagte Betrüger hier eingeschleppt!«
»Aber keineswegs, verehrter Herr Spatt!« versicherte der Rat eilig, der einsah, daß der Riese Enak doch jeden Zugriff vereitelte, und auf eine günstigere Stunde hoffte. »Ich verehre das Tier gern dem Fräulein als Angebinde. Zwar habe ich manche Stunde auf seine Unterweisung verwandt, aber«, sagte er recht hämisch lächelnd, »ich kann versichern, daß er nichts ist als ein Spatz. Ein gemeiner, frecher, verfressener, lügnerischer Spatz – und nie wird er etwas anderes sein.«
»Schelten sie dich arg, Armer?« fragte das Mädchen und drückte sanft ihre Wange gegen das Gefieder des Vogels. »Bist doch auch du nicht anders, als dich unser Herrgott erschaffen hat, und mag es wohl sein, daß mancher von uns in dessen Augen noch weniger ist als ein Spatz.«
Damit sah sie den Herrn Rat recht mutig an, legte die Hand schützend um den Vogel und ging eilig mit ihm in ihre Kammer, deren Tür sofort von ihr verriegelt ward.