Heinrich Federer
Jugenderinnerungen
Heinrich Federer

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Die bösen Bernerinnen

Wenn ich tags einmal ins Haus meiner Stiefschwester Sabine ging, um meine Mutter zu grüssen, traf ich sie immer mit erhitzten Wangen, im elenden Hauskleid, mit Bürste oder Putzlumpen, oder bei unzähligen Wäscheflickereien, aber nicht, wie ich gehofft hatte, in einem Lehnstuhl sitzend und in einem hübschen Buche lesend oder zum Spaziergang gerüstet. Sagte ich dann: »Mutter, wollen wir heute ein bisschen gondeln«, kam immer die müde Antwort: »Ich hab’ jetzt keine Zeit.«

»Doch, doch, mach’ nur Zeit«, widersprach ich. »Dafür sind wir ja hier.«

Nein, Sabine habe Wäsche oder man fege einmal gründlich das Haus von oben bis unten oder man ordne endlich die vielen grossen Wandkästen oder dies oder das. Und Mutter Verena legte den Finger an den Mund, wenn ich aufbegehren wollte, und zeigte zur Türe, wo die unheimliche Sabine vielleicht horchte.

Sie frönte einer krankhaften Putzsucht und verärgerte damit der ganzen Familie, vorab ihrem gutmütigen Gemahl, dem Gemeindeschreiber, Haus und Leben. Wenn alles spiegelblank blitzte, fand diese Närrin immer noch etwas zu säubern. Man wagte kaum in die Stube zu treten, auf ein Sofa zu sitzen, etwas in die Hand zu nehmen, so viele Warnungen blickten aus Sabinens schwarzen Augen und so ermüdend tönte es: »Putz’ die Schuhe! Pass doch auf! Tritt nicht zu nah!« – Mir war das fürchterlich. Auch auf Vater und Kindern lag ein Druck wie von einer mit ewigen Nörgeleien geladenen Wolke. Sabine selbst war an und für sich eine schöne, gescheite, ja geistreiche Frau, hatte sicher das Bedürfnis nach Wärme und Herzlichkeit, aber tötete alle seligen Möglichkeiten mit ihrer fanatischen Gewohnheit. Bodenbürste und Seife zerstörten hier einen Charakter und einen Hausstand, der alles zum Wohlsein besessen hätte.

Meine Mutter wurde schonungslos diesem Laster geopfert. Wie eine Magd kniete sie neben dem Zuber und seifte die Bohlen ein. Es war, als habe Sabine sie nur zur radikalsten Putzerei kommen lassen. Die Stiefschwester half auch mit, aber sie kommandierte, Verena musste gehorchen und das macht aus der gleichen Arbeit Himmel und Hölle. Dabei hatte die herzlose Tochter immer etwas zu keifen und zu gifteln. Denn ein solches Leben musste sie trotz aller Sauberkeitstriumphe mit Bitterkeit erfüllen bis zur Zunge hinauf. Sabine war für Besseres geschaffen.

Nie vergesse ich folgende Entdeckung.

Ich suchte die Mutter. Die Stubentür war offen, und meine Mutter sagte müde: »Der Spiegel ist blank, lassen wir!«

»Schön blank«, zürnte Sabine. »Da und da!«

Ich schlich in den Hintergrund des Vorraumes zurück und sah aus meinem Dunkel, wie Sabine über das Glas hauchte und dann die Stelle fieberhaft rieb. »Und hier!« schrie sie heiser und warf Verenen, die am Boden kniete, das Hirschleder zu.

Meine Mutter rieb über das Glas und sagte: »Ich sehe nichts mehr. Willst du ihn durchsichtig reiben?« – Mich freute dieser Spott der Mutter ungemein.

Aber Sabine riss Verenen den Lappen wieder weg, blies und rieb, blies und rieb am Spiegel.

»Lass jetzt«, rief Verena.

»Schweig!«

Nun stand Verena auf. »Bist du krank?« fragte sie. »Wo siehst du denn noch einen trüben Flecken?«

»Schweig einmal! Wenn du den Dreck nicht siehst, ich sehe ihn.«

»Blind bist du«, zürnte jetzt meine Mutter und hob den Kopf furchtbar ernst. »Sonst würdest du dich im Glas sehen. Aber das putzest du leider nicht weg.«

»Ich bin dein ältestes Kind«, schnob Sabine. »Wenn ich so bin, so hab’ ich’s von dir.«

»Kind, Kind!« flehte Verena. Ich hielt mich an einem Küchenstuhl, so erregt wurde ich.

»Ja, Kind, Kind!« stöhnte Sabine. »Weisst du noch, wie ich jeden Samstag die Spiegel putzen musste? Und einmal schicktest du mich dreimal zum gleichen Spiegel und ich musste reiben und reiben und schien mir doch alles sauber. Aber du sahst immer neue Flecken. Da schlug ich mit der Faust ins Glas. Aber nachher las ich die grossen Stücke auf und putzte jeden einzelnen Scherben, ich konnte nicht anders.«

Meine Mutter liess die Arme hängen. Das tat sie immer, wenn sie sich hilflos fühlte.

»Seitdem bin ich von diesem Teufel besessen. Von dir, nur von dir hab’ ich das.«

»Sabine«, bat Verena und wollte sie begütigend am Arm fassen.

»weg, weg, weg«, schrie Sabine krebsrot im sonst so kalten blassen Gesicht.

