Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Entladung

Aber in unser Leben sollte der brave Schulmeister noch einmal laut genug donnern.

Im Zwischenraum von Jahren kam der Vater mit seinem weitkrempigen Filz, dem gelben Stock, der Mappe unter dem Arm, als übte er noch immer den Beruf, wohl vier-, fünfmal in tiefer Nacht zu uns. Wohlwollende Leute rieten Verena, den Vagabunden nicht mehr einzulassen, da er ja nur Unruhe bringe, den letzten Rappen hole und mit einem flüchtigen Kuss vor Morgengrauen verschwinde. Der Lehrer machte ein drohendes Kampfgesicht. Ja, man gab der Polizei heimlich einen Wink.

Nein, das brachte Verena nicht übers Herz, ob sie auch mehr und mehr erschauderte, wenn sie mit der Lampe vom Fenster hinunterzündete, wie viel verlotterter ihr Gemahl vom einen zum andern Mal aussah. Er rüffelte so dringend an der Türfalle und bat so erbarmungswürdig zum Fenster empor, ein wildes, verkommenes, hilfloses Kind. Konnte sie ein solches Geschöpf, das einst ihre Brust erwärmt, in solcher Kälte, in solchen Fetzen, ohne Zehrung im Finstern draussen stehen lassen? Sie weiss, er hat kein Familiengefühl mehr, er wird nichts erzählen, wo er war und was er trieb, und noch weniger fragen, wie die abgerackerte Frau mit den drei Kindern sich durch den unerbittlichen Tag schlägt. O nein, Essen, trinken, Schlafen, ein Hemd, Strümpfe! wird er sagen und nichts weiter. Seine Augen flackern ringsum in der Stube, aber werden nichts Vertrautes sehen, nicht einmal mich, der in der Stubenecke jetzt im Winter das Bett hat, erwacht, aber aus irgendeiner Furcht sich schlafend stellt. Vaters Augen sind so furchtbar schwarz, so sternlos, so sonderbar blind. Sehen sie wohl noch etwas anderes als sich selber? Und wie eigen er redet! Sollte dieser Mann nicht eher in einer Anstalt versorgt werden? Aber wie ankehren? Die Heimatbehörde hat es einmal probiert. Sie nahm ihn stramm ins Gebet. Ein Arzt war dabei. Aber Paul unterhielt sie so gelassen und geistreich, dass man heim schrieb, er, der Künstler, sei so normal wie der Bundespräsident. Es endete damit, dass ihm der Vorstand ein paar Hosen aus seinem Kleiderschrank schenkte und der Aktuar ihm den Tabakbeutel wieder vollstopfte.

Nein, denkt Verena, er ist doch aus aller Weltweite wieder an diese Tür gekommen, es hat ihn hergetrieben sein guter Geist, ein höherer Wink, wer weiss! Er ist ein unschuldig Schuldiger, ein grosses Kind. Und Verena riegelt auf, sieht die Verwüstung des einst so Herrlichen, streckt die Arme zum Willkomm und zur Abwehr fast gleicherweise. »Mach’ leise,« flüstert sie verschämt, »dass der Lehrer nichts merkt!« Und sie zog ihm gleich an der Haustreppe die schmutzigen Stiefel aus.

In der Stube trat sie zuerst zu mir und ging beruhigt weg. »Der Bub schläft,« raunte sie, »machen wir nicht zu laut!« Dann wusch und speiste sie Paul, der dabei einschlief, und legte ihn wie ein Kleines zu Bett. Ich blinzelte hinüber. Wie stark ist die Mutter! staunte ich. Sie blieb einen Moment vor Paul stehen. Da lag ihr Abgott von einst wie eine Ruine und keuchte unruhig im Schlaf. Aber sie hatte keine Zeit zur Betrachtung. Jetzt galt es, Strümpfe und Hemd waschen, die ärgsten Risse im Kleid flicken, die Schuhe zustopfen, den Ofen heizen, dass alles bis zur ersten Frühe noch trocknet.

