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Sechzehntes Kapitel

Als ich am nächsten Tag zu McNab hinüberkam, fand ich ihn sehr eifrig mit dem Telephon beschäftigt. Mit dem Hörer am Ohr drehte er sich um und deutete auf einen Stuhl. Im wesentlichen schien er bei dem Telephongespräch auf das zu hören, was der andere zu sagen hatte. Nur gelegentlich hörte man ihn dazwischenwerfen:

»Jawohl, Sergeant. – Ja, genau das meine ich – irgendwas Besonderes an dem Mann? – Was? – Nein, irgend etwas, das ihn schon äußerlich von den gewöhnlichen blinden Bettlern unterscheidet, etwas Außergewöhnliches, das unter Umständen einem aufmerksamen Polizisten ins Auge fallen könnte.«

Eine lange Pause folgte.

»Oh – Er hat das bemerkt? Howley heißt der Polizist? Scharfsinniger Bursche, jawohl. Schön. Ist er jetzt im Dienst? – Wird um eins abgelöst zur Mittagspause? Klingeln Sie mich an, wenn er sich meldet.«

Er legte den Hörer auf und wandte sich zu mir.

»Das bedeutet, daß wir noch eine ganze Stunde warten müssen. Noch mehr Zeit, die verlorengeht. Und dabei hat es bereits länger gedauert, als ich dachte«, bemerkte er, mir eine Zigarette anbietend.

»Was hat gedauert?«

»Alle Polizeireviere abzulaufen.«

Ich war verblüfft.

»Hast du dir's in den Kopf gesetzt, alle Blinden in London persönlich in Augenschein zu nehmen?«

»Nein. Nur die, die einen Hang zum Lesen haben, und auch unter denen nur die, die innerhalb des letzten Monats aufgetaucht sind.« Er tat einen tiefen Zug an der Zigarette. »Drei habe ich bereits gesehen. Keiner ist der Mann, nach dem wir suchen. Aber es bleiben noch verschiedene übrig, die sehr leicht in Betracht kommen könnten.«

Das erinnerte mich an einen Wunsch von gestern und gab mir gleichzeitig einen Anknüpfungspunkt.

»McNab, woher hast du all das über Kinloch in Erfahrung gebracht? Erinnere dich, ich habe bis jetzt nicht das geringste davon gehört.«

Er sah mich schweigend und vorwurfsvoll an.

»Weißt du, wie Matheson dich zu nennen pflegt, Chance?«

»Nein.«

»Matheson nennt dich meinen Handlanger.«

»Das sieht seiner verdammten Frechheit ähnlich.«

»Das mag sein, mein Sohn, als Handlanger bist du jedenfalls verdammt unbrauchbar.

Das traf mich wie ein Hammerschlag. Ich war sprachlos. Während ich vor Entrüstung kochend dasaß, holte McNab seine Brieftasche heraus und entnahm ihr einen Zeitungsausschnitt.

»Habe ich dir nicht die Aufgabe anvertraut, mir alle Vermißtenanzeigen seit dem 15. Januar zu bringen?« fragte er. »Wie kommt's, daß du das hier übersehen hast?« In diesem Augenblick klingelte das Telephon. Er legte den Ausschnitt auf mein Knie und sprang hin, um sich zu melden.

Als ich den Ausschnitt gelesen hatte, war ich zunächst völlig überzeugt, daß ich pflichtgemäß ihm auch diese Anzeige zugeleitet habe. Das Inserat trug als Überschrift den Namen Alexander David Kinloch. Das erklärte mir, wieso der Name mir irgendwie bekannt vorgekommen war, als McNab ihn am Tag zuvor benutzt hatte, um den Doktor außer Fassung zu bringen. Aber als ich den Ausschnitt noch einmal las, kehrte meine Niedergeschlagenheit zurück, denn es stand darin: »Wurde zuletzt gesehen in Ealing, am Montag den 15. Januar nachts.« Das waren Worte, die ich, einmal gelesen, niemals vergessen hatte, und die mir doch unbekannt waren. Indessen hatte ich immer noch die feste Überzeugung, daß ich McNab einen Ausschnitt gegeben hatte, der ebenfalls Kinlochs Name als Überschrift trug. Dann begriff ich allmählich, wieso mir das Inserat entgangen war. Ich hatte nicht weitergelesen, als bis zum Namen, hatte mich erinnert, daß ich ein solches Inserat schon an McNab weitergegeben hatte, und deshalb angenommen, daß der Text der Anzeige unverändert geblieben sei.