Still ging meine Mutter in die Kammer.

Aber ich blieb wie gebannt an meinem Posten haften. Denn Sabine begann aufs neue wie verzweifelt zu hauchen, zu reiben. Sie sank in die Knie, sie weinte und ächzte wie eine Verrückte und blies wieder und rieb und flüsterte: »Ich kann’s und kann’s nicht sauber bekommen.« Mir schien, sie falle wie ein Lumpen zusammen. Das liest sich vielleicht komisch, aber noch heute fühl’ ich, wie mir kalt wurde bei diesem gespenstischen Anblick und wie ich mit schlotternden Beinen Reissaus nahm.

Aber eines Abends wurde es schön. Wir sassen alle in der Vorlaube, meine Mutter, Sabine, wir Kinder. Verena hatte sämtliche Fenster gewaschen und spiegelklar gerieben. Das alte Bernerhaus trank den Mond mit seinen zwanzig Scheiben auf und strahlte ihn zwanzigmal in die Dämmerung zurück, ein goldenes Geschimmer ohne Ende. Da war denn auch Sabine einmal völlig zufrieden. Ihr böser Dämon schlief, sie machte ausgezeichnete Scherze und strich meiner Mutter über die verrunzelten Hände und grub bei ihrem erstaunlichen Gedächtnis Erinnerungen der Kindheit aus, aber voll Takt, ohne je der Geschichte mit der zweiten Heimat nahezukommen. Und die zwei Frauen tranken aus grünen Kelchen einen gelben Wein und stiessen zwei- und dreimal an. Obwohl Verena recht ermattet war, frischte die seltene Laune der Tochter ihre Lebensgeister auf, die Gute vergass alles Vorherige und wollte nur noch dieses Stündchen wissen. Sabine aber war ein anderes Wesen geworden, ihre dunkeln Augen bekamen Güte, ihre Lippen schienen singen zu wollen und etwas merkwürdig Anziehendes leuchtete aus ihrem ovalen blassen Gesicht. Ich hätte zu ihr springen, sie umfassen und ihren köstlichen Mund küssen mögen. Und ich wollte sagen: Schwester, wie hab’ ich dich so, so wie du jetzt bist, lieb! Fast wie die Mutter. Warum bist du nicht immer so?

Mein Vergnügen war so gross, dass ich mich für einen Augenblick absondern musste, ins Dunkel hinaus. Da sah ich die ungeheuern Massen der Berge, schwarz und unentzifferbar in den Osthimmel tauchen, während der See zwischen mir und ihnen wie Tinte lag, so dass man nicht sah, wo eines anfing und das andere aufhörte. Der Mond war in schwarze Wolken gefahren. Entsetzliche Schatten lagen über uns. Mit einer herzbeklemmenden Kraft trieb es mich die fünfzig Schritte hinunter ans Wasser. Unheimliches Schweigen herrschte in die Finsternis hinaus. Der jenseitige Giessbach rauschte. Etwas Dämonisches zwang mich, hart an die Flut zu liegen, das Gesicht in Seehöhe, so dass die ganze unermessliche schwarze Welle mir sozusagen ins Auge floss. Mein Herz klopfte wild. Ich keuchte, schwitzte, holte im Sand wie ein Schwimmer aus, um mich in die Tiefe hinausschlucken zu lassen. Schier besinnungslos von der Urmacht des nächtlichen Sees, dachte ich, ist er gut wie Sabine, ist er schlecht wie Sabine? Ganz gleicht er dieser dunkeln, unbestimmbaren Person. Will er mich, so nehm’ er mich, seufzte ich und fühlte das Wasser und Wasserbrausen mir ins Haar dringen. »Nein, nein, nein«, schrie ich entsetzt auf, schüttelte mich, sprang auf, floh zurück zur gemütlichen Vorlaubenlampe, wo alles noch so ruhig und lieb beisammen war, wie ich’s verlassen hatte. Sabine trank aus dem grünen Glas, lachte aus den schwarzen Augen zur Mutter hinüber und sagte: »Auf dein Wohlsein, Mama, auf dein Wohlsein!«

Aber am nächsten Vormittag raufte Verena das staubige Rosshaar der Matratzen vom Morgen bis zum Abend. Man hörte Kissen und Decken klopfen und die Stiefschwester schoss böse wie eine Wespe herum und krittelte und nörgelte ohne Ende. Ich fiel wie von einem sonnigen Gipfel. Das kummervolle Antlitz meiner Mutter konnte ich nicht mit ansehen. Ich floh zu den Buben am See und suchte zu vergessen. Aber überall, auf jeder Welle schaute mich die müde, erniedrigte Mutter an. Wie ein Wachthund äugte ich zwischen den Hecken und Bäumchen gegen Sabinens Haus hinauf. Da sah ich die harte Stiefschwester aufgeputzt, ihren hübschen Knaben Alfred an der Hand, das Strässchen hinunter und dorfeinwärts gehen. Hochmütig spannte sie einen dunkelgrünen Sonnenschirm auf und hob das weisse Kinn.

