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Kinloch war auf einen so maßlosen Zusammenbruch ganz und gar nicht gefaßt, daß er sprachlos dastand. Er konnte es einfach nicht verstehen. Gerade das hätte er am allerwenigsten von ihr erwartet. Bis zu diesem Augenblick hatte sie ja eine solche kühle, beherrschte Selbstsicherheit an den Tag gelegt, und – so wenigstens dachte er – eine derartige egoistische Berechnung! Er hatte mit Sicherheit angenommen, es mit einer abgebrühten, vielerfahrenen älteren Frau aus der Gesellschaft zu tun zu haben, oder mit einer der allzu modernen jungen Frauenzimmer, in denen nicht eine Spur von weicheren Gefühlen mehr vorhanden ist – selbst der eigenen Person gegenüber. Hart mochte sie sein, aber wie er jetzt wußte, gab es eine Grenze, wo sie unter der Last nachgab. Er blieb schweigend stehen, wo er stand. Er fühlte sich hilflos. Das Klingeln eines Radfahrers in der Ferne rief ihn wieder zur Gegenwart zurück.
»Es kommt jemand«, sagte er hastig. »Nehmen Sie sich zusammen.«
Er kehrte der Straße den Rücken und kniete neben einem der Räder nieder. Es sollte so aussehen, als prüfe er eine Beschädigung an einem der Pneumatiks. Für den Fall, daß sie nicht imstande war, sich zu beherrschen, war es besser, den Anschein zu erwecken, als läge irgendein äußerer Grund für ihre Bestürzung vor. Während er sich über das Rad beugte, hörte er hinter sich das leise Knirschen, mit dem die Luftreifen eines Fahrrads über den Kies der Straße glitten. Erst als er die Klingel des Radfahrers wieder in weiterer Entfernung hörte, als der Mann den Abhang nach der Hauptchaussee hinunterfuhr, stand er wieder auf.
»Er hat sehr scharf nach Ihnen hingesehen«, flüsterte sie, über den Wagenschlag gebeugt.
»Wer war es denn?«
»Ein Polizist. Ein Polizist hier aus der Umgebung.«
Kinloch fuhr zusammen. Er war überrascht, daß es ihm unangenehm war, nach den Ereignissen der vergangenen Nacht in Berührung mit der Polizei zu kommen. Jedoch die List, durch die er die Aufmerksamkeit des Polizisten von sich abgelenkt hatte, machte ihm viel Vergnügen.
»Ich tat so, als hätten wir ein Loch im Pneumatik«, sagte er.
»O du lieber Himmel«, rief sie. »Kein Wunder, daß er sich noch einmal umgedreht hat, um Sie zu beobachten. Haben Sie denn nicht bemerkt, daß dieser Wagen Vollgummireifen hat?«
Er fühlte mit der Hand hin, um sich selbst von der Wahrheit zu überzeugen. Ein Personenauto mit Vollgummireifen war ihm etwas ganz Neues.
»Wir sollten machen, daß wir weiterkommen«, sagte sie und öffnete den Schlag. »Das ist ein schlechter Anfang.«
»Es ist ganz ausgeschlossen, daß man hier schon etwas von der Sache gehört hat«, meinte er.
»Nein, aber wenn die Sache bekannt wird, wird sich dieser Polizist an uns erinnern.«
In ihrer Stimme verriet sich so viel Besorgnis, daß Kinloch davon überrascht war. Er versuchte sie zu trösten.
»Oh«, sagte er, »die Sache wird in Ealing natürlich großes Aufsehen erregen, aber schließlich –«
Er stockte, denn er hatte etwas Sonderbares gehört. Er traute seinen Ohren nicht. Sie lachte. Freilich, es war kein fröhliches Lachen. Das merkte er sofort. Und es brach ebenso rasch ab, wie es begonnen hatte.
»Worüber lachen Sie?« fragte er scharf. »Ich finde nicht, daß Sie viel Grund zum Lachen haben.«
»Nein. Aber das war auch kein Lachen.«
Er wurde argwöhnisch.