Ich strömte von Entschuldigungen über, aber McNab quittierte nur mit einem erbosten Knurren.

»Glücklicherweise habe ich mich nicht ganz auf dich verlassen und habe einmal selbst in die Blätter gesehen. Aber vielleicht kannst du jetzt begreifen, was ich gestern aus Dunn herausgebracht habe. Nachdem ich das Inserat zu Gesicht bekam, das du übersehen hast, ließ ich natürlich das Büro der Rechtsanwaltsfirma überwachen. Und wir waren bald in der Lage, die Identität des Herrn festzustellen, der dort viel öfter vorsprach als irgendein anderer, und der seinem Äußeren nach einem intellektuellen Beruf angehören mußte. Wir entdeckten, daß er Arzt war, und ausgerechnet in Ealing. Das konnte ein zufälliges Zusammentreffen sein, genau wie es ein zufälliges Zusammentreffen sein konnte, daß dieser Kinloch, nach dem man suchte, gerade in der Nacht des Mordes zuletzt in Ealing gesehen worden war. Wie gesagt, es konnte ein zufälliges Zusammentreffen von Umständen sein, denn von einem Mann, der den Vorsatz gefaßt hatte, an irgendeinem bestimmten Datum zu verschwinden, war nicht anzunehmen, daß er sein Vorhaben nur deshalb aufgeben würde, weil gerade an dem von ihm gewählten Tag sich ein Mord ereignet hatte. Und natürlich stand mir kein Mittel zur Verfügung, die Firma Selwyn & Smith zu zwingen, mir mitzuteilen, was sie mit Kinloch oder Dr. Dunn zu tun hatte. Deshalb galt es zunächst festzustellen, ob Dunns wiederholte Besuche bei der Anwaltsfirma irgendwie mit Kinloch in Verbindung standen. Dann galt es festzustellen, ob besagter Kinloch mit dem Mord in irgendeiner Beziehung stand. Und es fügte sich, daß die zweite Frage zuerst gelöst wurde. Wenigstens in meinem Kopf.«

McNab zog aus seiner Brieftasche die beiden Inserate mit dem Namen Kinloch, sowohl das, das ich gesehen hatte, wie das von mir übersehene. Er gab sie mir und sagte:

»Sieh sie dir an und passe auf den Unterschied auf. Die beiden Inserate hintereinander gelesen, ergeben etwas recht Bezeichnendes.«

›Alexander David Kinloch wird etwas für ihn Vorteilhaftes erfahren, wenn er sich in Verbindung setzt …‹

›Alexander David Kinloch. Wurde zuletzt gesehen in Ealing am Montag, den 15, Januar, nachts. Personen, die in der Lage sind, Nachricht zu geben …‹

Der Unterschied der beiden Inserate sprang in die Augen. War doch der Text des zweiten weitaus ausführlicher. Aber als ich dies McNab sagte, schien er ungeduldig zu werden.

»Der wirklich bedeutsame Unterschied zwischen beiden ist, daß das erste Inserat sich direkt an Kinloch wendet und das zweite nicht«, sagte er. »Im zweiten Inserat wird außerdem eine Belohnung ausgesetzt.«

»Nun, sie würden ihm wohl kaum eine Belohnung dafür anbieten, daß er sich meldet, um etwas für ihn Günstiges zu hören«, warf ich ein.

McNab warf einen beschwörenden Blick zur Decke empor.