Im Nu war ich im Hofstättli bei der Mutter, schlang den Arm um ihren magern Hals und forderte wild: »Lass den Dreck! Was schaffst du dich schier tot, und die Hexe dort stolziert durchs Dorf!«

Aber Verena versuchte einen strengen Ton gegen mich und gebot: »Lass los! Was verstehst du überhaupt von uns hier? Los, los!«

Doch ich drang nur noch gewalttätiger auf sie ein, zerrte sie vom Schemel auf und schrie: »Jetzt komm einmal mit mir auf den See. Sabine ist fort. Ich rudere. Komm sogleich!« – Und mein Blut jubelte auf beim Gedanken, ich dürfe die Mutter auf dem schönen duftigen Wasser mit eigener Sohneskraft herumrudern, gerade wo ich wollte.

Indes Verena entwand sich und bat: »Stör’ mich jetzt nicht, sei gescheit, geh spielen. Das Rosshaar hier muss bis fünf Uhr gerauft sein.«

»Wer befiehlt das?«

Meine Mutter wurde blass und hob wie zum Züchtigen die Hand.

»Du bist die Mutter. Wieso kann dir ein Kind befehlen?«

Verena öffnete den Mund, aber brachte keinen Laut hervor.

»Sag’ du einfach, du wollest nicht mehr, du wollest ausruhen, du seiest nicht als Magd über den Brünig gekommen.«

»Heinrich!«

Ich hatte mich in eine laute herzklopfende Erregung hineingesprochen. Ich wollte weiterfahren, aber die Worte würgten mich.

»Sei jetzt vernünftig«, bat die Mutter. »Wenn ich da aufhöre, hört auch deine schöne Vakanz auf. Dann kann ich nicht hierbleiben, dann schickt man uns heim.«

Ich wollte empört auffahren.

»Und dir«, fuhr meine herrliche Mutter fort, »tut dieser Aufenthalt gut. Du hast nie einen Asthmaanfall bekommen, denke! Und deine Schwestern sind auch gerne hier. Das müssen wir profitieren, Schatz. Wir brauchen einen Monat lang keinen Rappen Geld. Weisst du, was das bedeutet? So kann den Martinizins daheim ohne Verzug zahlen. Der Winter wird dann noch teuer genug. O Bub, du denkst nur so der Nase nach. Geh, geh schleunig, bevor Sabine kommt. Du hast ja Augen, als hättest du geweint.«

Wie Berge fielen diese Worte, diese grausamen, zwingenden Worte über mich. Jawohl, es ist so. Wir sind Leute von der leeren Tasche. Wir sind zum Bücken und Dulden verdammt. Und das wissen die andern und missbrauchen uns nach Herzenslust.

Ich fühlte das ja nicht gerade mir an die Haut kommen, im Gegenteil, ich ging wie ein Herrlein in den schönen Bärenhäusern ein und aus, ass gut, faulenzte, spielte, vertrieb den Tag im Schiffchen und auf saftigen Birnbäumen, und nur das abweisende, brummige Gehaben der Tante und das wortlos kalte Gesicht des feinen Bäschens Lina störte mich neben der verflixten Putzhexe Sabine dann und wann. Aber die Mutter, keine freie Stunde, Mägdedienst bei der eigenen Tochter, nein, das war zu viel. Ein wahrer Hass ergriff mich gegen Sabinen. Und ich suchte meine Schwestern auf, und wir verschworen uns, so dürfe es nicht weitergehen. Wir wollten der Mutter ganz bestimmt raten, in den nächsten Tagen heimzukehren. Sie darf sich nicht so tief für uns erniedrigen. Und wenn die Mutter nicht einmal das Geld für eine Kutsche bekommt, so wollen wir alle vier den Weg über den breiten Berg zu Fuss gehen. Am Morgen um vier Uhr brechen wir auf. Dann sind wir lange vor Mittag auf der Brünighöhe und rasten über die grösste Hitze unter den Tannen und trinken Milch und essen das zusammengesparte Obst und Brot. Auch gibt es da noch genug Heidelbeeren. Um Vesperzeit geht es dann bergab ins liebe treue Obwaldnerländchen hinunter und vor Lampenanzünden sitzen wir schon im alten Daheim.

Vielleicht aber überholt uns eine leere Kutsche, die nach Luzern muss, und wenn wir hübsch bitten, nimmt der Fuhrmann wenigstens die Mutter und die kleine Johanna auf. Pauline und ich galoppieren dann wie wilde Geissen die Abkürzungen hinunter, und es wäre ein lustiger Stolz, wenn wir der Kutsche noch ein-, zweimal begegneten und der Mutter ein paar Brombeerbüschel auf den Schoss werfen könnten. Sie liebt nichts so sehr wie süsse, blaue Brombeeren.

Freilich, noch viel besser wäre es, wenn wir ein Klümplein Gold hätten und damit grossartig klimpern und sagen könnten, dass wir fürder weder Sabinens harte Gnaden, noch den Wackelkopf der Tante zu beachten brauchten. Wir gingen gleich noch für eine Woche ins Hotel Kreuz und genössen das altherrliche Fremdendorf so recht unter uns und mitsammen. Nachher stiegen wir in das gelbe Ungetüm der Brünigpost wie die Engelländer und rollten lachend heim.

Ach, das Geld, das Geld! Die Amerikaner spuckten es nur so aus, Silber und Gold, als wären es Kirschensteine. Hätten wir nur zwei solche goldenen Kirschen!