»Hat sich die Sache eigentlich wirklich in Ealing zugetragen? Wie steht's damit?«
»Doch, ja.«
»Nun, und?«
»Wenn – wenn – wenn die Sache bloß in Ealing Aufsehen erregen würde«, sagte sie mit einem Seufzer. Sie sprach mehr zu sich selbst.
Aber er hatte es gehört.
»Machen Sie, daß Sie weiterkommen«, er sprach jetzt beinah sanft – »Sie sind, glaube ich, nicht die Schlimmste, und ich bin eine viel zu gefährliche Gesellschaft für Sie.«
»Nein. Ich kann Sie hier nicht einfach zurücklassen.«
Eine beispiellose Entschiedenheit lag in ihren Worten. Aber Kinloch fühlte darin nur Mitleid und glaubte, sie denke gar nicht an die eigene Gefahr dabei.
»Meine liebe Dame, sehn Sie mich mal genau an, und dann betrachten Sie sich selbst. Wir beide nebeneinander in einem Auto – ein seltsames Paar. Der Unterschied muß so groß sein, daß er überall, wo wir hinkommen, auffallen muß.«
»Dann müssen wir eben etwas tun, um diesen Unterschied zu verringern. Anders geht es nicht. Sie hier zu lassen, damit Sie der Polizei in die Hände fallen, das wage ich nicht.«
Kinloch zögerte unschlüssig. Sein Kopf, der noch immer schmerzte, erlaubte ihm nicht, klar zu denken, sosehr er sich auch bemühte, die Lage genau zu übersehen. Während er noch zauderte, stieß sie einen leisen Aufschrei aus.
»Großer Gott! Da kommt der Polizist wieder zurück! Ich habe es gleich gedacht. Eilen Sie sich doch!« Ihre Stimme war flehend. Sie schien entsetzliche Angst zu haben.
Kinloch warf sich in den Wagen, wie, wußte er nicht. Sie schaltete die höchste Geschwindigkeit ein und schoß davon.
Sie fuhren etwa eine halbe Stunde, und keiner sprach ein Wort.
Er fürchtete, ein Wort von ihm könne sie wieder aus der Fassung bringen. Die scharfen Wendungen und Kurven, die der Wagen machte, belehrten ihn darüber, daß sie irgendwo tief in den Feldwegen steckten, und daß die Landstraße irgendwo weit in ihrem Rücken lag. Nach und nach begann sie, etwas erleichterter zu atmen. Er saß neben ihr und fragte sich, wie all das enden solle. Die rasche Entwicklung der Ereignisse hatte ihn etwas verwirrt.
»Wo bringen Sie mich jetzt hin?« fragte er schließlich.
Die Stimme, die ihm antwortete, zitterte nicht mehr:
»Dahin, wohin ich mich selbst für einige Zeit zurückziehen wollte. Ein drolliges, sehr einsames Dorf, das auf dem Kamm dieses Höhenzuges liegt. Es ist an beiden Enden durch Tore abgeschlossen, und mittendrin liegt ein großer Gemeindeanger, eigentlich nichts weiter als ein Stück Heide, das gut eine Meile lang ist, mit Farnkraut und Ginsterbüschen.«
Sie schien alles so ausführlich zu erzählen, um ihn etwas abzulenken.
»Schön, und wenn wir dort hinkommen – was dann?«
»Dort ist ein Haus – jemand, den ich kenne, hat dort eine Art kleines Wochenendhaus, das er nur im Sommer benutzt. Eine alte Frau aus der Nachbarschaft hat den Schlüssel dazu. Es wird alles glatt gehen. Die Frau kennt mich. Dort können auch Sie ein paar Tage bleiben, bis Sie sich erholt haben, und können abwarten, was geschieht – ich meine, ob irgend etwas herausgekommen ist.«
»Wie heißt denn das Dorf?«
Ihre Antwort ließ auf sich warten.
