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Zehntes Kapitel

Ruhigen und gleichmäßigen Tons begann Inspektor Snargrove seine Rekonstruktion der Mordtat.

»Vergangene Nacht«, sagte er, »saß Mr. Ponsonby Paget, wo ich jetzt sitze. Er erwartete jemand, der nicht kam. Das war nicht Mr. Chance. Der Ermordete kannte Mr. Chance als Abstinenzler. Weder hätte er für Mr. Chance ein Glas bereitstellen noch die Whiskykaraffe neu füllen lassen, wie es, nach der Aussage des Butlers, geschehen ist. Mr. Paget wurde sehr unruhig, als die Zeit verging und der erwartete Besuch nicht eintraf. Er öffnete die Balkontür, die in den Garten führt. Warum? Wahrscheinlich nicht, um nach seinem Besucher zu sehen, sondern weil er von da am bequemsten und raschesten feststellen konnte, ob der Nebel noch immer so dicht war. Er muß sich gefragt haben, ob der Betreffende sich infolge des Nebels verspätet, ja sich vielleicht verirrt habe. Daraus geht hervor, daß der Erwartete weder ein Nachbar war noch jemand, der die Umgegend kannte, sondern jemand, der bis hierher eine nicht unbeträchtliche Fahrt zurückzulegen hatte. Man kann, wenn man will, es als ein Zeichen für Mr. Pagets nervöse Erregung nehmen, daß er die Balkontür nicht wieder verriegelt hat, ganz gewiß ist aber, daß seine Unruhe sich immer mehr steigerte, je mehr die Zeit verging. Er verließ das Haus durch die Vordertür und legte eine nicht unbeträchtliche Strecke Wegs zurück. Wie wir annehmen wollen, handelte es sich um einen Versuch, den Erwarteten aufzufinden, der, wie er wohl vermutete, sich verirrt haben mußte. Mr. Paget dürfte sich darüber klar gewesen sein, daß er nur sehr geringe Aussicht hatte, auf diese Art mit dem Erwarteten zusammenzutreffen. Daß er trotzdem den Versuch machte, beweist, welche Besorgnis sein Ausbleiben ihm verursacht hat. Er kehrte dann allein zurück, und zwar wieder durch die Vordertür.«

Ich stieß einen Ruf des Erstaunens aus. McNab puffte mich.

»Psst!«

Aber Snargrove nahm die Unterbrechung gelassen hin.

»Der Überzieher, den er dabei trug, hängt gewöhnlich in dem Garderoberaum neben der Vordertür, Mr. Chance. Der Rock ist jetzt noch feucht. Pelz, der naß geworden ist, hält die Feuchtigkeit noch lange zurück, besonders bei nebligem Wetter, wie es gestern herrschte, und wenn er sehr gründlich naß geworden ist. Daraus ist zu schließen, daß Mr. Paget ziemlich lange unterwegs war.«

»Er war gestern ziemlich lange in der Stadt«, entgegnete ich trocken.

»Aber nicht in diesem Überzieher, wie Brown uns versichert hat. Außerdem sind seine Lackstiefel voller Straßenschmutz, und in der Stadt hat er diese gewiß nicht getragen.«

Nachdem ich derart moralisch zerschmettert worden war, bewahrte ich weiterhin ein respektvolles Schweigen.