Aber trotz dem mächtigen Münzengeklapper auf die Tische des Hotels schienen Onkel und Tante nicht genug zu bekommen. Ich hörte hinter allem Prahlen und Prunken das leise, mürrische Klagen, der Fremdenstrom nehme von Jahr zu Jahr ab. Wenn der Dampfer majestätisch an die Schifflände des Bären schaufelte, zählte nicht bloss die Tante, sondern auch der Oberkellner, die Serviertöchter, die Kutscher, wie viel Fleisch und Menschenbein über das Brücklein herkomme. Und selten gab es frohe Gesichter, vielmehr ein beredtes, stummes Nicken von Gesicht zu Gesicht der Dienerschaft. Auf den stolzen Häusern lagen schwere Schuldbriefe. Die frühern und die jetzigen Eigentümer waren eben keine geborenen Gasthofwirte und nicht bloss fing gerade jetzt die Holzschnitzlerei an, auf einen toten Punkt zu geraten, sondern es trat auch eine jener wetterwendischen, unberechenbaren Launen des Völkerbummels ein, wonach die Touristen schier plötzlich eine neue Gegend überwuchern und eine alte, vielleicht zehnmal schönere einstweilen halbwegs veröden lassen, fast wie das Vieh es mit abgeweideten Futterplätzen macht. Sie werden wiederkommen, das Berner Oberland ist unsterblich; aber ob wir das noch erleben, wir, die sterblich sind?

Ich spitzte die Ohren, wenn ich unter den Kutschern stand, und wenn ich auch nicht alles Hypothekengemurmel verstand, so wurde mir doch immer klarer, dass es um den stolzen Gasthof nicht gut stand und dass das ermüdende Gackern der Tante nicht ein Gackern der Sattheit, sondern des ungestillten Hungers war. Jetzt hat sie sich wieder einen Seelentrost geholt, tuschelte das Gesinde, wenn die Tante in ihrem breiten braunen Rock vom Schnitzlerladen über die Strasse her in den Bären zurückrauschte. Sie duftete von Kognak. Vom Laden ging nämlich die Hintertür in einen Keller, wo solches Labsal in rotgelben Flaschen lagerte. So also, so muss die Arme sich helfen.

Das rührte mein kleines Bubenherz sonderbar. Sie war doch eine Macht und Majestät, und die Kerle in ihren kotbespritzten Stiefeln sollten sie nicht antasten. Ich sann hin und her, wie ich ihr doch ein bisschen Gefühl zeigen könnte. Aber auf jede Anrede lehnte sie mich mit zwei, drei kalten Worten ab. Zuletzt stellte ich mich in die Kutscherstube, wo ein Waschbehälter für Bier- und Weingläser war und begann die vielen gebrauchten Gläser zu spülen und aufs Trockenbrett soldatisch in Reih’ und Glied zu stellen, um nur irgendwie mein Interesse für die Wohlfahrt des Hotels zu bekunden.

Da kam die schon genannte Lina herzu, mein Bäschen, ein schlankes, wangenbraunes Mädchen meines Alters, gelobt und verehrt ringsum als ein Muster von Zucht und Bravheit, und gab mir einen überaus harten missgünstigen Blick. Ich hatte gehofft, es freue sie, dass ich ihr diese unsaubere Arbeit in der rohen Wirtstube abkürze. Sie aber betrachtete es unbegreiflicherweise als Eingriff in ihre rechte.

Lina hatte ein williges und bescheidenes Gesichtlein und einen kleinen Mund, der wie nach Erdbeeren roch. Ganz bestürzt wurde ich über ihr abweisendes Tun. Auf meine Plauderversuche gab sie nichts als Ja oder Nein zurück und dies noch mit einer Knappheit ohnegleichen. »Mach’ ich’s recht so?« fragte ich. »Was weiss ich?« gab sie zurück, ohne mich anzusehen. Mich fror wie neben einem kleinen Gletscher. »So mach’s allein, du Narr«, rief ich, warf Bürstchen und Handtuch weg und entfloh. Auch weiterhin grüsste sie mich nie, schoss eilig weg, wenn sie mich sah, und traf es sich, dass sie im Beisein gemeinsamer Verwandter doch etwas sagen musste, so waren ihre Worte wie Steine.

Einmal, da Lina mir besonders schroff den Rücken gekehrt hatte, lief ich voll Galle zu Luise, die gerade vor einem Spiegelchen ihr Haar aufwand. »Sag’ mir doch,« bat ich, »ist Lina wirklich ein gutes Mädchen?«

Luisens immer gleichsam leise vergrämtes, doch seelengutes Gesicht blühte auf. »Wie kannst du noch fragen?« schalt sie. »Das beste Kind von Brienz.«

Verdutzt stand ich da.

»Vielleicht daheim«, stotterte ich, »bei Vater und Mutter.«

»Nein, nein, wo sie hinkommt, haben alle sie gern. Frag’ nur im Bären. Sie arbeitet wie eine Ameise ...«

»Und beisst auch so ...«

»Was beisst? ... Sie gehorcht und denkt nie an sich, immer nur an die andern.«

»Herrgott, aber ...«

»Wärest du nur auch so«, predigte Luise und stopfte das Haar nach damaliger Mode ins Netz. »Man kann mit Lina reden wie mit einer erwachsenen, so ernst ist sie. Und keiner Fliege könnte sie weh tun.«

Mir war, ich müsse auf den Kopf stehen. Ich fragte nichts mehr, aber nahm Luisens Handspiegelchen und wollte mich einmal gründlich mustern. War ich denn weniger als eine Fliege? Oder sah ich wie ein Luderbub aus?