Alles tat sie so leise wie ein Geist. Keine Türe knarrte, kein Scheit rumpelte, kein Stuhl rutschte. Um vier Uhr wollte Paul geweckt sein. Alles war in Ordnung. Er schüttete Schnaps in den schwarzen Kaffee und steckte Brot und Käse in die Tasche.

»Zeichnest du nichts mehr?« fragte Verena leise, um nur etwas zu sagen.

Er schaute verwundert auf. Dann betrachtete er seine grau gewordenen Hände. Plötzlich rollten Tränen über seine Wangen. Stürmisch presste er das »gute, gute Vrenchen« an sich.

»Den Bart stutz’ ich dir noch ein bisschen zurecht«, bat sie.

»Lass’, lass’!« Und er tastete mit unsichern Blicken den Schreibschrank ab und lächelte geschämig. Aber dann flüsterte er hastig: »Hast mir einen Batzen?«

Sie schüttelte den Kopf. Mir klopfte fieberhaft das Herz.

»Verena, nur einen Fünfliber! Schau!« – Er zog die Zipfel der Hosensäcke heraus. Leer!

»Bis heut’ abend geht es ja! aber morgen, übermorgen, Verena! Soll dein Pauli verhungern? Ich möcht’ doch auch noch leben.«

Verena wollte aufstehen, aber ihr schwindelte.

»Gut, wie du willst, morgen oder in einem Jahr, ’s ist ja gleich. Eigentlich hab’ ich das Leben schon lange satt. Aber wenigstens zwei Franken für Brot und Milch.«

Milch, wie konnte er das sagen? Verena drückte sich fester in den Stuhl. Ich aber wollte schreien: Mutter, gib! auch den Zwanzigräppler in meiner Weste!

Da nahm der Vater Hut und Stock. »So geh’ ich, ade, Verena. Ich muss halt im Nachbardorf betteln oder ein paar Rüben aus den Gärten reissen. Wenn man verhungert, darf man stehlen.«

Ei, längst hatte die müde kleine Frau den Schwindel abgeschüttelt und den Kasten geöffnet. Betteln! Ihre durch allen Staub keusch behütete Anständigkeit schrak vor diesem Wort zusammen. Stehlen! o Gott, nur kein Verbrechen. Alle Übel, nur dieses nicht.

Sie löste ein Goldstück aus drei Papierchen, ach, ein lange bewahrtes, für tausend Nöten aufgespartes, einziges Goldstück. »Da!« sagte sie einfach. »Das ist alles!« – Da umfing er sie wieder und küsste sie. Aber ihr fröstelte dabei.

Dann sackte er die wunderbare Münze ein wie nichts. Er zögerte, machte sich straff, fragte beinahe gebieterisch: »Ist das wirklich alles? ich komme ja nie mehr!«

Das war zu viel. Sie schrie überlaut: »Reiss mir doch die Ohrenringe ab, sie sind ja von Gold!« und sank schluchzend in den Stuhl. Da warf Paul sich über das zuckende, bittere Menschenhäufchen, küsste, wo er traf, wie ein Hund, ich kann es nicht anders sagen, und tröstete mit süssem Bass: »Nein, nein, ich spasste doch. Ach, Verena, schön sind deine Ohrenringe und sie sollten von Demant sein. Ich geb’ dir auch den Napoleon zurück ... da, da!« Er streckte ihn ihr entgegen. »Leb’ wohl, leb’ wohl zum Letzten Mal, du Gute!« Wahrhaft, er weinte.

Da musste ich den Kopf unter die Decke stecken, so heftig übernahm es mich. Als ich wieder hervorguckte, war die Stube dunkel und leer. Die Mutter stand wohl mit der Kerze unten am Hause und horchte, wie die fernen Schritte auf der Landstrasse verhallten. Es war noch immer ein so leichter Fuss, jener Fuss, den sie einst so leidenschaftlich geküsst hatte. Aber jetzt raschelte ein Windzug über die welken Bäume und man hörte nichts mehr.

