Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Die erste Schule

Wir wohnten in einem Schulhaus, meine Mutter war Arbeitslehrerin, den ganzen Vor- und Nachmittag hörte ich im linken Flügel das Summen der Buben, im rechten Flügel das Lispeln der Mädchen aus dem Erdgeschoss herauf. Spielte ich im Garten, so vernahm ich, wie die Lehrschwestern mit den schwarzen Hauben meist so gütig, der Lehrer bei den gröbern Knaben meist so scharf dozierte und ab und zu den Stecken sausen liess. So war ich an die Schule und Schüler gewöhnt, ass sogar mit dem Schulmeister am gleichen Küchentisch, fürchtete ihn gar nicht und sträubte mich doch heillos vor dem ersten Gang in die enge, verschnitzelte, den Morgen und die Freiheit des Kindes stehlende Schulbank.

Der Lehrer meinte es gut. Er bemühte sich ehrlich. Aber was half das, wenn aus diesem Brunnen, der uns tränken sollte, nur brave Pflicht, aber so wenig Begeisterung und so viel Langeweile floss. Pflicht gibt Brot, jawohl, aber Liebe gäbe Butter und Honig dazu.

So habe ich die Erinnerung an schöne Gerechtigkeit und treue Arbeit des Lehrers; aber wenn das zwei stramme Palmen sind, so genoss ich wenigstens davon wenig Schatten und sehe weitherum Sandwüste. Vielleicht ist das eher meine als des Lehrers Schuld. Denn ich war furchtbar beschäftigungsbedürftig, aber nur in dem, was mir gefiel, in Geschichte, Geographie, Lesebuch, Religionsunterricht. Im andern blieb ich träge und unaufmerksam. Doch gerade in diesem andern war der Lehrer stärker und dringlicher.

Das Schönste an der Schule war für mich die Pause, das Zum-Fenster-hinaus-Gucken, das heimliche Lesen unter der Banklade, kurz: das Verbotene, die Nichtschule. Im Lesebuch gab es eine Menge aufregender Geschichtlein aus der Geschichte. Dann besass ich von den Züricher und Berner Verwandten noch das Lesebuch der Sekundarschulen. Diese Blätter tastete ich nicht bloss mit den Fingern, sondern mit dem ganzen lebenheischenden Knabenherzen ab. Ich hielt sie während dem Schönschreiben, Rechnen, den Schuldscheinen, Quittungen, Geschäftsbriefen immer auf den Knien.

Diese unvergesslichen, mit Bildern gesegneten Histörchen: Wie man im Pfahlbaudorf lebte, fischte, jagte, wie die Helveter auszogen, wie die Römer kamen, Cäsar, Cäsar, Cäsar! Das gewaltige Rom, aber noch gewaltiger der Katakombengeist. Polykarps Traum vom brennenden Kissen, Ignazius vor die Löwen, Konstantins Sieg, die bärtigen Mönche in unserer Wildnis, Heinrich der Finkler, die Ungarn, festgemauerte Städte, das berühmte Kloster St. Gallen, Äpfel unter die Schüler geworfen, aber keiner steht auf, sie deklinieren weiter: der Tisch, des Tisches, dem Tische – die Kreuzfahrer, Saladin und der hinreissende Held Barbarossa. Und die Vögte und unsere Schlachtfelder, Lawinen,

Wildbäche, Lämmergeier und Bergstürze. Und Kannitverstan und Stephansdom und Kolumbus und das aus Eis und Feuer geborene Island. Welche Fenster und Türen gehen auf, welche Winde blasen hinein, wie weit man sieht, bis zum Porzellanturm in China, zum Schwerthai in Westindien, zum Grizzlibär im Felsengebirge. Welt, o Welt, ich spanne die Arme, aber ach, die enge Bank und der noch engere Schnauf!

