Egid v. Filek
Ein Narr des Herzens
Egid v. Filek

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Der große Kirschbaum im Garten trug schon reife Früchte. Zwischen seinen gewaltigen Ästen saß Georg und blickte hinaus in das weite Land, wie er oft als Kind getan hatte. Eine unwiderstehliche Lust, die Gelenkigkeit der kräftigen Glieder zu erproben, war in ihm wach geworden; nun ließ er sich langsam vom Winde hin- und herschaukeln und horchte auf das rasselnde Geräusch der Mähmaschine, die langsam um das Feld herumfuhr. Wie eine ungeheure Glasglocke wölbte sich der Himmel über der sonnigen Landschaft. Der Vater stand am Feldrain und sah der Arbeit zu.

Wie alles gedieh unter seinen starken Händen! Wie sie ihm alle willenlos folgen mußten! Georg fühlte sich wie ein untergeordnetes Wesen in seiner Nähe. Von Kindheit an hatte man ihn an unbedingten Gehorsam gewöhnt. Auch in der Schule hörte er in hundert Variationen dasselbe Lied: wie das höchste Glück des Menschen in der 57 Zugehörigkeit zur Familie liege; dort waren die starken Wurzeln der Kraft; von Ewigkeit her hatte die Gottheit diese Form des Zusammenlebens bestimmt. . . .

Und was hatte der Vater nicht in langen Arbeitsjahren geleistet! Die Berghofs galten als reiche Leute, das wußte Georg seit seiner Kinderzeit. Und ihm würde einst alles zufallen – ihm, dem einzigen Kind.

In die scheue Bewunderung, die er dem Vater entgegenbrachte, mischte sich ein warmes Gefühl. Nicht nur stark war er – auch gut, von Herzen gut!

Und da gab es noch Menschen, die ihn verleumdeten – wie der fortgejagte Knecht, der Michel Kern, den Georg vorhin betrunken aus dem Wirtshaus kommen gesehen.

An die Wand hatte er sich gelehnt, der Elende, und laute Verwünschungen ausgestoßen – gegen den Vater, gegen Porges, die unter einer Decke spielten und gemeinsam die Herrschaft betrogen – ja, so sagte er . . .

Ein würgender Ekel stieg in Georg auf. Nur nicht an dieses abscheuliche Bild denken! 58

Unten im Garten schimmerte ein großer gelber Glockenhut.

Er nahm eine Kirsche und warf sie auf das Mädchen hinab.

Daisy blickte auf. »Wenn du schon so artig sein willst, mir Kirschen zu schenken, so suche wenigstens reife aus.«

»Meinetwegen!« rief er lachend hinunter, ganz berauscht von dem freudigen Gefühl, ihr einen Wunsch erfüllen zu dürfen. Eifrig suchte er nach den schönsten und reifsten Früchten.

»Nur die vom Wipfel, hörst du?«

Wie schwere Hagelkörner prasselten die Kirschen zwischen den Blättern herunter und schlugen dumpf auf den Grasboden auf. Daisy breitete ihre große blaue Schürze aus und fing auf, soviel sie konnte. Mama würde freilich wieder wegen der Obstflecken nörgeln. Das war sie ja gewohnt!

»Du, jetzt ist's genug!« rief sie hinauf, als Georg wieder zwei volle Hände glänzend schwarzer Kirschen herabwarf.

Sie betrachtete ihn einen Augenblick mit Wohlgefallen, wie er da droben stand. Der Hut war zur Erde gefallen; im Sonnenlicht schimmerten seine braunen Wangen. Als er 59 fühlte, daß ihre Blicke an ihm hingen, schwang er sich behend nieder, von einem Ast zum andern, getrieben von dem knabenhaften Ehrgeiz, ihr seine Körperkraft und Gewandtheit zu zeigen.