Dennoch wurde dieser Nachtbesuch im Dorfe ruchbar. Verena fühlte es aus den ernstern Grüssen der Leute heraus. Jedoch die Schulbuben wussten sicher nichts, sie spielten und lärmten mit mir wie sonst. Ich war beruhigt. Aber da sagte der Elvezio Fransioli, der neben mir in der Bank sass und sein prachtvolles Taschenmesser nie auslieh: »Wenn du den Bleistift spitzen willst, da, nimm! Aber bei der kleinen Schneide pass’ auf, sie haut wie der Teufel!« – Und der herrische und verwöhnte Bursche mit der langen Italienernase blickte dabei schräg an mir vorbei. In diesem Augenblick erkannte ich, dass er und die ganze Schule alles wussten. Ich fuhr ihm voll Zärtlichkeit über die Hand. Von dieser Stunde an liebte ich ihn.

Der Lehrer aber war viele Tage schlechter Laune, wie ein Jäger, der das lange schon belauerte Wild verpasst hat. Sonst sagte er nach dem Nachtessen in der Küche: »Da, liebe Frau, beten Sie den Rosenkranz vor, Sie sind die bravste von uns allen!« – Jetzt aber schlug er ohne weiteres das Kreuz und begann befehlshaberisch von sich aus vorzubeten. Wir respondierten gehorsam, auch Verena.

Nun geschah es aber, dass der ergrimmte Vorbeter die Stelle im Vaterunser: Gib uns heute unser tägliches Brot! besonders scharf in die Richtung hinausschleuderte, wo unsere Mutter das Geschirr spülte oder hütelte. Letztere Heimarbeit aus Strohhalmen wurde damals in allen Häusern gepflegt.

Verena verstand: Aber Brot, nicht den Faulenzern, Tagedieben, Verprassern, sondern denen, die es im Schweisse ihres Angesichts erkämpfen. Nicht dem Paul!

Auf den ersten Anwurf blieb sie still und auch den zweiten liess sie hingehen. Aber beim dritten Hieb antwortete Verena über alle Stimmen laut im Gebet weiter: »Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unfern Schuldigen!« – Und sie blickte über das Hutgestell und die Drehscheibe und die feuchten Halmenbündel tapfer hinweg, dem auf und ab schreitenden Lehrer nach, so dass er unwillkürlich den Schritt beschleunigte. Bald aber fasste er sich und betete noch schärfer und absichtsvoller zurück: »Und führe uns nicht in Versuchung!« Aber noch mächtiger wehrte es ab von der Lippe der kleinen Frau: »Sondern erlöse uns von dem Übel, Amen!«

So fochten sie im Gebet miteinander und stachen gleichsam mit seinen grossen Sätzen wie mit eigens für sie geschnitzten Lanzen aufeinander. Und Gott lächelte wohl und zerbrach die eitle Wehr nicht. Denn er wusste, jetzt kommt das Amen. O dieses letzte Wort, das die Beter bei uns so hastig schlucken, wie hat die Mutter es so demütig, aber gottesgewiss hinter den lauten Schrei gesetzt! Amen ... Ach, lieber Lehrer, seien wir gut! Amen ... Lehrer, der Liebgott verbessert schon, was wir in guten Treuen stümpern. Amen ... Er hat eine so schöne rote Tinte zum Korrigieren, eine viel rötere und schönere als du, lieber Schulmeister, nämlich seine ewige, über alle Sonnen grosse Liebe. Amen ... So stellen wir denn unser Fehlen und Bessermachen und wieder Fehlen seinem Erbarmen anheim ... Amen, Amen!

Da liess sich nicht mehr streiten. Friedlich floss das klassische Gebet weiter bis zum letzten Amen.


Noch einige Male trieb es unsern Vater heim. Jedesmal war die Mutter hiernach halb krank. Ihre Kräfte verwitterten. Ruhe, gebot der Arzt, und vergessen! »Wo rann ich das kaufen?« fragte Verena mit einem bittern Lächeln. – Nein, so ging es nicht weiter.

Eines Abends, als sie an schwerem Kopfschmerz litt, rief sie den Lehrer zu sich. Als er wegging, rieb er die Hände eifrig ineinander wie über eine glücklich vollendete Schreiberei. Er rieb und rieb und es knisterte wie Papier.