Aber im Sommer ging das Lesen vom Buch in die Landstrasse hinaus, vom Papier ins Leben. Da fuhren die vielen Kutschen mit Zwei- und Viergespann und die gelbe, hochgieblige Post sogar mit fünf und sechs Rossen am Garten vorbei. Das war nicht wie heute, wo jeder im Auto vorbeiprotzt und sich Herr Babylon und Salomon schelten lässt und wo von Dutzend Baroninnen elf ganz gewöhnliche Kartoffeln sind. O nein, damals musste das, was heute fährt, zu Fuss gehen (und war der glücklichste aller Touristen!). Was aber damals fuhr, gibt es nicht mehr oder erst, wenn die Strasse wieder dem Wanderschuh und den fröhlichen Pferdehufen gehört und das Auto fern davon seine eigenherrliche Bahn hat. Jetzt ist es ein Tyrann und Räuber der Strasse und verscheucht diese köstlichen Menschen.

Man sagte wohl, sie kämen von Luzern und wollten nach Interlaken. Aber eigentlich kamen sie von den Adelssitzen Englands, von den Universitäten der Union, von Königshöfen, aus Stuben des Ruhms, des Opfers, der Resignation, der Weltnützlichkeit, vor allem kamen sie aus reiner Liebe und Beschaulichkeit für das schöne Gebirgsland. Sie hatten Geld, gut. Aber sie hatten noch mehr: Liebe, und, passet auf, sie hatten noch Grösseres: sie hatten Zeit. Wenn wir ihnen Blumen zuwarfen, lächelten sie oder warfen uns Süssigkeiten, ja, Silber zu und wünschten, dass der Postillion langsamer fahre, und fragten etwa, wie der Berg dort heisse, der graue, worauf dann der Spichtigtoni schwerfällig und in melodischer Mundart sagte: »Oh, das ist ein alter, ein ganz alter Berg!« Sie lachten, tätschelten ihn auf die braune Backe und sagten: »So heisst er einfach Berg?« »Ja,« betonte der Bub wichtig, »gerade so heisst er: Berg.«

Und aus einem eleganten Landauer lehnt sich eine Prinzessin Bourbon und zeigt auf Elvezio Fransiolis Wiese, wo die lebkuchenbraunen Kühe weiden und ein friedlicher Stier mit ihnen grast. Und das alte Fräulein mit dem vielen falschen Haar fragt auf deutsch: »Warum so viele ›Madame und nur ein ›Mussiö‹?« Jetzt lachen wir. Oh, wie wir lachen! bis der Kutscher mit der Geissel droht. Aber er lacht auch, und die Prinzessin sagt: »Brav, lustike Kind, lustike Kind, brav!«

So fuhr der Bayernkönig vorbei, der Märchenkönig. Wie bildschön er damals war! Wie gerne zogen ihn die geschmückten rassigen Rappen. Deutsche Prinzen und alemannische Könige folgten, frisch die einen, gemütlich die andern. Dann ein Napoleon und ein Orleans. Wo waren die Kronen? So mageres Haar, so müde Gesichter, statt des Szepters eine dicke Zigarre in der Hand, die Armen! Und weiter Gladstone, der Gewaltige. Er las etwas vor, und steif horchten zwei langgesichtige Damen. Dieser Adler der Redner und doch so ein Tor! Vorlesen soll er in seinen Rathaussälen, aber jetzt heftig herumgucken, denn so etwas wie unser Obwalden sieht er nicht wieder. Dom Pedro, Brasiliens letzter Kaiser, genau mit dem weissen Bart, den er auf den Briefmarken zeigt, rollte mit geduldigem Lächeln vorbei. Ach, dem machte wohl sein ungeheures Reich und die ungeheure Krone Kopfweh. Jetzt hatte er sie wohl in dem grossen, goldnägelbeschlagenen Koffer und trug dafür ein Seidenmützchen im Haar. Wagner und Liszt, Edison und die beredten Gegner Louis Veuillot und Bischof Dupanloup, Kardinäle, Moltke, indische Rajas und General Booth, wir sahen sie alle, aber wurden sehr böse, als Adelina Patti mit drei Kutschen vorbeifuhr, schlafend und keine Nachtigall auf dem Munde, wie man uns doch versprochen hatte. Auch von einem Amerikaner wird berichtet, der immer lache und andere zum Lachen bringe: Marc Twain. Heisst man das in Amerika lachen? Er zog die buschigen Brauen zusammen, stellte den Schnurrbart vor und sah aus wie Sauerampfer. Er hatte schon zweimal auf kurzer Strecke eine Rast einschalten müssen, weil das eine Pferd, ein Fuchs, verweigerte, im Takt mit dem Kamerad zu laufen. Und doch fehlte ihm nichts. Das nahm dem weltberühmten Humoristen schon den Humor. Aber zu Hause wird er ein witziges Abenteuer daraus erschwindeln. Hätte ich damals schon gewusst, wer er eigentlich war, ich hätte ihm zugerufen: Du Verstellungskünstler!