»In der ersten Anzeige wenden sich die Inserenten an Kinloch selbst. Sie hoffen, daß er die Notiz sehen und lesen wird. In der zweiten Anzeige erwarten sie das nicht mehr. Geht daraus nicht klar hervor, daß ihnen nach der Veröffentlichung der ersten Anzeige etwas über Kinloch bekanntgeworden ist? Die Stelle: ›wurde zuletzt in Ealing gesehen‹ beweist es ja. Aber was ist ihnen bekanntgeworden? Haben sie nun erfahren, daß Kinloch niemals Unterricht im Lesen gehabt hat, oder haben sie erfahren, daß er aus irgendeinem anderen Grund nicht lesen kann?«

»Natürlich! Weil er blind war!« rief ich.

»Ah, und die Möglichkeit, daß dieser Kinloch blind war, schien ihn mit dem Mord in etwas engere Verbindung zu bringen. War das der Fall, dann konnte ich mit einiger Wahrscheinlichkeit hoffen, endlich den Namen des Blinden entdeckt zu haben, nach dem wir suchten. Dann machte ich mich daran, den ersten Punkt zu erledigen, nämlich festzustellen, ob Dunns Besuche bei Selwyn & Smith mit Kinloch in irgendeiner Verbindung standen. Das war weniger leicht. Ich hatte nicht das geringste, wo ich einhaken konnte. So riskierte ich einen Schuß aufs Geratewohl. Ich nahm an, daß auch bei Kinloch zutrifft, was bei neun Zehntel aller heutzutage in England vorhandenen Blinden der Fall ist, nämlich, daß er sich seine Blindheit im Krieg, an der Front, zugezogen hat. Nachdem ich seinen vollen Namen besaß, ging ich ins Archiv des Kriegsministeriums. Binnen einer halben Stunde erfuhr ich, daß Kinloch dem 7. Bataillon eines schottischen Regiments angehört hatte, unter dessen Fahne er dreimal verwundet worden war. Ebenso machte ich einen Auszug aus den Militärpersonalien Dr. Dunns, aus denen hervorging, daß er seiner Dienstpflicht als Arzt im Hauptspital in Boulogne genügt hatte. Das Hospital war eine Stelle, wo die beiden Männer miteinander in Berührung gekommen sein konnten – der dreimal verwundete Soldat und der Arzt des Lazaretts. So gering auch die Wahrscheinlichkeit war, ich benutzte diese Theorie, um mich weiterzuarbeiten, und zu guter Letzt gelang es mir, die Gruppenaufnahme in die Hand zu bekommen, auf der Kinloch mit abgebildet ist, und die in Hamilton gemacht wurde, ehe das Bataillon an die Front ging. Und gestern hast du ja selbst gesehen, was mit Dunn vorging, als sein Blick plötzlich auf Kinlochs Gesicht fiel.«

Ein scharfes Klingeln unterbrach McNab. Sofort hatte er den Hörer am Ohr.

»Ja, ich bin am Apparat, Sergeant – gut, jawohl, es ist besser, wenn ich selbst mit Howley spreche – Enderby-Garten, sagen Sie? Wo ist das? In Kensington? In der Nähe von Campden Hill Road? Jawohl – am Gitter des Gartens – an der Nordseite unter einem überhängenden Baum – stimmt's? Gut! Nun sagen Sie, wann ist er zuerst bemerkt worden? – Erst vor höchstens drei Wochen – sind Sie dessen sicher? – Schön! Nun, und wieso unterscheidet er sich von dem gewöhnlichen Typus? – Ah! – Er sitzt dort nur von elf bis eins und von drei bis fünf – ja, das ist merkwürdig, wie? – Nein, ich danke Ihnen, Sergeant. Nein, keine Fragen stellen, ehe ich nicht selbst an Ort und Stelle bin, bitte.«

McNab legte den Hörer auf, drehte sich um und rieb die Hände.