»Ja, guck’ dich nur recht an! Schau’, wie dir die Hörner wachsen.«

»Ich habe gar keine Hörner, so wenig wie Lina.«

»Wohl hast du Hörner und dazu recht dicke.«

Ach was! Weder etwas besonders Gutes noch Böses konnte ich in meinem farblosen Gesicht entdecken. Ganz gewöhnliches hellbraunes Haar deckte meinen Kopf. Meine Wangen waren schmal, meine Augen grau wie Millionen andere Augen, der Mund etwas zusammengepresst vom vielen Asthma und nur die Nase, die bisher hübsch gerade gewachsen war, schien nun grösser zu werden und sich zu krümmen, worüber ich mir aber keine Gedanken machte. Monatelang sah ich nie in einen Spiegel. Nie hatte man mein Äusseres gerühmt. Nicht die geringste Neugier kitzelte mich zu wissen, wie ich vor andern aussehe. Es war mehr als Stolz und weniger als Demut, es war pure Nachlässigkeit. Durchs ganze Leben ging mir das nach.

In jedem Fall sah ich jetzt keinen widrigen Burschen, keinen Spitzbuben, sondern einen anständigen kleinen Kerl im Glas, über dem sogar ein dünner Schein von Geduld und Nachdenklichkeit lag. Nein, die krause Tante, die garstige und doch hübsche Lina, Sabine, die mich auch nicht recht leiden konnte, und selbst die scheltende Luise, sie taten diesem bleichen, mit Sommersprossen übersäten Knaben alle unrecht. Die Schlingel am See, die Kutscher, die Schnitzler, Onkel Jaggi, kurzum alle Berner waren gut mit mir, aber alle Bernerinnen hassten mich. Was war da zu machen? Ja, wenn die Männer regierten, dann mochten die Röcke sich meinetwegen blähen vor Bosheit. Aber wenigstens hier im Umkreis stand das Weiberzeug obenan und die Hosen knickten zusammen. Pfui doch! Fliehen, heim nach Sachseln! Hier kommt man zu viel Schönem, aber zu keinem Frieden.

Doch, o Wunder, am folgenden Nachmittag kam Verena in den Kastanienpark des Bären im schönsten Sonntagskleid und mit jener wunderbar lächelnden Kraft, das Widrigste für eine Sonnenscheinstunde so gänzlich zu vergessen, dass nicht ein Schimmerchen davon verloren gehe. Sie hatte also doch einmal einen freien halben Tag erkämpft und schaute jetzt froh in die dunkeln Baumdolden und tiefer hinten in die langsame, grüne Woge des Sees. Gar fein trank sie aus einer Porzellantasse den Kaffee, und Luise lehnte sich kindlich an ihre Seite, und sogar die Tante leistete ihr mit einiger Wichtigkeit und vielen Herrje Gesellschaft. Die grausame Lina aber servierte meiner Mutter mit achtungsvollem Lächeln und gab ihr auf jede Frage einen hellen, wohlklingenden Bescheid. Ach, wie mir das wohl und weh zugleich tat.

Ich fühlte etwas wie Eifersucht in mir erwachen. Mein Stuhl stand am weitesten von der Mutter weg. Mein zukommender Platz wäre viel näher. Aber auf keine Art konnte ich mich herzudrücken.

Inzwischen landete der Dampfer, keuchend, pustend, hustend wie ein Riese im Asthma. Der Nachmittag hatte ein wunderbares Geleucht, eine süsse Frühherbstlichkeit. Unsagbar fein wallte das goldene Geflimmer der Luft von den Bergen nieder in den blaugrünen See. Es machte geradezu berauscht, lange in diese schwelgerische Herrlichkeit hineinzuschauen.

Diesmal, dem schönen Tag zulieb, waren es viele Fremde, vornehme Familien, die über den Steg zum Gasthof schritten, um vor der Heimkehr noch eine Streiferei durchs weltberühmte Haslital auszuführen. Brienz gab den silbernen Schlüssel dazu.

Ich war aufgestanden, um alles besser zu sehen, und lehnte mich an einen der breitlaubigen Bäume des Durchgangs. Und nun bleibt mir unvergesslich, wie ein stattlicher Herr mit blitzendem Monokel, einem ungeheuren, fast weissen Schnurrbart und kerzengerader Haltung daherschritt, eine breite, aber bewegliche Frau mit einem überaus geduldigen Gesicht am Arm. dahinter folgten zwei Diener mit Handgepäck, einer in Kniehosen wie ein Kammerlakai. Nun watschelte ein flockhaariger Pudel oder Pinscher wie in schleppend graue Seide gehüllt gemütlich nach. Ein etwa sechzehnjähriges, hochaufgeschossenes, lustiges Mädchen führte ihn an der Leine. Neben ihm ging ein ebenso alter Jüngling mit hochmütiger und gelangweilter Miene. Er hielt eine Lederpeitsche in der linken Hand. Jede seiner Bewegungen kam mir wie Musik vor, ja, sein ganzer schmaler Knabenkörper war ein Gesang. Obwohl ich mich dennoch sofort unweigerlich irgendwie von ihm abgestossen fühlte, konnte ich dennoch fast nicht von diesem leise geröteten, goldbeflaumten Antlitz wegsehen, eine solche seltsame Schönheit lag darin. Die brauen wuchsen wie scharfe Pinselstriche schräg in die Stirne, was einen fast verbrecherischen, tollen Eindruck machte. Darunter glommen Augen, grünblau wie der Brienzer See, von unbeschreiblich wilder Tiefe. Die Lippen waren schmal und eckig, beinahe purpurblau, die Zähne weiss und keilförmig zugespitzt. Alle Fremden sahen ihm nach. Ich, der so gar nicht gewöhnt war, auf die Schönheit der Menschen zu achten, glaubte bei dieser wundersamen Bildung von Gesicht und Gestalt eine jener Visionen zu sehen, die mein Vater ab und zu in jähen Momenten als Engels- oder Satansschönheiten ins Skizzenbuch hingeworfen hatte. Aber jetzt lag eine gewisse Müdigkeit auf dem jungen Menschen. Er schleifte die Peitsche nachlässig über den Kies. Dennoch war mein erster Gedanke, welch’ entsetzliche Hiebe dieser ausgereifte Knabe damit austeilen könnte, obwohl seine Hand schmal- und feinfingerig wie bei einem Nönnchen aussah.