»Er kehrte allein zurück«, nahm Snargrove seine Erzählung wieder auf, im selben träumerischen Tonfall wie vorher, als berichte er über eine Vision, »er hängte seinen Überzieher wieder in die Garderobe, wo wir ihn gefunden haben. Warum behaupte ich nun, daß er allein zurückgekehrt ist?« Snargrove machte eine Pause, seine Augen ruhten auf mir. »Weil mir die Whiskykaraffe darüber Auskunft gibt. Wenn ich die Karaffe ins Verhör nehme, dann scheint ihr Zeugnis allerdings zunächst zu bedeuten, daß Mr. Paget nicht allein zurückgekehrt ist. Aber wenn man sich ein paar sorgfältig erwogene Fragen vorlegt, ergibt sich sofort der wahre Sachverhalt. Die Karaffe faßt genau ein Quart, und der Butler hat sie gestern abend nach dem Essen bis obenhin gefüllt. Jetzt aber fehlten eine Pinte und zwei Unzen. Wer hat das getrunken? Wir haben die Scherben von zwei Gläsern, und beide Gläser sind in der Nacht benutzt worden. Aber bitte, beachten Sie folgendes: das Glas, das der Verbrecher benutzt hat, trägt sauber abgedrückt die Fingerspuren seiner rechten Hand – aber nur einmal. Das heißt, das Glas ist nur einmal benutzt worden, und das Glas faßt eine halbe Pinte.«

Snargroves Augen blitzten. Er sah uns der Reihe nach an. Er deutete auf die Scherben des zweiten Glases, die von Freely nicht mit dem Pulver behandelt worden waren.

»Ich wage es, zu behaupten, daß, wenn man die Fingerspuren auf diesem zweiten Glas, dem Glas, das der Tote benutzt hat, zum Vorschein bringt, es sich herausstellen wird, daß dieses Glas mehr als einmal benutzt worden ist.«

Freely stand eilig auf, zog das Kästchen mit dem Pulver und dem Pinsel aus der Tasche und beschäftigte sich mit den Glasscherben.

»Wir wollen einstweilen annehmen, es verhält sich so«, fuhr der Inspektor fort. »Daraus ergibt sich als Folgerung, daß die beiden, die die Gläser benutzt haben, sie zu verschiedenen Zeiten benutzten. Beachten Sie das gut! Der Fremde hat seinen Whisky auf einen Zug hinuntergegossen. Tut das ein Gast? Ich glaube doch nicht. Ebensowenig aber schenkt sich der Gastgeber dauernd ein und läßt das Glas seines Gastes leer. Und wenn ich mich hinsichtlich der Fingerabdrücke auf dem Glas getäuscht habe, hätte Mr. Paget das getan – das heißt, wenn wirklich die beiden Männer zu gleicher Zeit getrunken haben.«

»Sie haben recht, Snargrove«, erklärte Freely. »Er hat das Glas mindestens fünfmal in der Hand gehabt und wieder hingestellt.«

Snargrove machte eine Handbewegung.

»Damit ist die Sache geklärt. Der Mann, der das zweite Glas benutzte, ist der Mann, der in dem betreffenden Augenblick Ponsonby Paget bereits getötet hatte, und das Glas, aus dem er trank, war für jemanden bereitgestellt, der niemals gekommen ist

Diese sorgfältig ineinandergefügte Kette von Schlußfolgerungen wirkte ungemein eindrucksvoll und überzeugend. Der Inspektor tat einen tiefen Atemzug.

»Und nun«, sagte er finsteren Gesichts, »wollen wir einmal einen Blick auf den Mörder werfen.«

Freely kehrte auf seinen Platz zurück. Ich hing atemlos an Snargroves Lippen. Es überraschte mich, daß er jetzt schon sprach wie ein Mann, der seiner Sache sicher ist.