»Ich habe den Eindruck«, sagte er leise, »daß wir beide, du und ich, diesen Kinloch von Angesicht zu Angesicht sehen werden, ehe dreißig Minuten vergangen sind.«

Auf dem Weg nach dem Enderby-Garten erklärte mir McNab die Rolle, die er mir zugedacht hatte, nämlich die zu spielen mir am leichtesten fallen mußte. Ich sollte den Mann, der im Verdacht stand, Kinloch zu sein, sozusagen interviewen, sollte ihn dazu veranlassen, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen, unter dem Vorwand, daß ich sie in meiner Zeitung veröffentlichen möchte – das war etwas, was ich natürlich täuschend echt inszenieren konnte. Als wir uns über die Einzelheiten geeinigt hatten, bog unser Taxameter in die Campden Hill Road ein. An der Ecke stiegen wir aus, schickten den Wagen weg und gingen zu Fuß bis zu den Enderby-Gärten. Gleich im ersten Augenblick sahen wir den Gesuchten. Er saß auf einem dreibeinigen Feldstuhl, mit dem Rücken gegen das Gartengitter. Auf seinen Knien lag ein Buch, in dem bei Blindenbüchern üblichen gewaltigen Format. Man konnte ihn schon von weitem sehen, denn die Seite des Platzes, wo der Garten lag, war weniger begangen, während der größte Teil der Fußgänger auf dem gegenüberliegenden Gehsteig dahinströmte. Da es sich um einen Blinden handelte, konnten wir ihn in aller Bequemlichkeit mustern, ohne besonders vorsichtig sein zu müssen. Wir gingen langsam an ihm vorbei und betrachteten ihn, so gut es bei seiner gebeugten Kopfhaltung möglich war. Als wir das andere Ende des Platzes erreicht hatten, machte McNab halt.

»Dieser Blinde«, sagte er, »ist wenigstens nicht so unmöglich als die andern, die ich sah, und die ganz gewiß nicht in Betracht kamen.«

»Er sieht älter und verbrauchter aus als auf der Photographie.«

»Das ist nicht verwunderlich. Es ist acht Jahre her, daß die Aufnahme gemacht wurde, und es waren Jahre, in denen es ihm reichlich schlecht gegangen ist. Außerdem muß man in Betracht ziehen, wie schäbig er jetzt gekleidet ist. Geh hin und sprich mit ihm. Ich werde von hier aus zusehen, denn die Blinden verfügen über ein anormal scharfes Gehör. Wir dürfen keinen Verdacht erwecken.«

So schlenderte ich allein zurück, bis ich bei ihm haltmachte.

»Mahlzeit. Wie steht's heute?« sagte ich liebenswürdig.

Sein Kopf fuhr herum. Das Gesicht war dem Kinlochs nicht gerade unähnlich – gewiß aber schärfer und magerer. Die Augen konnte ich nicht sehen, da er sie nicht hob. Jedenfalls hielt er sie geschlossen.

»Nicht besonders«, entgegnete er, dabei begann er seine Finger zu reiben, als seien sie steif.

»Betreiben Sie das Geschäft schon lang?«

»Ziemlich, ziemlich. Fünf Jahr, seit ich mir's drüben in Frankreich geholt habe – die Blindheit.«

»Was waren Sie denn vor dem Krieg?«

Er hörte auf, sich die Hände zu reiben.

»Sagen Sie mal, Sie woll'n sich wohl 'nen Jux machen? Was woll'n Sie eigentlich?«

Es schien kaum mehr der Mühe wert, die Sache weiterzutreiben. Kinloch gehörte gewiß nicht derselben sozialen Schicht an, wie dieser arme Kerl. Es geschah mehr aus Mitleid, daß ich ihm erklärte, ich käme im Auftrag einer Zeitung, die sich für Kriegsverstümmelte interessiere.

»Wenn Sie meine Visitenkarte lesen könnten«, sagte ich beschwichtigend, »so könnten Sie sehen, daß ich dem Redaktionsstab des ›Record‹ angehöre und daß mein Name Chance ist.«

Er überraschte mich dadurch, daß er einen seltsam erschreckten Schrei ausstieß. Das Buch, das auf seinen Knien lag, fiel zu Boden. Ich bückte mich und hob es auf.

»Nichts geschehen«, meinte ich tröstend.