Als wäre mein Gedanke wie ein Funke auf den Jünglingknaben und sein grausames Spielzeug übergeschossen, hörte man plötzlich einen grellen Aufschrei des Pinschers und fast unmittelbar darauf das Zischen und Klatschen der Peitsche in die Waden des Kniehöslers. Denn dieser Unglückliche war dem Seidenpudel auf die Pfote getreten, das gepeinigte Tier kroch unter gellendem Geschrei auf dem Bauche, ward sogleich vom Jüngferchen auf die Arme gehoben und ans mitleidige Gesicht gedrückt. Der Prinz aber, wie ich ihn heimlich taufte, war im Nu aus seiner Blödigkeit erwacht, seine Augen flackerten, er sperrte die Lippen auseinander vor Wildheit und blitzschnell zückte ein solcher Treffer auf die unbeschirmte Wade des Dieners, dass dieser fette Hamster einen Luftsprung tat und hinkend zur Türe des Gartensalons voraushinkte. Herr und Frau wandten sich um, krauten das Hündchen, das noch leise knurrte, und nur die milde, üppige Dame warf ihrem Sohne mit einem wahren Morgen von Güte im Antlitz einen kummervollen Blick zu.

Ich stand hart neben dem raschen Abenteuer, zwei Schritte vom nobeln Flegel weg, und starrte ihn wie einen Sohn des Satans an. Das wurde ihm zu viel. Er reckte den Kopf, lachte hässlich und streckte mir eine lange heisse Zunge entgegen. Dazu fuchtelte er her und hin durch die Luft, dass es pfiff, und lachte mich wieder greulich an, als wollte er sagen: Soll ich’s dir auch zu schmecken geben?

Solche Vorfälle regten mich schon damals furchtbar auf. Mein ganzes Wesen bäumte sich vor Gerechtigkeitswut gegen diesen Burschen auf. Ich schlich an unsern Tisch zurück und konnte lange kein Wort hervorbringen.

Die Tante kam aus dem Saal zurück. «Das sind einmal Vornehme«, krähte sie. «Die fragen nicht einmal nach dem Preise und haben sogleich die vier grössten Zimmer gegen den See bestellt. Dem Johann hat die Frau hinterrücks ein Goldstück zugesteckt, und ich verstand so was wie: ›Trag es nicht nach, du weisst ja, seine Nerven ...’ Und er durfte ihr die Hand küssen. Morgen fahren sie im Vierspänner über den Brünig. Das heisst man noch Touristen aus der guten Zeit. Exzellenz sagen die Diener und verneigen sich bis zur Brust. Herrje, wenn alle so wären! ... Der eine Kammerbursche, der Johann, scheint freilich ein Tölpel zu sein.«

Dieses Schwatzen der Tante konnte ich nicht verstehen. Da hat doch ein Mensch einen Menschen vor aller Augen gepeitscht wie einen Hund. Hat ihn jemand gestraft? Hat er nicht noch gelacht, unheimlich dazu gelacht? Und der Gezüchtigte durfte nicht einmal schreien. Er musste es einfach so hinnehmen. O Gott, was ist das? Mir schien, alle müssten vor Empörung aufstehen und protestieren: Halt, das geht denn doch nicht. Und da kommt diese Tante und rühmt noch das Pack!

Aber auch meine Mutter sass ruhig bei der zweiten Tasse Kaffee und rührte sanft den Zucker darin. Hatte sie den Vorfall nicht bemerkt? Oder war sie selbst durch so viele Peitschenschläge eines tyrannischen Schicksals abgestumpft, dass sie nichts Ungewöhnliches mehr darin fand? Es war im Gegenteil jetzt eine so heitere Laune an unserem Tischchen entstanden, dass die Tante noch einen Zwetschgenkuchen aufstellen liess und mir sogar das Unerhörte sagte: «Greif zu, Heinrich. Herrje, das reut mich doch nicht! ...« Und der Kuchen war so köstlich, der Kaffee so herzerleichternd, Butter und Honig auf den Semmeln so süss, dass auch ich die Grausamkeit vergass, wieder keck wurde und im Angesicht des durch die Vespersonne goldig dahinplätschernden Sees, der vielen Boote und der Mutter, die so selig die Landschaft mit ihren tapfern Augen in sich hineintrank, dass ich den alten Wunsch wilder als je in mir entbrennen fühlte, diese meine gebenedeite Mutter übers Wasser zu rudern. Einmal wenigstens! Jetzt!