Aber wir Kinder wussten nur, dass dies alles berühmte Leute seien, das Gerücht ging ihnen durch die Zeitung oder die Gasthöfe, wo sie einkehrten, munter voraus. Uns schienen sie eigentlich furchtbar gewöhnlich, fast immer unappetitlichen Gesichts, doch waren sie meist wach, hell und lustig und darum uns doch nicht unlieb.

Die obersten Eidgenossen freilich hatten keine eigenen Kutschen und bestellten einen ordinären Platz in der Allerweltspost. Ja, der Bundespräsident ging sogar zu Fuss bis Lungern, mit einem Bambusstöcklein, und trocknete die vaterländische Stirne mit einem ungeheuren, dunkelblauen Sacktuch.

»Schön haben es diese Menschen,« zirpten die Mädchen, »können Kutsche fahren Tag und Nacht.«

»Aber sie müssen weiter und weiter«, brummten die Buben, »wie der ewige Jude. Sie dürfen nicht wie wir hier am See bleiben, barfuss laufen und kuhwarme Milch trinken.«

Dann liefen wir wieder in die Schulstube. Ach, wie dunkel war sie jetzt!

Was mussten erst die Bergbauernbuben leiden! Sie wollten ja nicht studieren wie ich. Sie wollten Luft, Wiese, Wald. Ihre starken Glieder sprengten schier die Bank auseinander. Ihnen wurde wie einer Gemse hinter Gittern. Acht Jahre Schulbank, es war zum Verzweifeln. Wenn ich denke, wie sie ihre massiven Leiber in die Enge hineinmarterten, wie ihre schweren Hände, die schon molken und Rinder am Horn führten, sich mit dem zerbrechlichen Griffel stundenlang abgeben mussten, dann fällt mir mehr als je auf, woher denn der Staat das Recht zu dieser Bank- und Griffelzwängerei nehme, ob das Wort Allgemeinbildung denn allen Freiheitsraub rechtfertige. Viele, viele Schulkinder sind Märtyrer.

An den jährlichen Examen glänzten wir nicht. Es kam der prachtvolle allmächtige Sachsler Magistrat Landammann Hermann, es kamen Pfarrer und Helfer und etliche Ratsherren, wir Buben steckten im steifen Sonntagskleid und in einer noch steifern, hölzernen Unbeweglichkeit, das gerade Gegenteil der Mädchenschule.

Aber dieser Vormittag bekam doch einen kurzweiligen Wellenschlag durch den Schulinspektor Ignaz von Ah. Dieser Pfarrer von Kerns, ein Sachsler von Geburt, war die geistliche Berühmtheit Obwaldens. Ein untersetzter dicker Mann mit krummen Beinen, einem schielenden Auge, einem kropfigen Hals, langen Silberlocken, aber dem Zeichen des Genies auf Stirne und Mund, so stürzte er mit übersprudelnden Lippen in unsere Schulstuben. Naiv wie ein Kind, unruhig wie ein Zigeuner, weise wie ein Denker war er gefürchtet fast mehr als geliebt. Denn aus seinem Munde wuchs der Witz, auch der Schelmenwitz, wie Gras. Niemand sang so schön die heilige Messe und predigte so gewaltig von der Kanzel, aber niemand holderte und kolderte auch so ungeniert durch den Tag, so dass sich das Sprichwort bildete: Wenn er in der Kirche ist, sollte man ihn nicht mehr hinaus, wenn er draussen ist, nicht mehr hinein lassen. Sein schlagfertiger Geist hatte ihm eine solche Überlegenheit gesichert, dass ihm alles mit Hochachtung begegnete und seine Sprüche, bitter oder süss, wie Goldmünzen auffing.