»Entschuldigen Sie schon, daß ich so gebrüllt hab'«, stammelte er ganz außer Atem. »Was die – was die Blindenschrift ist, da muß man sich verdammt in acht nehmen. Wenn das Zeug auch nur 'n bißchen feucht wird von die Finger, dann drückt man se platt, und dann is es vorbei mit 'm Lesen.«

Diese Erklärung wirkte ganz natürlich. Und doch ging mir die Sache durch den Kopf, denn ich hätte darauf schwören können, daß ich den Schrei gehört hatte, ehe das Buch auf den Boden fiel und nicht nachher. Natürlich bestand die Möglichkeit, daß er aufgeschrien hatte, weil er spürte, wie das Buch auf seinen Knien ins Gleiten kam. Warum sollte außerdem die Erwähnung meines Namens ihm einen solchen Schreck einjagen: er konnte ihn nie zuvor gehört haben.

»Was waren Sie vor dem Krieg?« wiederholte ich.

»Was ich vor dem Krieg war? Na, ein Maurer bin ich gewesen, und kein schlechter, Herr. So wahr ich Dick Hollins heiße.«

»Sie scheinen sich auch ganz gut mit der Blindenschrift abzufinden.«

»Na, was, das macht das Kraut nicht fett, ob ich gut les' oder schlecht, 's hört mir ja doch keiner zu. Und nu stell'n Sie sich mal vor, Herr, was Maurer heutzutag für Löhne kriegen – heutzutage, wo ich geliefert bin. Aber sehn Sie, das ist es ja. Ich hab' nie so recht Glück gehabt – nicht, was 'n feiner Mann wie Sie unter Glück versteht.«

Sein Tonfall war rührselig, beinah winselnd geworden. Ich konnte voraussehen, was kommen würde. Hastig legte ich ihm eine halbe Krone auf sein Buch, murmelte etwas von besseren Zeiten, die ich ihm wünschte, und zog ab, um McNab aufzusuchen. McNab tat mir leid. Wieder einmal waren seine Hoffnungen zum Scheitern verurteilt, und groß schien seine Enttäuschung, als er den Bericht über meine Unterredung mit dem Blinden anhörte. Er stand da und starrte nach Dick Hollins hinüber – Dick Hollins hatte wieder angefangen, laut zu lesen, und man hörte seine eintönige Stimme bis zu uns hin –, starrte zu ihm hinüber mit einem Ausdruck im Gesicht, in dem sich äußerste Niedergeschlagenheit und Verzweiflung mischten.

 

Um ihn etwas aufzuheitern und abzulenken, nahm ich ihn abends mit ins Kleine Theater. Das Pariser Grand Guignol gab gerade ein Gastspiel. Alle meine Bemühungen erwiesen sich aber als umsonst. Als wir in seine Wohnung zurückkamen, war sein Gemüt noch immer umwölkt. Schweigend saß er in seinem Stuhl und starrte nach einem großen Holzschnitt hinauf, der über dem Kamin hing und einen gewissen John Knox darstellte. McNab hatte seine sämtlichen Wände mit alten Stichen behängt, die alte Strafprozesse und Verbrecher vergangener Zeiten zum Gegenstand hatten. Diesem Holzschnitt aber war der Ehrenplatz eingeräumt. Es war darauf ein langbärtiger Mann mit Entsetzen einflößenden Augen dargestellt, der eine schottische Mütze auf dem Kopf trug. Endlich brach McNab das Schweigen.

»Chance, etwas an diesem Mann scheint mir nicht ganz zu stimmen.«

»An John Knox?« sagte ich, denn er starrte, in seinem Sessel liegend, immer noch zu dem alten Mörder hinauf.

