Egid v. Filek
Ein Narr des Herzens
Egid v. Filek

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Der Gutshof zeigte das bunte Bild eines Sonntagmorgens.

Die großen Flügel des Scheunentors waren geschlossen; Arm in Arm gingen die Mägde umher, auf das erste Glockenzeichen wartend, das zur Kirche rief. Sie wiegten sich langsam und schwerfällig in den Hüften, nach der Weise von Frauen, die schwere körperliche Arbeit tun. Wie große Glocken schaukelten die steifen Röcke auf und nieder, deren schillernde Falten manchmal von roten, hornharten Händen glattgestrichen wurden.

Die Justina trat aus der Kanzleitür. Sie hatte sich eben ihren Lohn geholt. Drei rote Nelken flammten an ihrer Brust.

Beim Brunnen saß die kleine Wetti und kraute dem Bernhardiner das Fell. Der hatte sich breit und behaglich in den Sonnenschein gelegt. Hin und wieder schnappte er nach Fliegen.

Die kleine Wetti war ein Findelkind. Ihre 71 Existenz verdankte sie einer schwülen Sommernacht, einem uralten Eichbaum mit breiten, brausenden Ästen, der wahnsinnigen Erregung eines wilden Kirchtagstanzes und dem heißen, heißen Blut ihrer längst verstorbenen Mutter, die Magd auf dem Gutshof gewesen war. Ach, es war schlimm, wenn man außer solch heißem Blut nichts auf der Welt sein eigen nannte als ein frisches, hübsches Gesicht und einen sechzehnjährigen Mädchenkörper.

Unter dem Dreiklang der Kirchenglocken schritt der Oberverwalter mit Frau Anna und Georg über den Hof. Er hatte seinen schwarzen Gehrock an, auch die Frau trug ihren besten Staat – er hielt sehr darauf, daß man ihn in der Kirche stets auf seinem Platze sah.

Frau Anna rief zu den Fenstern des ersten Stockes hinauf: »Kommst du nicht mit zum Gottesdienst, Heinrich?«

»Laß mich meinen Gottesdienst lieber draußen im Walde feiern, Anna!«

Sie wandte sich kopfschüttelnd ab.

Die Mägde folgten den dreien in großer Entfernung. Die kleine Wetti blieb noch einen Moment zurück und heftete den Blick 72 auf Georg, der heute in seinem schwarzen Anzug noch schlanker aussah als sonst. Dann seufzte sie ein wenig, nahm ihren Oberrock auf, damit er nicht staubig werde, und folgte den anderen.

Der junge Sohn der Herrschaft war der Märchenprinz, von dem das arme Dienstmädel träumte. Eine dunkle Sehnsucht von der Art, wie sie ihre Mutter in Schande und Tod getrieben, zog sie zu diesem scheuen Knaben, der nie an Sinnenglück gedacht hatte und von ihrem Dasein kaum Notiz nahm. In schwülen Nächten, wenn die dicke Stasi sich neben ihr im dumpfen Schlaf auf dem harten Strohsack dehnte, starrte sie durch die vergitterten Fenster der Mägdekammer nach dem Licht, das in seinem Zimmer brannte.

Heinrich Berghof las in der »Maikäferkomödie« weiter. Als draußen auf dem sonnenhellen Hof alles still war, nahm er Hut und Stock und verließ das Haus.

Durch das Buchenwäldchen hinter dem Schloß stieg er aufwärts. Das Rauschen in den Wipfeln verschlang den Schall der Kirchenglocken, der zur Messe rief. Jetzt stand er droben auf der Höhe des Berghanges, sah 73 das goldene Kreuz auf dem Kirchturm im Sonnenlicht flimmern, atmete den eigentümlichen Duft der Weizenfelder, der an frischgebackenes Brot erinnerte.

Nun lagen sie drinnen in dem dumpfen Raum vor dem Bauerngott, den sie sich im Geist geschaffen nach ihrem Ebenbilde, der ewig derselbe war seit ungezählten Jahrtausenden, mochte er auch sein Antlitz im Wechsel der Religionen gewandelt haben. Der große Gott des Wachsens und Werdens, er, der das Getreide segnete, den Regen herabgoß, seine schützenden Hände ausstreckte über die weidenden Kühe. Sie ehrten ihn mit Gesang und Gebet und Weihrauchwolken und bettelten auf den Knien um seine Gnade.

Aber er war auch der Gott der Zerstörung und des Todes. Und wenn der Wetterstrahl zündend hinabfuhr in die armen Hütten und ein großes Sterben über Menschen und Tiere kam oder Dürre die Feldfrüchte vernichtete, dann ballte vielleicht mancher die Faust im Sack im grimmen Zorn über die unverdiente Heimsuchung.

Heinrich schüttelte den Kopf.

Einst hatte auch er seinen Kindergott 74 gehabt, verwandt mit dem Wesen, das sich jene einfachen Menschen vorstellten. Heute genügte ihm das nicht mehr. Der Ewige, zu dem er beten wollte, mußte größer, stiller sein, mußte das Weltall durchwohnen, auf Wolkenflügeln sich durch den unendlichen Raum schwingen, hoch, hoch über den armen Nützlichkeitsgedanken der Sterblichen.