»Der Mörder hat sich durch die Balkontür eingeschlichen. Sein Opfer saß, wo ich jetzt sitze, und kehrte der Balkontür den Rücken. Um diese Zeit hatte Mr. Paget alle Hoffnung aufgegeben, daß der Erwartete noch eintreffen würde. Er hatte sich tief in den Sessel sinken lassen, und die Lehne verbarg ihn den Blicken des Verbrechers, der durch den Spalt in den Vorhängen das Zimmer musterte. Der Verbrecher war hochgewachsen, dunkelhaarig, höchstens Anfang der Dreißiger und von ungemein kräftigem Körperbau, aber lahm. Er warf einen Blick in den Raum und kam, da das Licht noch brannte, zu dem Schluß, daß das Zimmer wahrscheinlich nur vorübergehend leer sein werde. Er folgerte daraus, daß er rasch handeln und nehmen müsse, was ihm gerade in die Hände fiel. Gerade hatte er sich aus dem Schutz der Vorhänge ins Zimmer gewagt, als Mr. Paget aufstand und nach dem Tisch hinüberging, um sein leeres Glas neu zu füllen. Der Stöpsel ist neben der Karaffe auf dem Tisch gefunden worden, und dieser Umstand hat uns vieles zu sagen. Es beweist uns, daß Mr. Paget in dem Augenblick, als er die Karaffe hochheben wollte, ein Geräusch hörte. Wahrscheinlich hatte der Eindringling einen ungeschickten Versuch gemacht, wieder in den Schutz der Vorhänge zu flüchten. Mr. Paget glaubte, es handle sich um den erwarteten Gast oder um unseren Mr. Chance hier, und eilte nach dem Erker. Der Eindringling hatte nicht mehr genügend Zeit, zu flüchten. Außerdem war er lahm und mußte deshalb damit rechnen, sehr bald eingeholt zu werden. Mr. Paget packte ihn, es kam zu einem Kampf, bei dem der Vorhang heruntergerissen und der kleine Tisch im Erker sowie der Wandschirm umgestürzt wurden. Mr. Paget schrie Alarm und hielt den Ertappten fest. Er war zwar einen Kopf kleiner als sein Widersacher, aber sein Körpergewicht und der Umstand, daß sein Gegner lahm war, machten es ihm möglich, erfolgreich seinen Mann zu stehen. So zerrten sie sich gegenseitig kämpfend im Zimmer hin und her. Schließlich gewann doch der Jüngere und Kräftigere die Oberhand, und Mr. Paget, der zu stürzen drohte, krallte sich in der Verzweiflung im Haar seines Gegners fest. Da erst griff der Mörder zum Messer. Er war ein Mensch, der wußte, wie man sich eines Messers bedient. Aber noch ehe er davon Gebrauch machen konnte, sah Mr. Paget, was bevorstand, ließ den Mann los, sprang zurück, stolperte dabei und fiel hier zu Boden.« Snargrove ging durch das Zimmer und wies mit dem Fuß auf einen Fleck auf dem Teppich, um den mit Kreide ein Kreis gezeichnet war.

»Mr. Paget hatte, wie Sie sehen können, die Absicht, den großen Tisch zwischen sich und den Angreifer zu bringen. Aber es war zu spät.«

Der Inspektor trat an die Stelle, wo der große dunkelrote Fleck sichtbar war. Er schwieg einen Augenblick und starrte auf den Fleck hinunter. Dann trat er an den Tisch und nahm den Briefumschlag in die Hand. Er öffnete ihn, schüttete behutsam den Inhalt auf seine Handfläche – es waren ein paar vereinzelte Strähnen schwarzen menschlichen Haares –, betrachtete sie und sagte:

»Freely, es war kein Gewohnheitsverbrecher. Gewohnheitsverbrecher, die eine Waffe bei sich tragen, nehmen einen Revolver und kein Messer von der Art, wie es hier benutzt worden ist. Der typische Verbrecher, wie wir ihn kennen, hat ein Vorurteil gegen Blut, er kann's nicht sehen; außerdem weiß er über Fingerabdrücke genau Bescheid. Aber der Kerl, mit dem wir es hier zu tun haben, wußte zwar nichts von der Gefahr, in die ein Fingerabdruck ihn bringen konnte, dafür aber war er gewohnt, rotes Blut fließen zu sehen. Wahrscheinlich war es ein Soldat, ein entlassener Kriegsteilnehmer, wie ich aus der Länge des Haares entnehme, 'ne Spur eitel war er auch –« Snargrove berührte das Spiegelbruchstück mit dem Finger – »heutzutage tragen auch junge Männer so etwas mit sich herum. Vor zehn Jahren noch hätte ein solcher Fund bedeutet, daß eine Frau in das Verbrechen verwickelt ist.« Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Der Bursche hat den Spiegel herausgezogen, um zu sehen, ob sein Gesicht – na, ob's einen Spritzer abgekriegt hatte. Der Spiegel war aber bei dem vorangegangenen Kampf zerbrochen worden, und dieser Splitter hier ist herausgefallen. Dann ist unser Verbrecher erschreckt worden. Wahrscheinlich durch irgendein Geräusch, ein wirkliches Geräusch oder ein eingebildetes. Er flüchtete Hals über Kopf und hatte nicht mehr die Zeit, nach seinem Stock zu suchen, der unter dem umgeworfenen Wandschirm lag, an der Stelle, wo der Verbrecher vorher von dem Ermordeten gepackt worden war.«

Inspektor Snargrove nickte zufrieden. Seine Augen leuchteten.

»Jawohl, Freely, ich glaube nicht, daß die Jagd lang dauert. Als Verbrecher ist der Kerl ein richtiger Amateur, obwohl er Erfahrung darin hat, Menschen ums Leben zu bringen. Sehen Sie sich das bloß mal an –« er machte kehrt und deutete mit großer, dramatischer Geste auf die verschmierten Flecke an der Wand –, »nur einem Amateur kann es einfallen, seine Finger an der Tapete abzuwischen. In meiner ganzen Praxis habe ich so was noch nicht gesehen – nicht ein einziges Mal.«

McNab blickte auf – er hatte ein Bein über das andere geschlagen und die Hände über das Knie verschränkt – und nickte zustimmend.

»Ich auch nicht. Deshalb wundere ich mich so darüber.« Er pfiff nachdenklich vor sich hin. »Aber im großen und ganzen läßt sich aus diesen Wischspuren nicht viel entnehmen.«

Jetzt betrachteten wir alle die Flecken an der Wand.

»Jawohl«, gab Snargrove zu, »das stimmt schon. Die rauhe Leinenoberfläche der Tapete hat alle Fingerabdrücke unmöglich gemacht. Das meinen Sie doch?«

»Zum Teil«, erwiderte McNab. Er kniff die Augen zusammen. »Sie sagen, der Verbrecher war groß. Wenn das stimmt, muß er niedergekniet sein, um die Spuren an dieser Stelle hinterlassen zu können. Es ist natürlich möglich, daß er sich gebückt hat, aber es ist mir ziemlich rätselhaft, warum er sich die unnütze Mühe gemacht haben soll. Sie sagen, daß der Mann außerdem durch irgend etwas erschreckt worden war. Die Spuren rühren von der rechten Hand her, und der Mann, der sie hinterließ, bewegte sich in der Richtung der Tür, die ins Haus führt. Das geht daraus hervor, daß in der Nähe der Tür die Flecke schwächer werden. Aber wenn er durch irgend etwas erschreckt worden wäre, dann wäre er doch, seinem natürlichen Impuls folgend, in der Richtung des Ausgangs gelaufen, das heißt in unserem Falle, zur Balkontür am anderen Ende des Zimmers, durch die er auch hereingekommen war. Statt dessen ist es nicht zu widerlegen, daß er die Tür zu erreichen suchte, die ins Haus führte.«

»Vielleicht hat er das Geräusch, das ihn erschreckte, im Garten gehört?«

»Ganz gut möglich, wenn es da irgend etwas gab, was ihn erschrecken konnte. Übrigens ist doch der Weg durch den Garten auf Fußspuren untersucht worden?«

Snargrove lächelte.

»Nee, das nicht, bloß in Romanen kommt es vor, daß Verbrecher auf einem gepflasterten Weg Fußspuren hinterlassen.«

McNab ignorierte die kleine Bosheit.