Als nun Luise mit meinen Schwestern ein bisschen seitab ging, wandte ich mich an die Mutter und sagte unter starkem Atmen: «Mutter, sieh, jetzt ist der See mäuschenstill. Jetzt könnte ich ein Stündchen mit dir hinausrudern. Willst du?«

Die Gute schrak leise zusammen. Aber dann musste sie wohl in meinen Augen den grossen See und eine noch grössere Kindesfreude darin spiegeln sehen. Sie verhielt das Nein, lächelte und scherzte: »Ach du, mich rudern!«

Da sprang ich feurig auf und bewegte die Arme, als ruderte ich schon. Überlaut rief ich: »Ich? Meinst du, ich habe zu wenig Kraft? Aber ich habe doch schon vier Buben herumgerudert, sogar bei starken Wellen. Und den Onkel Jaggi. Gewiss kann ich rudern. Frage doch da unten den alten Michel! Er lässt mir immer seine kleine Gondel, die braune dort unten. Sie ist so leicht wie eine Zigarrenschachtel. O Mutter,« bat ich, und die Augen wurden mir vor Eifer nass. »Komm, komm, nur eine Viertelstunde, nur bis zum Kirchenhügel, oder wenn du lieber willst, gegen das Oberdorf, hübsch glatt am Bord entlang, ganz wie du magst. Das tut dir gut.« Und ich zog sie am Arm empor, und die Tante, vielleicht froh, wenn wir nun gingen, half noch mit: »O herrje, was ist da zu riskieren, Vreneli? Hier rudert dir doch jeder Käsehoch. Der Heinrich macht es ganz gut. Es ist wahr, er hat meinen Mann schon zweimal zu den Fischnetzen gefahren, und Jaggi lobt nicht so bald. Geht doch ein Stündchen! ...« Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, sagte meine Seele leise und mit einiger Vorsicht: »Gute Tante!«

»Gut also, eine halbe Stunde«, gestattete Verena und raffte den weiten, rauschenden Rock zusammen und nahm meine Hand. Und erst jetzt merkte ich, dass in unserem Rücken die Frau der Exzellenz mit ihrem Sohne an einem Tischchen sass, einen Fruchtteller vor sich. »Dietrich,« flüsterte sie melodisch, »du kannst doch nicht rudern. Du weisst ... dein Arm! Wenn der Vater ausgeruht hat, nehmen wir eine schöne Gondel mit einem starken Bootsmann. Dann kannst du kommandieren, wohin es gehen soll.«

Ich merkte sogleich, dass der Prinz mich etwas respektvoller mass. Er hatte meine Zwängerei gehört und sah mein Frohlocken. Mit rotumränderten Augen blickte er mir nach und biss dann grimmig in eine Aprikose.

»Das ist mir ein Früchtlein«, tadelte meine Mutter leise.

Aber ich hatte jetzt nichts für ihn übrig, sondern zitterte vor Erregung und konnte es kaum erwarten, bis Mutter Verena mir endlich in der schmalen Gondel gegenübersass und ich am langen Damm ins offene, frischatmige Seewasser hinausfuhr. Meine Ruder glitten wie durch Öl, ohne ungeschickte Spritzer, im Takt, mit jenem süssen Knurren des Sees unter dem Schiffsboden, das so behaglich macht. Oh, ich hatte es den Brienzer Buben gut abgelernt. – Da plötzlich rief eine geschmeidige, klangvolle Stimme über mir: »Wie fein der kleine Kerl fährt! Herrgott, der sollte mich rudern, gerade der!«

Jener Prinz Dietrich war uns mit der Mutter hoch oben auf dem Damm nachgefolgt. Stolz hob ich die Augen zu ihm, und eine selige Schadenfreude durchschauerte mich. Dann aber sah ich nur noch das Wasser, den Himmel und meine Mutter stillsitzend dazwischen und nichts anderes. Sie war gewiss viele Jahre nie mehr gerudert worden. Aber sie sass da, als wäre sie hier geboren, mit einer Ruhe, Sicherheit und frohen Ergebung, dass ich staunte, ohne zu fragen, warum ich so weit hinausfahre, ohne es zu achten, als wir in die zwei, drei Wellenberge des Dampfers gerieten, der in nahem Bogen vorbeifuhr, und dreimal hoch bergauf, bergab schaukelten. Sie redete kein Wort. Ihre Hände, in fein gehäkelten, seidenen Halbhandschuhen, wie es damals Mode war, lagen gefaltet auf ihrem Schoss. Die Ufer von Brienz wurden ferner, die vom Gebirge jenseits näher, so dass wir den Giessbach hörten, aber alle Erde war wie von uns getan, und wahrhaft, meine Mutter sah so aus, als ob sie alles Irdische an den Ufern liegen gelassen, allen Staub vergessen hätte und jetzt nur noch vom grossen Himmel über uns lebte. Ich hatte vor, sie hunderterlei zu fragen: Ob es ihr gefalle? ob ich es recht mache? ob sie nach rechts oder links wolle? ob sie wisse, wie tief es unter unserem dünnen Brett sei? ob sie mich gern habe? jetzt noch ein wenig lieber als bisher? und andern solchen Sinn oder Unsinn. Aber ich brachte keine Silbe hervor. Obwohl ich Zwölfjähriger es nicht recht verstand, ahnte ich doch, ich dürfe ihre Stille jetzt nicht stören. Sie bete vielleicht. Sie höre, sehe, fühle Dinge, von denen ich nichts wisse. Gott rede mit ihr.