»Ach, Sie möchten nicht, daß ich's erfahre?«
Sie gab noch immer keine Antwort. Deshalb fügte er hinzu: »Lassen Sie nur. Ich weiß, daß es nicht allzu weit von Chichester sein kann.«
Er hatte die Vermutung aufs Geratewohl geäußert, aber sie fuhr überrascht auf. Nach einer Weile fragte sie:
»Warum glauben Sie das?«
»Nach dem Schlag der Turmuhr, die sechs schlug, als wir durchfuhren, und nach der Zeit, die wir gebraucht haben, um die kleine Stadt zu erreichen, die sich dieser Turmuhr rühmen kann. Außerdem kann ich aus der Art, wie wir dauernd bergauf und bergab gefahren sind, ohne weiteres schließen, daß wir irgendwo in den Höhen von Sussex sein müssen.«
Nach einigem Zögern sagte sie:
»Wenn Sie wirklich klug sind, werden Sie sich nicht bemühen, herauszubekommen, wo Sie sich befinden.«
Diese Antwort ließ ihn mit voller Deutlichkeit erkennen, wie sie zu ihm stand. Es lag auf der Hand, daß sie bemüht war, ihn so wenig als möglich erfahren zu lassen. Er nickte vor sich hin. Er verstand, daß diese Frau, trotzdem ihre Nerven vor kurzem versagt hatten, und trotz ihrer Tränen, jetzt auf ihrer Hut war, daß sie alle ihre fünf Sinne wieder beisammen hatte, und daß sie aus seiner Blindheit den größtmöglichsten Vorteil zu ziehen wußte.
Später, als sie in die Nähe des Dorfes gekommen waren, ließ sie ihn in einem Gebüsch, das etwas abseits vom Weg lag, zurück und begab sich allein in die Ortschaft, um die alte Frau aufzusuchen, deren Aufsicht das Sommerhaus unterstellt war. Es schien viel Mühe zu machen, alles dort in Ordnung zu bringen, denn sie blieb etwa zwei Stunden weg. Als sie zurückkam, brachte sie ihm etwas zu essen mit. Die alte Frau würde, wie sie berichtete, im Hause alles fertigmachen. Sie sei über ihre unerwartete Ankunft nicht überrascht gewesen. Nach Ansicht des Dorfes war alles, was die Leute aus der Stadt taten – »die Fremden«, wie sie hier genannt wurden –, ausnahmslos etwas seltsam, selbst wenn sie nicht ganz und gar verrückt waren. Während Kinloch aß, saß sie neben ihm – sie hatte eine Decke ausgebreitet – und erzählte Kinloch noch mehr derartiges. Es hatte den Anschein, als spreche sie nur um des Sprechens willen. Aber es entging ihm nicht, daß sie dabei auf ihre Worte sehr sorgfältig achtete, denn ihr entschlüpfte nicht das geringste, was ihm andeutungsweise verraten konnte, wo er sich befand.
»Wie heißt das Dorf eigentlich?« fragte er, als habe er für den Augenblick völlig vergessen, daß er sie schon einmal gefragt und daß sie es ihm nicht hatte sagen wollen.
»Ich nenne es Minnis«, sagte sie.
Und aus dem Ton konnte er entnehmen, daß niemand anders es so nannte.
Noch etwas anderes fiel ihm auf. Trotz ihrer überströmenden Gesprächigkeit machte sie plötzlich ganz unvermutet lange, sonderbare Pausen. Er spürte, daß sie fieberhaft nachdachte. Er glaubte, daß sie nervös, verhetzt und beunruhigt sein müsse. Während solcher Pausen hörten sie aus dem Wald unterhalb die scharfen Schläge einer Holzhaueraxt.