»Nein, Dick Hollins meine ich. Ich bin durchaus nicht so überzeugt, daß das überhaupt sein Name ist, und noch weniger, daß er je Maurer war. Warum sitzt er dort nur von elf bis eins und von drei bis fünf? Das ist eine Eigentümlichkeit, die sogar dem Polizisten aufgefallen ist, der dort Straßendienst tut. Und bis jetzt ist diese Eigentümlichkeit noch durchaus nicht geklärt. Es kann natürlich sein, daß er noch eine andere Stelle aufsucht, aber das ist eigentlich nicht die Gewohnheit bei Bettlern. Ein Maurer will er sein? Hast du seine Hände betrachtet? Oh, jawohl, ich weiß schon! Es ist inzwischen Jahre her, daß er zum letztenmal einen Ziegel in der Hand gehabt hat. Kein Zweifel. Aber was mich beschäftigt, ist nicht, daß seine Hände so weiß sind, sondern daß er so schlanke Finger hat. Ein Taschendieb kann er vielleicht gewesen sein, ein Maurer – nein.«

»Auf alle Fälle scheint er nicht der Mann zu sein, nach dem wir suchen.«

»Nein, das scheint er nicht zu sein«, stimmte McNab zu. »Aber überleg einmal: wenn er wirklich Kinloch wäre, so würde er erst recht gar keinen Wert darauf legen, für Kinloch gehalten zu werden. Auf alle Fälle«, McNab nickte, »werden wir morgen versuchen, über ihn ins klare zu kommen.«

Und am nächsten Morgen tat McNab gewiß alles, dessen er fähig war. Als ich gegen zehn Uhr bei ihm erschien, teilte mir seine Haushälterin mit, daß er ausgegangen sei und daß ich auf seine Rückkehr warten müsse.

»Er ist nach dem Yard hinüber«, erklärte Janet.

»Nach Scotland Yard?« sagte ich überrascht, und fragte mich, ob etwa plötzlich eine neue Wendung eingetreten sei.

»Jawohl, Scotland Yard«, stimmte Janet zu und ließ mich allein.

Aber ich hatte nicht lang zu warten, bis ich McNabs Schlüssel im Schloß der äußeren Wohnungstür hörte. Und der erste Blick verriet mir, daß er zufrieden war. Eigentlich steckte er nur den Kopf ins Zimmer, aber ich konnte wahrnehmen, daß er heute einmal ausnahmsweise an den Leuten in Scotland Yard nichts auszusetzen hatte.

»Ah«, begrüßte er mich, »du bist da. Gut, ein Taxameter wartet unten. Mach, daß du mit kommst, ich kann alles unterwegs erklären.«

Und ehe wir die Ecke erreichten, wo der Enderby-Garten an Campden Hill Road grenzt, weihte er mich in meine Rolle ein.

»Wir müssen uns mit ihm einen kleinen Trick erlauben. Aber wenn es sich herausstellt, daß er doch Kinloch ist, so darf er trotzdem keinen Verdacht schöpfen, oder das Spiel ist aus.«

»Und wenn es sich nun herausstellt, daß er Dick Hollins ist?«

»Dann wäre es ziemlich gleichgültig, was er über uns denkt. Wenn du die Überzeugung hast, daß der Bursche Dick Hollins ist, so ist das nur um so besser, denn du mußt dich so mit ihm unterhalten, als hättest du nie daran gezweifelt. Sprich mit ihm genau wie gestern, als Journalist. Der einzige Unterschied ist, daß ich diesmal in unmittelbarer Nähe sein werde, um mir ihn anzusehen. Und das ist, glaube ich, alles, was zu sagen wäre.«

Wir verließen das Auto an der Ecke und passierten die kurze Durchfahrt nach dem Platz. Vom Trottoir auf der Südseite aus, wo der Verkehr am stärksten war, konnten wir schon von weitem Dick Hollins, sein Buch auf den Knien, auf seinem dreibeinigen Feldstuhl hocken sehen. Er war schon aus ziemlich weiter Entfernung gut zu beobachten, denn auf seiner Seite des Fahrwegs befanden sich nur einige Passanten, meistens Kindermädchen mit ihren Schutzbefohlenen, die in der Richtung des Eingangs zum Garten schlenderten, während unser Mann dem Eingang den Rücken kehrte.