Aber auch ich war endlos glücklich. Das Rudern auf dem See war mir zur beglückenden Leidenschaft geworden. Nun hatte ich mein Liebstes auf Erden dabei, meine viel von mir geplagte, aber noch viel mehr verehrte, unsagbar köstliche Mutter. Und ich besass sie allein zwischen Himmel und Erde. Kein Mensch konnte dazwischenkommen. Ganz in meine Hand war sie gegeben. Als ob ich sie auf der Schulter trüge oder mit ihr durch die Luft flöge, nicht anders war es, wie ich sie jetzt ganz allein mit meiner Kraft besass und über dieses wundervolle Wasser ruderte. Nie war sie so mein Eigentum gewesen. Und da sie nun zwar abgemagert und knochig vor mir sass, rauh gekerbt von den Grobheiten des Lebens, aber das Haar noch so schwarz, die Stirne noch so rein, die Augen noch so tief aufleuchtend, in diesem Augenblick eine so rührend schöne, mutige und doch demutvolle Erscheinung, da wäre ich am liebsten vor ihr auf den Schiffsboden gekniet, hätte ihren Hals umschlungen und gesagt: »Du Schönstes, Liebstes, Bestes auf Erden, gib mir einen Kuss!« Aber eine fast kirchliche Scheu hielt mich zurück.

Erst als wir uns zurück dem Bären näherten, berührte es mich wieder irdischer. Dennoch wagte ich nicht meine lang gehegten Pläne auszuführen, zum Beispiel zu zeigen, wie man am schnellsten kehrum macht, wie man mit einem Ruder allein vorwärts kommt, wie ich beide Ruder ins Schiff nähme und doch landen wollte, und andern Hokuspokus. Ich hatte nicht einmal, wie sonst immer, die Sandalen und Strümpfe abgelegt und ein Fussbad genommen.

Und hätte ich auch solche Faxen probiert, sie wären spurlos verflogen, als meine Mutter nun ganz nahe dem Strand zu mir sagte: »So, jetzt vertreib dir da noch die Zeit mit den Buben, ich will noch zu Luisen gehen. Ich danke dir.«

»Du dankst mir?« stotterte ich. Das hatte sie noch nie zu mir gesagt. Ich fühlte mich wie ein Mann.

»Ja, ich danke dir, es war schön. Aber höre, werde ich mich einst, wenn ich alt und müde bin, auch so auf dich verlassen können? Nimmst du mich dann auch ins Schifflein zu dir und hältst mich? Etwa ins Kaplanenstübchen oder wo es ist? Denn das da«, und sie zeigte auf unsere Fahrt zurück, »war nur ein Spiel ...«

»Ach, Mutter,« stürmte ich ihr wild ins Wort, »du weisst doch, dass wir beisammen bleiben. Immer, immer! Auf Ehr’ und Selig ...«

»Schon gut, schon gut«, schnitt Verena die ihr so verhassten grossen Worte ab. Ich sprang zum Boot hinaus und zog es an der Kette in den Sand. Noch weit, weit hätte ich meine Mutter rudern mögen, so gar nicht müde hatte mich das stille Gondeln gemacht. Ich wurde fast traurig, dass die Herrlichkeit schon vorüber war.

Sieh, da stand jener Prinz mit seiner Frau Mutter da, und halb zu mir, halb zu Verena sagte die grosse Dame: »Entschuldigen Sie, aber wir haben gesehen, wie Ihr Knabe gut und sicher fährt. Mein Dietrich langweilt sich so schrecklich. er möchte durchaus mit so einem jungen, frischen Ruderer ein bisschen herumgondeln. Aber,« wandte sie sich geradeswegs zu mir, »du wirst nun sehr müde sein, lieber Junge.«

»O gar nicht,« rief ich keck »ich könnte noch lange rudern.« Und es stieg mir wie ein Rausch zu Kopfe, dass ich mit diesem Jüngling, dessen eisblaue Blicke mich fast verzehrten, vielleicht noch ein wenig herumgondeln dürfte.

Kaum hatte ich’s gesagt, so legte mir Dietrich die Hand auf die Achsel und befahl im schönsten, raschesten Hochdeutsch: »Also, Bub, rudere mich!« Sein Gesicht stand gerade über meinem. Es duftete von Südfrüchten und Parfüm auf mich herunter. Oh, es war die Figur und das Gesicht des Knaben Alcibiades, wie ich es aus einer Zeichnung des Vaters im Sinne hatte, über alle Begriffe schön und gleichmässig, nur viel blonder und irgendwie gefährlicher.

Meine Mutter nickte: »Mach’ ihm die Freude!« und stieg mit einem letzten Winken der Hand zur Dorfstrasse hinauf.

»gerne«, versprach ich der Dame. »Jetzt gerade wird es am schönsten. Die Sonne geht bald unter. Dann riecht und glänzt es herrlich aus dem Wasser.«

»Wie er schwatzt,« sagte Dietrich lächelnd zur Mutter, »der Schweizer!«


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