Selbstverständlich war es ausgeschlossen, daß er das Haus betrat, ehe völlige Dunkelheit eingetreten war. Bis dahin mußte er bleiben, wo er war. So gab es nichts, das ihn vom Nachdenken ablenken konnte, nachdem seine Begleiterin wieder verschwunden war. Und seine Gedanken wanderten schnurstracks zu dem Mordzimmer in Ealing zurück. Was hatte der Kerl im Gehpelz eigentlich angestellt, das ihn zur Beute von Erpressern machen konnte? Der Bettelbriefschreiber, mit dem Kinloch in Rowton Street zusammenlebte – er nannte sich Beaumont, aber es war wenig wahrscheinlich, daß er wirklich so hieß –, hatte ihm viel von Erpressungen erzählt. Beaumont selbst betätigte sich allerdings nicht auf diesem Gebiet – wie er selbst zugab, weil ihm der Mut dazu fehlte. Es war ein Geschäft, das sich ausgezeichnet lohnte, aber unglücklicherweise, so pflegte er zu sagen, sehr gefährlich war. Und dann erinnerte sich Kinloch noch an etwas anderes, was Beaumont gesagt hatte. Bei allen Erpressergeschichten steckte sicher irgendwie eine Frau dahinter. Eine Dame der Gesellschaft, hatte Beaumont gesagt und dabei genießerisch mit den Lippen geschmatzt, deren guter Ruf der Punkt war, wo man den Hebel ansetzen konnte, um wirklich erhebliche Beträge erpressen zu können. Nur in solchen Fällen, so hatte er versichert, ließ sich wirklich ein hinreichender Druck ausüben. Kinloch stopfte sich eine zweite Pfeife. Er fragte sich, welche Frau wohl in diesem Fall dahinterstecken möge. War seine Begleiterin diese Frau? Zumindest teilweise mußte sie gewußt haben, was sich zwischen den beiden Männern abspielte. Aber sie war gerade einen Augenblick zu spät ins Zimmer getreten. Daran war wieder der Nebel schuld, dachte Kinloch. Der andere, der Mörder, mußte die Tat von Anfang an geplant haben. Hatte er doch ein Messer bei sich gehabt, und niemand schleppt ein Messer, mit dem man einen Menschen durch einen einzigen Stich töten kann, mit sich herum, wenn man nicht einen Mord plant. Und Kinloch hatte mit der Hand in eine Lache noch warmen Bluts gefaßt.
Bei dieser Erinnerung richtete er sich in plötzlicher Furcht kerzengerade auf. Das Streichholz, das er in den Fingern hielt, brannte ab, und er vergaß, die Pfeife anzuzünden. Hatte er etwa irgendwelche Spuren seiner Anwesenheit dort zurückgelassen? Der andere, der mit dem Entschluß, einen Mord zu begehen, hingekommen war, der Mann, der wohlüberlegt das geräuschlose Messer, statt des Revolvers, als Waffe gewählt hatte – von dem war es sicher nicht anzunehmen, daß er Beweise seiner Anwesenheit und Spuren, die zur Feststellung seiner Identität dienen konnten, hinterlassen hatte. Aber er, Kinloch, hatte nicht so vorbedacht handeln können, und mit plötzlichem Schreck erinnerte er sich daran, daß sein Stock in dem verhängnisvollen Zimmer zurückgeblieben war.
Nein, gewiß war es sicherer, eine Zeitlang sich verborgen zu halten. Wenn das Dorf auch entlegen war, ganz gewiß kamen Zeitungen auch bis hier herauf, und er konnte von seiner Begleiterin hören, was über den Mord darin stand. Niemand hatte sie zusammen kommen sehen. Und es war nicht nötig, daß er gesehen wurde, wenn er sich ins Haus schlich. So hatte sie gesagt. Und den Plan fand er jetzt sehr vernünftig. Hatte er doch den Wunsch, mehr über die ganze Angelegenheit zu erfahren und vor allen Dingen darüber, welche Rolle diese Frau darin gespielt hatte. Die Abneigung, die er gegen sie empfunden hatte, war verflogen. Das, wofür er sie gehalten, war sie nicht. Wenigstens nicht ganz. Und auf alle Fälle wollte er wissen, wie die Sache ausging.
Es war sehr kalt auf dem Hügel, auf dem er lag, das Wäldchen war feucht, und ihn fror; aber er hatte schon an schlimmeren Stellen liegen müssen.
Und der Gedanke tröstete ihn, daß die Tage im Januar zwar rauh und kalt, aber dafür auch kurz sind.