Wir gingen auf und ab, und vielleicht zwanzig Minuten lang studierte McNab den Blinden aus jedem denkbaren Gesichtswinkel. Wenn er irgend etwas Ungewöhnliches und Auffälliges an ihm entdeckte, so hatte er etwas vor mir voraus. Schließlich machten wir Hollins gegenüber auf der anderen Straßenseite halt. Über den Fahrweg hinweg konnte man seine Stimme ziemlich gut hören. McNab lauschte angestrengt hinüber, ja, er schloß dabei die Augen wie jemand, der versucht, eine aus der Ferne herüberwehende Melodie zu erkennen. Ob er in der Stimme des angeblichen Maurers eine Spur von Verstellung entdeckte oder die allzu flüssige Aussprache eines Wortes bemerkte, das für einen echten Maurer viel zu vornehm gewesen wäre, vermochte ich nicht zu sagen. Meinen Ohren jedenfalls klang alles unbedingt echt.

Hollins las stolpernd und unbeholfen aus dem Buch der Psalmen vor. Bisweilen traten peinliche Pausen ein, während seine Finger eifrig über die erhabenen Lettern glitten.

Mir schien alles, was ich hörte, unverfälscht und ungekünstelt – der typische Dialekt der unteren Volksschichten in London. Und doch beobachtete ich auf McNabs lauschendem Gesicht die Andeutung eines Lächelns. Da ich nun nicht annehmen konnte, er freue sich darüber, feststellen zu können, daß Hollins so echt sei, wie er wirke, nahm ich mit Gewißheit an, daß McNabs Ohr etwas Verdächtiges erhascht hatte, für das mein Gehör taub geblieben war. Mein Blick wanderte wieder zu Hollins hinüber. Er gab ein groteskes Bild ab, wie er da zusammengekauert auf seinem Stuhl hockte, während sein Kinn beim Lesen sich in so bizarrer Weise in die Luft streckte, daß ich darauf hätte schwören mögen, er betrachte uns ganz unverfroren mit halbgeschlossenen Augen, hätte ich nicht mit solcher Bestimmtheit gewußt, daß er blind war.

McNab faßte mich gelassen am Arm.

»Los, jetzt kommt die ›Nahaufnahme‹. Sprich mit ihm genau wie gestern. Aber merke dir folgendes: wenn ich hinter ihn trete, so mußt du dafür sorgen, daß sein Kopf entblößt ist. Wenn dir gar kein Vorwand einfällt, dann schlag ihm den Hut wie aus Versehen vom Kopf. Du bist ja auch sonst ungeschickt genug. Dann behalt den Hut in der Hand, bis ich mit meinen Manipulationen fertig bin. Du kannst ja behaupten, du wolltest den Staub vom Hut abwischen. Wenn ich zu Ende bin, bring ihn dazu, daß er dir laut vorliest. Aber vor allem darf er von meiner Anwesenheit in seiner Nähe keine Ahnung haben. Hast du das begriffen?«

McNab schob mich mit einem leichten Stoß auf den Fahrweg, und gehorsam schlenderte ich zu dem Blinden hinüber.

»Morgen, Mister Hollins! – Sie erinnern sich wohl nicht an mich?« fügte ich hinzu, als er bei meinem Gruß zu stutzen schien.

»Doch, ich erinnere mich, Sie sind der Herr von der Zeitung.«

»Sie haben ein gutes Gedächtnis für Stimmen?«

Mr. Hollins lachte glucksend.

»Sicher, wenn man nicht bloß die Stimme hört, sondern auch noch 'ne halbe Krone zu fassen kriegt, wie bei Ihnen gestern.«

McNab schlich sich hinter ihn wie eine Katze.