Vielmal wuchs und schwand inzwischen der Mond über den zweihundert Stuben der Gemeinde, bis eines Nachts, als er nur noch wie ein Sichelhieb den Himmel ritzte, die bekannten kleinen, unheimlichen Kiesel ans Fenster der Mutter tippten.

Ich litt an Asthma. Mein Bett stand in der Stube. Aufrecht sass ich in den Kissen und rang nach Atem und wartete auf die Wirkung der giftigen zwei Löffel Narkotika, die ich bereits geschluckt hatte. Die Türe zur Mutter stand offen. Ein Glas mit Öl und Dochtlichtlein stand vor ihrem Bett. Sie hatte ihr altes Gebetbuch davor gestellt, dass der schmächtige Schein sich nicht bis ans Fenster verrate. Aber jetzt schnellte sie auf, starr und weiss wie ihre gestärkte Nachtjacke, und zerdrückte plötzlich mit zwei Fingern das Flämmchen, sie, die ohne Nachtlichtlein einfach nicht schlafen konnte.

Da passte ich auf, hielt das Keuchen an und hörte nun auch die Steinchen an die Scheibe klirren. Mir jubelte das Herz. Das ist der Vater. Wie gut er trifft! Diese Nacht muss er mich küssen, muss mit mir plaudern, ich lass’ ihn nicht weg. Das Schnaufen ging sofort leichter. Aber die Mutter regte sich nicht.

»Mutter«, schrie ich.

»Pst! ’s ist nichts.«

»’s ist der Vater.«

Ihr Bett ächzte. Sie weckte meine ältere Schwester.

»Ich kann nicht, ich kann nicht mehr«, jammerte sie. »Und der Lehrer! Gott, was soll ich machen?«

Aber die Schwester war schon ins Unterkleid geschlüpft, warf einen Schal um und wartete nur auf ein Wort der Mutter. Sie hatte eine Kerze in der Hand und hielt die Hand davor. Pauline dachte wie ich, aber war viel rüstiger.

Wieder klirrte ein Steinchen.

»Mutter, wenn er stirbt, denk!« keuchte ich.

»Still!« Sie hielt den Finger an den Mund.

Wieder ein Kiesel. Mir klopfte es schier das Herz auseinander.

»Nimm den Korb in der Küche«, befahl Verena und gab sich eine regiererische Haltung. Aber wie gut hörte ich das Beben ihrer Stimme.

»Tu’ den Speck hinein und das halbe Brot und den Schnitz Käse in der Schublade, den auch. Und das Häfeli gesottener Milch ... wenn er so Durst hat, mag er sie vielleicht ... Und dort, in der zweiten Ziehe (Schublade), rechts im Eck, nimm die Socken heraus und drei Nastücher! ... Geld hab’ ich keins!« sagte sie erleichtert. »Gib ihm das alles durchs unterste Fenster heraus. – Er darf und darf nicht mehr ins Haus.«

Sie war nun aufgestanden, aber sank gleich müde in den Sessel.

Tapfer ging meine Schwester hinaus. Wir horchten. Die Luft zitterte und toste mir ums Ohr. Ich glaubte Ungeheuerliches zu hören und doch war es totenstill.

Nach ein paar ewigen Minuten kam Pauline mit dem Korb zurück. »Mutter, er steht unten und friert ... ob er hineinkommen kann? Er will nichts aus dem Korb ... Ach, Mutter, da kommt er schon durch den Gang ... schau da, vor der Stubentüre ... Vater ... komm nur herein, da sind wir ...«

Ich sah nur noch, wie meine Mutter sich an der Stuhllehne hielt und starr zur Schwelle blickte. Da schoss Paul schon herein, mit kleinen, schnellen Schritten wie ein Wiesel. Verena bog sich wie abweisend zurück. Aber er wollte sie auch nicht umarmen wie sonst. Er kniete vor sie hin, der hässliche Filz fiel auf den Boden, er erhaschte ihre widerstrebenden Hände, presste sie an sein Gesicht und ein Schluchzen brach hervor wie von unterirdischen Quellen.

»Paul, o Paul«, härte ich noch milde sagen. Dann überrannen mir die Augen. Ich biss ins Kissen und – weiss nichts mehr von jener Nacht.