Er war ein unberechenbarer Mann und insofern der Schrecken aller Schulmeisterlichkeit. Alles Mechanische war ihm zuwider. Eigenes Denken und Verstehen stand ihm obenan, und Schule für das praktische Leben. Indem er selbst examinierte, wurde es gar oft ebenso sehr ein Examen der Lehrer wie der Kinder. Aber es war kurzweilig, blitzte und hieb durch jede Minute, regnete Spässe und warf uns mit Hüst und Hott das verklebte Gehirn auseinander.

Einmal nahm er das Amtsblatt aus dem Rock, das jeden Samstag die Verhandlungen der Behörden, die öffentlichen Bekanntmachungen, die Versteigerungen, Konkurse, Käufe und Verkäufe, Geburten, Hochzeiten, Todesfälle, die Erlasse für Steg und Weg, Steuer, Wasser und Feuer, Vieh und Markt, Prozesse und Verträge publiziert und auf wenigen Seiten das gesamte vaterländische Leben darstellt. Vom Titel bis zum letzten Satz, Wort für Wort, nahm der Inspektor das Blatt mit uns durch. Aber vor diesem lebendigsten, praktischen Wissen standen wir wie Ochsen am Berg. Doch fühlten wir deutlich: Das nun wäre eigentlich Schule.

Ein andermal gab es nichts als Hebels Gedicht: Weischt, wo der Weg zuem Guldi (Gulden) isch? Und wieder blieben wir vor dieser goldenen Weisheit des täglichen Lebens stumm wie Fische, verstanden die famosen Treffer nicht und staunten hernach über ihre Selbstverständlichkeit.

Ignaz von Ah hat auch Theater verfasst. »Der Löwe von Luzern« hiess eines. Ich sah es später als Sarner Student in Stans aufgeführt. Drei Bilder sind mir geblieben: im Anfang ein Kilbitanz mit hinreissender alter Musik, dann Ludwigs XIV. Kammerdiener, der sich empört, weil der Audienzsucher keine silberne Schnalle an den Schuhen trägt, während es im selben Moment dem Königtum um den Kopf geht; endlich wie die Schweizergardisten vor dem sichern Tod durch die Volksmeute ihr heiliges Banner in eine Gruft hinunterrollen. Aber all diesem für den Augenblick mitreissenden Dichten fehlt die Reife, die Ruhe, die Geläutertheit. In diesem frommen Priester wogte eine grosse Welle Vagabundenblut auf und ab und jagte das Herz oft aus dem Gleichgewicht. Er ist auch unerwartet, in kurzer stürmischer Krankheit abgetreten, und ein sagenhaftes Andenken umgibt ihn bereits. Als seine rasche vierschrötige Gestalt nicht mehr über die Strasse wanderte und sein unermüdlicher Bariton nicht mehr die Ohren füllte, da schien eine Weile Obwalden wie ausgestorben.

Viele seiner Predigten sind gedruckt, so auch die berühmte Käferpredigt. Er nahm kein Blatt vor den Mund, auch wenn der schweizerische Bundespräsident oder ein Kirchenfürst unter der Kanzel zuhörten. Wäre von Ah Advokat, Parteiführer, Professor geworden, er hätte ohne Zweifel Mächtiges geleistet, aber bei seinem ungeheuerlichen Temperament sicher gehörig über die Stränge gehauen und vielleicht ebenso viel Sturm als Friede ins Land gebracht. Nur das Priesterkleid und der weise, heilige Zwang, den es auferlegt, konnte einen solchen Feuergeist bändigen und mit kongenialer Arbeit sättigen.

Wir Schulbuben begriffen damals nur die humorvolle Seite dieses Originals und mussten über seine handfesten Witze lachen. Aber der Lehrer fühlte wohl neben diesem saftigen Leben die Dürre und Dürftigkeit seiner Theorie deutlicher als je. Aber dann tröstete er sich: »Oh, wenn der Inspektor alle Tage in diese Schulstube kommen und dozieren müsste ... immer am gleichen Tisch hobeln und hobeln und hobeln, oh, der Spass würde ihm auch ausgehen, und es gäbe Späne ... ja, Hobelspäne wie bei mir!«


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