Aber von unten nahmen sich die Bewegungen seiner schlanken Glieder ungeschickt und schwerfällig aus. Vorhin, als er ruhig und mit festen Füßen droben gestanden hatte, vom Glanz der Sonne umflossen, war er ihr beinahe schön erschienen; jetzt erinnerte er sie an ein kletterndes Äffchen.

Sie setzte sich am Fuß des Baumes nieder und schob eine Kirsche in den Mund.

Er war an dem untersten Aste angelangt und blieb darauf stehen, den Arm um den Stamm geschlungen. »Daisy!«

»Was gibt's?« fragte sie und schnellte ihm einen Kirschkern ins Gesicht.

»Komm einmal herauf auf den Ast. Weißt du noch, wie oft wir da nebeneinander gesessen sind?«

»Närrchen, damals waren wir Kinder. Heute schickt sich so etwas doch nicht mehr für uns.«

Ihr überlegener Ton ärgerte ihn. 60 Spöttisch rief er hinab: »Na ja, du kannst eben nicht mehr klettern mit deinem modischen Schuhzeug.«

Sie legte ruhig die Kirschen neben sich und war mit zwei Griffen auf dem Ast droben.

»Ah!« machte er erstaunt.

»Glaubst du, ich habe nicht auch turnen gelernt?« sagte sie wegwerfend. »Schwimmen, radfahren, eislaufen, rudern – das kann ich alles. Heuer im Sommer hab ich den Dachstein bestiegen!«

Er bekam mit einem Male wirklich Respekt vor ihr. »Der ist ja dreitausend Meter hoch! Und da warst du allein droben?«

»Doktor Sering war mit. Ein fescher junger Mann und ausgezeichneter Tourist.«

Georg fühlte eine plötzliche Wallung der Eifersucht. Fast feindselig sah er sie an und konnte doch den Blick nicht von ihr wenden. Wie sie da droben saß, die Arme ausgebreitet und mit den Händen in das grüne Meer der rauschenden Blätter tauchend, schien sie ihm ein spielendes, lächelndes Kind und doch im nächsten Augenblick wieder Weib, mit lockenden, feuchten, halbgeöffneten Lippen, die 61 einzige Verkörperung seiner Träume von jenem leichten, lieblichen Geschlecht, von dem Dichter sangen in tausend Liedern der Liebe.

Sie aber empfand mit dem unfehlbaren Instinkt des Weibes die ungeheure Macht, die sie ausübte – durch ein Wort, einen Blick, eine Wendung des geschmeidigen Körpers, ja durch ihre bloße Gegenwart.

»Ist es wirklich so schön am Traunsee?« fragte Georg.

»Freilich,« lächelte sie und bog den Oberkörper weit zurück, als ob sie wieder in dem kleinen Schiff säße und die grünblauen Wellen mit den Rudern schlüge – und ihr gegenüber saß Paul Sering im Ruderkostüm mit sonnengebräunten Armen und zeigte lachend seine weißen Zähne . . .

Georg verschlang sie mit den Augen. Er verfolgte jede Linie des festen, gesunden Körpers.

Es war ihr wohl unter diesen bewundernden Blicken. Sie fühlte, das war eine ganz andere Huldigung als die faden Komplimente der blasierten jungen Herren auf der Esplanade.

Vielleicht war sie auch für Paul Sering 62 nichts anderes als eine hübsche Puppe, mit der der Mann, dieses große, dumme Kind, eine Zeitlang spielt, um sie dann fortzuwerfen.

Warum kam er nicht zu ihr und riß sie mit starken Händen heraus aus ihrem armseligen Mädchenleben, heraus aus der kleinen Provinzstadt, die ihr schon so unerträglich geworden war? Was sollten ihr seine Briefe, seine vielen Bilderkarten mit den artigen Grüßen?

Ein Windstoß fuhr durch die Blätter des Baumes. Der Ast, auf dem sie saßen, schwankte auf und nieder.

»Er wird brechen,« meinte Daisy.