Aber was war das in der offenen Stube des Lehrers drüben, als ich erwachte? Eine merkwürdig weisse Sonne lief mitten hindurch und machte mich stutzen. Wieder hob ich die Hand unwillkürlich, um sie als etwas Ungehöriges wegzuwischen. Ah, so, jener Morgen mit dem Theologen, gebückt und das Bündel zu Füssen. Das war der gleiche Spott der Sonne und die gleiche hohe, heisere Stimme des Lehrers, unaufhaltsam wie ein Giessbach, schimpfend, predigend, rügend, sich überstürzend vor Eifer und immer wieder mit dem Vers schliessend: »Geht, marsch! hinaus aus dem ehrbaren Haus! Gebt Euerer Frau endlich Ruhe! Ihr habt ihr genug vom Leben gestohlen. Zeigt Euch hier nie mehr! ’s ist ja himmeltraurig, dass Euere Kinder ein solches Bild vom Vater ins Alter nehmen müssen. Schert Euch! hier gibt es nichts mehr für Euch. Fort, oder ich hole den Landjäger.«

Mein Asthma war weg. Ich hastete in die Hosen. Wo ist die Mutter? In der Küche sott meine Schwester den Kaffee und wandte mit verweinten Augen das Gesicht ab.

Da zwang es mich wieder an die Schwelle der Lehrerstube.

Mit harter, sicherer Miene und schonungslosen Blicken, ein Bild der buchstabenen Gerechtigkeit, wetterte der junge, weltunkundige Lehrer auf meinen Vater los, der doppelt so alt und zehnmal schicksalsreicher war. Damals, beim Theologen, war es Schmerz und Zorn gewesen, hier sprach nur der Zorn. Wie ein Richter stand Anton vor Paul hin, wie einer, der poltern, züchtigen, verdammen darf. Sein roter Schnurrbart war von Geifer bespritzt. Er fühlte sich als Verteidiger meiner Mutter, o gewiss, als Beschirmer von uns Kindern, aber ich sah nur einen Feind. Wie der Schüler für den Schreibfehler seine Tatze bekam, so dünkte mich, schwinge jetzt der Lehrer den Haselstock über meinen armen Vater und versetze ihm eine wahrhaft tödliche Tatze.

Alles was aus diesem zuchtmeisterlichen Munde kam, war buchstäblich wahr. Und dennoch, weil es aus diesem Munde und in dieser Manier kam, schien es mir nicht wahr. Scheu, mit Augen voll Hass betrachtete ich diesen entsetzlichen Anwalt unserer Familie.

Und mein Vater! Er stand genau auf dem Fleck, wo einst der Theologe gestanden, bog den Nacken ebenso tief, schwieg ebenso demütig. In der Hand hielt er Hut und Stock, unter dem Arm die schäbige Mappe.

»Hundertmal habt Ihr Eurer Frau Besserung versprochen, hundertmal habt Ihr sie angelogen. Ihr ererbtes und Erspartes habt Ihr verprasst, ihre Kraft und Gesundheit verbraucht. Wenn’s von Euch abhinge, müssten die Kinder auf der Strasse betteln. Ob der Bub erstick’, was schert Ihr Euch drum? Wenn Ihr nur saufen könnt wie ein Tier und herumstrolchen und faulenzen. Ihr ... Ihr ...« überschrie sich der Lehrer und riss an Pauls Rockknöpfen, »Ihr habt ja gar kein Ehrgefühl mehr, kein gewissen. So bei Nacht und Nebel ins Haus zu schleichen wie ein Verbrecher ...«

»Herr Lehrer!« erhob jetzt mein Vater unglaublich mild die Stimme und schob die flache linke Hand abwehrend vor. Das war eine rührende Geste, die ich nicht vergesse.

»Kein Wort! Ihr habt zu schweigen. Ja, exakt wie ein Verbrecher handelt Ihr. Die Armenkasse muss Frau und Kindern helfen, weil Ihr alles vertrinkt. Und Verena muss sich fast die Finger verbluten vor Schaffen Tag und Nacht, weil Euch die kleinste Arbeit weh tut. Fremde Leute müssen beispringen, weil der eigene Vater keinen Finger rührt. Ist das kein Verbrechen, he? Wozu haben wir dann ein Zuchthaus?«

»Herr Lehrer!« bat mein Vater nochmals unendlich sanft und blickte bleich und ruhig in die Höhe. Fühlte er sich schuldlos, dass er so ergeben gen Himmel sah?