»Also gut, nehmen wir an, daß der Mann erschreckt worden ist. Aber wie ist das nun? Hat er den Whisky getrunken, ehe er sich die Hände an der Tapete abgewischt hatte oder nachher?«

Snargrove lächelte noch nachsichtiger.

»Nachher natürlich, sonst wären am Glas ja Blutspuren zu finden. Wenn er die Hände an die Tapete gewischt hat, so genügte das gerade, um das Blut an den Stellen der Fingerspitzen zu beseitigen, die nachher mit dem Glas in Berührung kommen mußten.«

»Wenn er sich also die Zeit genommen hat, den Whisky zu trinken, muß er wohl entdeckt haben, daß sein Erschrecken grundlos gewesen war. Daraus geht aber hervor, daß er das Zimmer nicht in solcher Hast und Überstürzung verlassen hat?«

Snargrove angelte nachdenklich mit der Zunge nach der Schnurrbartspitze und kaute daran, dann runzelte er die Stirn, als ob der Geschmack ihm nicht zusage.

»Und trotzdem«, fuhr McNab fort, »nimmt er nichts mit – von dem Whisky abgesehen –, noch nicht einmal die Uhrkette und die Uhr seines Opfers, obwohl sie gerade vor seinen Augen im Licht glitzerte und er nur zuzugreifen brauchte.«

»Er war eben als Einbrecher ein Amateur, wie ich die Sache verstehe«, sagte Snargrove und fügte mit ironischer Betonung hinzu: »Wie die meisten Amateure machte er Schnitzer.«

Freely aber wandte sich an McNab und fragte ohne weiteres: »Was haben Sie für eine Theorie?«

»Theorie? Ich habe keine Theorie«, gab McNab zu. »Es ist mir glatt unmöglich, all diese – diese – diese Phänomene hinreichend zu erklären.« Er wandte sich an Snargrove. »Ich bin gern bereit, zuzugeben, Snargrove, daß einige Ihrer Folgerungen in gewissen Einzelheiten geradezu meisterhaft waren, aber im ganzen genommen hat meiner Ansicht nach Ihre Rekonstruktion des Verbrechens nichts völlig Überzeugendes. Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Spazierstock.«

Snargroves überraschte Miene verriet, daß er sich auf die Folgerungen aus dem Vorhandensein des Stockes gerade etwas Besonderes zugute getan hatte.

»Nun, was ist damit?«

»Sie nehmen an, daß der Mörder lahm war, weil er einen Stock benutzte. Formulieren Sie das in einen Lehrsatz, und es kommt heraus: Alle lahmen Männer benutzen Spazierstöcke. Würden Sie so sagen?«

Der Inspektor besann sich einen Augenblick und nickte dann zustimmend.

»So ungefähr, ja.«

»Sehr gut. Hier haben wir einen Spazierstock. Aus diesem ziehen Sie den Schluß, daß man obigen Satz umdrehen und sagen kann: Alle Spazierstöcke werden von lahmen Männern benutzt. Daß das Unsinn ist, liegt auf der Hand. Denn viele Leute, die nicht lahm sind, benutzen trotzdem Spazierstöcke. Die einzige Behauptung, die Sie wirklich aufstellen können, dürfte höchstens lauten: Manche Spazierstöcke werden von lahmen Männern benutzt

»Gut, und ich behaupte eben, daß dieser Stock von einem Lahmen benutzt wurde.«

»Aber wieso? Doch nur, weil Sie den Wunsch haben, es zu glauben. Ich behaupte, daß Sie nicht in der Lage sind, einen logisch einwandfreien Grund für Ihren Glauben ins Feld zu führen.«

Snargrove errötete etwas und schob die Unterlippe vor.

»Logik? Was ist schon Logik?« meinte er verächtlich.