Georg rückte näher zu ihr, so daß sich der Ast noch tiefer zur Erde bog. »Wie ängstlich ihr Mädchen doch seid,« sagte er in einem Ton, der Überlegenheit ausdrücken sollte. »Als du noch klein warst, wolltest du abends nicht einmal allein in den Park gehen. Und es war doch so schön, wenn der Mond hinter dem dicken Turm hervorkroch wie eine Feuerkröte.«

»Ja, damals . . . Aber jetzt sitze ich oft eine Stunde lang allein in dem Förstergarten und schaue in den Sternenhimmel.«

Georg sann einen Augenblick nach, dann 63 sagte er: »Ich will einmal spät abends zu dir in den Garten kommen, wenn du ganz allein bist. Aber dein weißes Kleid mußt du anziehen, damit ich dich finden kann.«

Sie lachte leise und kichernd. »Du kannst ja nicht aus dem Haus, das Tor ist geschlossen. Und wenn dich jemand sieht!«

»Es sieht mich niemand. Aus meinem Fenster steige ich auf den Nußbaum und krieche droben auf der Mauer weiter.«

»Das ist gefährlich. Rechts ist die große, tiefe Zisterne, und links geht's zwanzig Meter hinab in den alten Schloßgraben.«

»Wenn ich zu dir kommen kann, fürchte ich mich nicht.«

Sie blickte betroffen auf. Der Weg, den ihr Georg beschrieb, war wirklich lebensgefährlich. Auf der schmalen, hohen Mauer mußte man dreißig bis vierzig Schritte machen. Der kleinste Fehltritt konnte den Tod bedeuten.

Würde er das wirklich wagen – und ihretwegen? Der Gedanke erregte ihre Phantasie. Keinem der vielen Courmacher, die sie umschwärmt hatten mit ihren artigen Phrasen, wäre jemals ein solches Wagstück eingefallen.

Er rückte noch näher an sie heran. Ein 64 Sonnenstrahl fiel durch die Blätter und fing sich in ihrem Haar. Es leuchtete wie ein Heiligenschein.

Plötzlich krachte der Ast.

»Wir fallen,« schrie sie und klammerte sich unwillkürlich an ihn an. Er umfaßte sie kräftig und sprang, während er sie umschlungen hielt, mit ihr auf den weichen Grasboden. Einen Augenblick schwebten sie in der Luft; es schien ihm eine Ewigkeit. Zum ersten Male in seinem Leben hielt er einen Mädchenkörper in seinen Armen und fühlte die warmen, welligen Formen des blühenden Leibes. Seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt; seine Knie zitterten so sehr, daß er kraftlos auf den Boden stürzte. Sie aber raffte sich sofort auf, nahm ihre Röcke zusammen und lief lachend davon.

Er erhob sich – mühsam, fast betäubt – warf einen Blick nach der Richtung, wo ihr helles Kleid zwischen den Büschen verschwand, und ging dem Hause zu.

Es war ihm, als trage er in seinem Körper irgend etwas Fremdes, Schweres mit sich herum, – ein seltsames Leben war in ihm erwacht und gab geheimnisvolle Zeichen, wie 65 das Ungeborene unter dem Herzen einer Mutter . . .

Drinnen im Klavierzimmer saß der Onkel und spielte. Auf dem Pult lag ein Auszug aus »Siegfried«. Als Georg eintrat, winkte er ihn zu sich und erklärte ihm ein paar Leitmotive.

Frau Anna saß in der großen Fensternische und arbeitete an einer Stickerei. Sie sah gelangweilt und ärgerlich aus. Diese Musik empfand sie als nervenzerstörenden Lärm. Sie warf die Stickerei hin und flüchtete in die Küche.

Georg drückte sich in die Sofaecke und hörte dem Onkel zu. Allmählich schwand seine Erregung; die leise, eindringliche Stimme dieses Mannes streichelte so beruhigend seine Nerven. 66



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