»Marsch, aus dem Hause! Euere Frau will Euch nicht mehr sehen. Geht die Fransioliwiese hinunter und dann am See davon, dass Euch niemand erblickt! Und kommt nicht mehr!«

»Ich gehe schon, ich gehe«, versprach mein Vater mit seinem schönen, weichen Bass. »Sagt nur, wo ist Verena? Ich will doch Ade sagen.« – Eine eigentümliche Würde umgab ihn trotz der elenden, vagabundenhaften, jetzt aber sauber an fünf, sechs Stellen geflickten Kleidung.

Machtlos haftete ich am Türpfosten und ballte die Fäuste. Am liebsten wäre ich wie eine wilde Katze auf den Lehrer gesprungen und hätte ihn kratzen und beissen mögen. Es würgte mich herauszuschreien: Lass’ meinen Vater in Ruhe! Was geht er dich an, du böser, schlechter Pfuscher, du ... Aber übergewaltig spürte ich, wie jedes Wort zwar im Hasse der Lehrerzunge unwahr schien, aber in Wirklichkeit doch die lautere Wahrheit war. Zu deutlich sah ich die neuen Flicke an den Ärmeln, frische Säume an den Hosenstössen. Die ganze Nacht hat Verena genäht, geputzt, gefüttert, während Paul schnarchte, sicher hat sie ihm das letzte Geld in die Weste gesteckt und ward halbtot davon und hat sich verstecken müssen und konnte nicht mehr anders. Aber auch der Vater kann nicht mehr anders. Er hat es im Blut. Er ist so geboren. Sagte er ja selber, es blase ihm ein Wind durch Leib und Seele, lasse ihn nirgends absitzen, treibe ihn fort, wie ein vom Baum abgerissenes Blatt. Ihr habt gut predigen. Ihr klebt am Ast, habt es warm und sicher und schüttelt euch nur ein wenig, wenn es luftet. Aber ich bin nirgends angewachsen, muss allein sein, mich jagt’s in der Welt herum.

Ja, dieser Wind! Was weiss der Lehrer davon an seinem Schreibtisch? Hat er’s je brausen hören? Aber mein Vater ist voll davon, kann ihm nicht widerstehen. Und wo er flieht und steckt, und wenn er in den Mond liefe, er ist und bleibt mein armer, lieber, gescheiter, allesverstehender Vater.

»Euere Frau«, versetzte der Lehrer hart, »ist weggegangen. Sie wäre zu schwach gewesen. Ihr hättet sie wieder genarrt. Ich stehe für sie da und befehle: packt Euch, packt Euch sofort aus dem Hause! und aus unserer Gegend!«

»Herr Lehrer, ich gehe ja«, antwortete mein Vater ruhig und sehr blass. »Aber Sie haben kein Recht, sich zwischen mich und mein Weib –«

»Das fehlte noch!« fiel Beat hitzig ein. »Euer Weib! Wie könnt Ihr noch so ein heiliges Wort auf die Zunge nehmen. Zwei Jahre waret Ihr jetzt fort. Habt Ihr Euerem Weib ein einziges Mal geschrieben? ihr in der Not einen einzigen Franken geschickt? Viel lieber brecht Ihr nachts ein und nehmt ihr noch das Letzte weg. Für diesen Augenblick ist sie euer Weib und nachher ... hast mich für lange gesehen!«

»Herr Lehrer ...«

»Habt Ihr Herz? Für Euch, nur für Euch und Euer Glas. Was reden wir da noch und verlieren Zeit? Ich sag’ zum letzten Mal: geht! oder bei Gott muss Euch der Landjäger ...«
»Ich gehe, ich gehe«, sagte mein Vater gelassen, machte die rechte Hand frei und reichte sie dem Feinde beinahe feierlich.