Er empfing eine Antwort, oder besser eine Abfuhr, auf die weder er noch ich gefaßt waren. Anscheinend hatte seine Bemerkung über die Pfuscherei von Amateurdetektiven McNab tiefer getroffen, als es uns zunächst schien.

»Logik«, sagte McNab eisig, »ist eine Wissenschaft, sie lehrt die Törichten den Respekt vor der Wahrheit, der ihnen nicht angeboren ist. Logik bringt dem Ignoranten bei, sich über alle Tatsachen Rechenschaft zu geben und nicht – wie Advokaten, Polizisten und Politiker es lieben – nur über die, die ihnen in den Kram passen.«

Snargrove wurde ganz bleich – bleicher sogar als Freely selbst. Aber soviel will ich zu seinen Gunsten sagen, wenn er vielleicht ein schlechterer Logiker war als McNab, so hatte er doch sein Temperament besser in der Gewalt. McNab nannte die Logik eine Wissenschaft, war aber gegen ihre Verletzung so empfindlich, als sei sie ein Glaubensbekenntnis. In der peinlichen Stille, die seiner Bemerkung folgte, nahm ich mir fest vor, niemals in seiner Gegenwart mich respektwidrig über die Logik zu äußern. Gleich darauf hatte ich Gelegenheit, mit Erstaunen festzustellen, wie sehr Inspektor Snargrove auch in diesem Augenblick unter der Herrschaft der Disziplin stand. Er fragte völlig ruhig:

»Was sind das für Tatsachen, auf die Sie anspielen?«

»Einige habe ich bereits erwähnt. Aber vor allem eines: Sie behaupten, daß der Mord nicht von dem Mann begangen worden ist, auf den Ponsonby Paget gewartet hat. Sie behaupten, dieser Mann sei überhaupt nicht gekommen. Schön. Dann ist aber gewiß ein Brief eingetroffen, in dem er sich entschuldigt und sein Fernbleiben erklärt. Nein? Das ist doch seltsam. Man sollte doch annehmen, daß schon mit der ersten Post ein Brief eingetroffen ist, in dem der Gast, der vergeblich erwartet wurde, um Entschuldigung bittet oder eine Erklärung seines Verhaltens gibt.«

Freely blickte auf.

»Gott, ich weiß nicht«, sagte er spitz, »schlechte Manieren sind eigentlich nicht so selten.«

McNab quittierte den Seitenhieb mit einem Lächeln. Er wandte sich zu Snargrove. »Mein Herr«, erklärte er, »ich bitte Sie inständigst um Entschuldigung dafür, daß ich Sie eben mit Advokaten und Politikern in einen Topf geworfen habe.«

»Schon gut«, wehrte der Inspektor brüsk ab. Er fühlte sich der Situation nicht ganz gewachsen. Dann wandte er sich zu Freely und fügte hinzu: »Ich denke, wir machen jetzt, daß wir vorankommen.«

McNab schien bemerkt zu haben, daß er Inspektor Snargrove tödlich beleidigt hatte. Er sprang eifrig von seinem Stuhl auf.