»Und Ihre Finger sind wohl für Sie genau so gut wie Augen, was? Ich möchte mal probieren, was meine Finger aus diesen Blindenbuchstaben herausfinden können. Darf ich?« Ich ließ ihm keine Zeit zur Antwort, sondern beugte mich vor, legte eine Hand auf sein Buch und fegte ihm mit einer leichten Bewegung der andern den Hut vom Kopf. Mit Worten der Entschuldigung für meine Ungeschicklichkeit bückte ich mich, um ihn aufzuheben. Und während ich so tat, als ob ich den Staub davon abklopfte, beobachtete ich McNab. Er hielt etwas dicht an den Kopf des Blinden. Dann entdeckte ich auch, was es war – eine winzige Strähne schwarzen Haares. Da begriff ich, warum er zu Scotland Yard hinübergegangen war. Was er in der Hand hielt, war eine Probe des Haares, das man in Ealing gefunden hatte. Die Arbeit des Vergleichens nahm höchstens eine Sekunde in Anspruch. Beinahe im selben Augenblick, in dem ich begriff, was McNab vorgehabt hatte, war die Haarsträhne wieder in ihre Glasröhre zurückgewandert und unsichtbar geworden. Ich setzte dem Blinden den Hut wieder auf. McNab nickte mir kurz zu.

»Vielleicht ist's besser, Sie zeigen mir an Ihren eigenen Fingern, wie man diese Blindenschrift liest. Macht's Ihnen was aus?«

»Mir? I wo! Das verlangen die Herrschaften oft«, erwiderte Hollins. Gleichzeitig griff er mit der Hand nach dem Hut, um ihn zurechtzusetzen. Das entlockte mir ein Lächeln, denn unweigerlich macht jeder Mann die gleiche Geste, wenn ihm der Hut von einem andern aufgesetzt wird, selbst wenn dieser andere die eigene Frau ist. Anscheinend hatte McNab mit dieser instinktiven Bewegung gerechnet, denn im Handumdrehn hatte er einen Bogen Papier – wo er ihn herzauberte, habe ich nie begriffen – auf das Buch gelegt, das Hollins auf den Knien hielt. Kaum aber waren die Finger des Blinden zu seinem Buch zurückgekehrt, als er auch schon das dazwischengeschobene Papier entdeckte. Seine Hände zuckten zurück, als ob er sich verbrannt hätte, und er schlug seine blicklosen Augen zu uns auf.

»Was ist das?« flüsterte er und fuhr vorsichtig mit der Hand hin, um es zu betasten. McNab aber hatte bereits seinen Papierbogen mit einer kurzen Handbewegung weggerissen.

»Das hat sich eben komisch angefühlt, richtig schwammig, möcht' ich sagen. Da ist doch kein Wasser nicht auf das Buch getropft?« erkundigte sich Hollins verwundert.

»Sie müssen etwas Feuchtes an den Fingern gehabt haben«, sagte ich, »auf dem Buch ist nichts zu sehen.«

»Ja, jetzt fühlt sich's auch wieder ganz ordentlich an«, räumte er ein.

Was Hollins mir nun vorlas, weiß ich nicht. Meine Augen folgten McNab, der leise davonschlich. Aber ich mußte warten, bis Hollins Vorlesung endete, denn er durfte keinen Verdacht schöpfen. Auf die eine oder die andere Art gelang es mir schließlich, mich von ihm loszumachen, und da ich wieder eine halbe Krone in seine Hand gleiten ließ, folgten mir seine Segenssprüche noch lange nach.

Hinter der nächsten Ecke erwartete mich McNab. Er schien sehr mit sich zufrieden.

»Dies, denke ich, dürfte das erstemal sein, daß man einem Menschen seine Fingerabdrücke abgenommen hat, ohne daß er es wußte.«

Aber so geschickt das Kunststück auch ausgeführt worden war, ich wußte doch, daß McNabs triumphierende Stimmung auf tiefere Ursachen zurückgehen mußte, als auf das Bewußtsein seiner Geschicklichkeit. Daß er Dick Hollins die Fingerabdrücke abgelistet hatte, ohne daß dieser es merkte, konnte nicht der Grund sein, daß McNabs Augen derart funkelten. An der Ecke von Bayswater Road rief McNab ein Auto an. Während wir einen Moment warten mußten, fand ich den Gebrauch meiner Stimme wieder.

»So ist der Blinde also nicht Dick Hollins?«

»Nein, der ist so wenig Hollins wie du Holofernes.«

»Aber wenn er –«

»Still!« unterbrach mich McNab. Das Auto hielt in diesem Augenblick vor uns am Randstein.


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