Lehrer Beat trat verwirrt und geniert einen Schritt zurück.

»Dann also nicht!« sagte mein Vater ergeben, schob die rechte Hand in die Hosentasche, nickte ein wenig mit dem Kopf und trat in den Gang hinaus zur Küche. Mit brennendem Antlitz folgte ich ihm. Von der Lehrerstube scholl es nach einer verlegenen Pause mit widerstrebender Stimme nach: »Wenn Ihr einmal keine Räusche mehr trinkt, wieder ehrlich arbeitet ... dann kommt ... dann seid Ihr mir mehr als recht ... dann sollt Ihr beide Hände ...«

Paul zuckte die Achseln. Dann küsste er mich und sagte: »Sei brav, folg’ der Mutter!« Und mir fiel nicht ein, dass dies einer sagte, der selbst ja gar nicht brav war und nicht gehorchte, sondern stolz sah ich empor und gelobte »Ja!« wie ich es lauter und ernster dem brävsten Menschen auf erden nicht hätte geloben können.

Dann reichte ihm Pauline ein Paket. Er küsste auch sie und sagte nur noch: »Küss’ mir die Mutter! Sie soll nicht böse sein!« – Hastig lief er die Stiegen hinunter. Ich wollte mich an seinen Arm hängen. »Lass’«, sagte er unwirsch, schüttelte mich ab und verschwand. Unten im Erdgeschoss verstummte der Schulkinderlärm für ein Weilchen.

Während der Schulstunde fühlte ich ohne aufzuschauen die Schüleraugen auf mich gerichtet. Aber der dicke vornehme Elvezio fragte leise beim Schönschreiben: »Willst du wieder mein Radiermesser? Schau, da hast du zwei Kleckse.« Und als ich traurig den Kopf schüttelte, denn was kümmerten mich heute Tintenkleckse? – nahm er, der verwöhnte Bub, der sich sonst immer bedienen liess, mein Heft und merzte die beiden Kleckse säuberlich aus. »Dein Vater«, flüsterte er beim Weggehen, »ist ein prächtiger Mann. Welch ein schönes weisses Gesicht und welch ein schwarzer Bart, fast wie wir Italiener!«

Da schwoll mir das Kameradenherz hochauf und ich beschloss: wenn mir nächstens wieder das Ross- und Reiterspiel machen, will ich sein Pferd sein, obwohl er so dick ist und einen so schweren Hintern hat und so scharf mit der Rute zwickt. Das will ich.

Eine rätselhafte Abneigung gegen Lehrer Beat mottete seitdem durch alle Jahre wie ein chronischer Katarrh in mir fort und ich konnte ihn nie recht weghusten. Auch meine Mutter ward anders, redete scheuer, karger mit ihm und liess sich auf kein scherzhaftes Reden ein, wenn der Lehrer nach einer glücklichen Arbeit sich abends zur Mehlsuppe niederliess, die Hände rieb und wohlgelaunt ein Spässchen verbrach.

Dieses Verhalten gefiel mir, und als Verena nun wieder so still und stramm an der Arbeit sass, flickte, hütelte, uns die Teller vollschöpfte und unfehlbar bei einbrechender Dämmerung rief: »Kinder, kommt zum Rosenkranz für den lieben Vater!« und wenn sie dann das Vaterunser vorbetete, so rein, so mächtig, dass wir fühlten, ein schöneres Gebet sei nie erfunden worden – was, erfunden worden? – nein, es sei vom Himmel, von Gottes Lippen gefallen, und wie unsere Mutter es auffange und wieder gen Himmel zurücksende, müsse es unwiderstehlich wirken, und wenn sie dann zum Schlusse den Finger ins Weihwasser tunkte und uns das Kreuz auf die Stirne zeichnete, da erlosch gar bald der letzte Verdacht, als ob eine solche Mutter unserem Vater habe Unrecht tun können. Ich schüttelte nur meinen blassbraunen Schopf und dachte: Wie schwer ist das alles zu verstehen ... so ein Vater! so eine Mutter! ... so ein Auseinandersein ... Nein und tausendmal nein, ich werde nie heiraten, ich werde Priester.


 << zurück weiter >>