»Ehe Sie gehen, Inspektor, möchte ich Sie bitten, sich noch eine Erwägung durch den Kopf gehen zu lassen, die bis jetzt vollständig übersehen zu sein scheint. Brannte das Licht oder brannte es nicht, als die Handspuren dort an der Wand entstanden? Es ist beinahe undenkbar, daß der Mann von dem Blut an seinen Händen gewußt haben soll. Nehmen wir an, das Licht war aus. Hat dann derjenige, der die Spuren seiner blutbefleckten Hände an der Tapete hinterlassen hat, nicht vielleicht herumgetastet, um den Schalter zu finden? Er bewegte sich in der Richtung des Schalters. Er kroch – dessen bin ich sicher, daß er kroch – an der Wand hin und tastete fieberhaft umher. Er suchte etwas. Warum mag er gekrochen sein? Weil überall die umgestürzten Möbel umher lagen. Er hatte Angst, er könnte über etwas stolpern und es könnte ein verdächtiges Geräusch entstehen. Wahrscheinlicher ist noch, daß er Angst hatte, sich zu verletzen. Und beachten Sie – immer vorausgesetzt, daß er sich im Dunkeln befand –, daß damit noch mehr erklärt wird als nur die Blutflecke. Er konnte seine Hände nicht sehen und merkte deshalb nicht, was für Spuren sie auf der Tapete zurückließen, aber gleichzeitig würde das auch erklären, daß nichts geraubt wurde. Es konnte nichts geraubt werden, solange er den Schalter nicht gefunden hatte. Die Dunkelheit im Zimmer würde auch noch eine Erklärung dafür liefern, daß er seinen Stock zurückgelassen hat. Es muß ganz einfach im Zimmer stockdunkel gewesen sein, mein Lieber.«

Snargrove lachte.

»Gerade das war nicht der Fall. Sie vergessen den Spiegel! Es wäre ihm wohl kaum eingefallen, im Dunkeln den Spiegel herauszuziehen. Außerdem hat Mr. Chance das Zimmer hell erleuchtet vorgefunden.«

»Das mag sein. Aber die Beleuchtung wurde nicht von demjenigen eingeschaltet, der hier an der Wand entlang gekrochen ist, und der, wie die Spuren einwandfrei zeigen, niemals bis zu dem Schalter gekommen ist.«

»Ich bitte um Entschuldigung, aber Sie sind –«

Aber McNab streckte abwehrend die Hände aus. Er hatte bereits gesehen, daß Snargrove keiner Einsicht zugänglich war.

»Menschenskind«, rief er mit einem verdrossenen Seufzer, »machen Sie sich nicht erst die Mühe, mich um Entschuldigung zu bitten. Es würde uns weiterbringen, wenn Sie sich um meine Fragen kümmern würden.«

Damit drehte er Snargrove den Rücken.

Der Inspektor machte noch einmal kehrt.

»Gehen Sie Ihren Weg, ich gehe meinen«, sagte er herausfordernden Tones. »Wir wollen sehen, wer von uns den Kerl am Kragen packt.«

Als wir kurz darauf auch das Haus verließen, war Freely damit beschäftigt, die Glasscheiben der Balkontür auf Fingerabdrücke zu untersuchen. Snargrove machte sich auf dem Teil der Auffahrt zu schaffen, der mit einem Strick abgesperrt worden war. Daß er da irgend etwas finden könnte, schien mir einfach unglaubhaft. Schon seit mehreren Tagen hatten wir feuchtes, nebliges Wetter mit dünnem Regen gehabt. Der Weg war durchweicht wie ein Schwamm, und die Fußspuren, die er aufwies, waren zahllos. Während McNab Snargroves Bemühungen zusah, machte ich, um mir die Zeit zu vertreiben, den Versuch, unter diesen vielen Fußspuren die herauszufinden, die ich selbst in der Nacht zurückgelassen haben mußte, und hatte bald eingesehen, wie unmöglich das war. So blickte ich zu McNab hinüber. Ich wollte sehen, ob sich auf seinem Gesicht etwa auch die Überzeugung spiegle, daß Inspektor Snargroves Bemühungen vollkommen sinnlos sein müßten. Aber McNabs Blick war nicht auf den breiten Rücken des Inspektors gerichtet. Im Gegenteil. Er schien sich ziemlich in derselben Art zu betätigen wie der Inspektor. Ich wartete so geduldig, wie es mir möglich war. Nach einer Weile schien er zu bemerken, daß von meiner Gegenwart ein störender Einfluß ausging. Er richtete sich auf und erklärte:

»Du brauchst nicht zu warten, ich komme noch nicht mit nach der Stadt. Ich muß Herrn James Brown, den Butler, noch etwas fragen.«


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