Diese Felder mit ihren Grenzen und Zäunen, diese geradlinigen Wege, diese viereckigen Häuser, sie alle sprachen von den kleinlichen Wünschen, von dem elenden Egoismus des Menschen. Wie mit einem Spinnennetz überzog er das Land, fing seine Beute, sog sie aus und glaubte die Erde überwunden zu haben, wenn er ihr etwas von ihrem Überfluß abgelistet hatte. Der Mensch legte Sinn und Zweck in das ewige Werden und Vergehen. Und doch: Was war der Zweck des Lebens anderes als das Leben selbst?

Vor der steigenden Glut der Sonne flüchtete Heinrich in den Gutshof zurück. Treff lag auf den kühlen Steinplatten des Vorsaals und schlief. Die Tauben am Dachfirst ruckten sich an und verbeugten sich mit komischen Wendungen gegen die Sonne. 75

Heinrich trat in das Wohnzimmer, legte den Hut hin und trocknete sich die schwitzende Stirn. Es schwebte ein leiser Lavendelduft in dem Raum; die altmodischen Möbel, der große Tisch, zum Zusammenlegen eingerichtet, die staubigen Makartbuketts in den sandgefüllten Blumenvasen, das braune Kruzifix mit den Palmzweigen im Winkel – alle diese Dinge sahen ihn gleichsam mit mißbilligenden Augen an, wie einen Eindringling. Was wollte er hier, der nervöse Stimmungsmensch aus der Großstadt? Er paßte durchaus nicht hinein in diese Umgebung.

Er trat in den langen, gewölbten Korridor, ging an der Küche vorbei, wo die Stasi, die heute daheimbleiben mußte, mit ihren Tellern ein ohrenbetäubendes Geklapper begann.

Am Ende des Ganges lag ein großer Saal. Einst hatte er als Empfangsraum gedient; noch hing ein zerbrochener Kronleuchter von der Decke herab, verblaßte Gemälde schlugen hier und da durch die Kalktünche. Die Nützlichkeitsbarbarei hatte hier die Schöpfungen eines Watteauschülers zerstört, den der Erbauer des Schlosses gerufen hatte, um den Empfangssaal zu schmücken. Was kümmerten 76 den praktischen Ökonomen die duftigen Fresken an den Wänden, die leichtverhüllten Glieder der jungen Frauen, die dort lächelnd auf der Wiese tanzten . . . Jetzt bewahrten sie in diesem Raum, auf dessen Parkett sich einst der Glanz festlicher Kerzen gespiegelt hatte, alte landwirtschaftliche Geräte auf. Eine Sämaschine, mit zerfetzten Tüchern bedeckt, lehnte trübselig an der Wand, zwei zerbrochene Eggen, längst für den Eisentrödler bestimmt, wiesen ihre rostigen Zähne.

Die angenehme Kühle lockte Heinrich in den Raum. Hinter den Eggen war eine kleine Glastür mit ganz blinden Fenstern. Er drückte sie auf. Als die rostige Klinke nach mehreren vergeblichen Versuchen nachgegeben hatte, schlug ihm ein dumpfer Modergeruch entgegen. Er befand sich in einer großen Kammer inmitten alten Gerümpels; zerbrochene Marmorvasen, Bilder, rostzerfressene Harnische, eine Standuhr aus Alabaster, im schönsten Empirestil, doch ohne Zifferblatt und Zeiger – alles mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Und dennoch edles Material und gediegene Arbeit; da war keine Protzenkunst, kein unechter Stoff.

Mit jener heimlichen Freude, die er stets 77 im Dunstkreis solcher Dinge empfand, ging Heinrich zwischen ihnen umher, zog einen vergoldeten, zerbrochenen Degen aus der Scheide, klopfte mit dem Finger an den dröhnenden Harnisch, versuchte eine der schweren Alabastervasen zu heben. Die hatten wohl einst im Blumengarten gestanden; dort sah man noch jetzt die steinernen Postamente. Aus einem braunen Rahmen blickte das Bild einer jungen Frau in der Tracht des achtzehnten Jahrhunderts. Ein Hund schmiegte sich an ihre Knie. Wer war der Künstler, der soviel Lieblichkeit gerettet hatte aus der Flut der Vernichtung?

Ein leiser Schauer erfaßte den stillen Beobachter Es war ihm, als sei noch irgendwo, in einem verborgenen Winkel, etwas da von diesem längstverstorbenen blühenden Weibe, als schwebte ihr süßer Schatten wie ein leiser Duft durch den Raum. Hatten nicht alle diese Dinge einst gelebt in den Händen schönheitsfroher Menschen und ihnen den grauen Alltag ertragen helfen?

Ein länglicher Gegenstand an der Rückwand, mit Fetzen umwickelt, fesselte seine Aufmerksamkeit. Er machte die Hüllen los. Seine 78 Hände wurden schwarz von Staub und Ruß. Endlich war das Ding herausgeschält.

Ein Ruf der Überraschung entfuhr ihm.

Da stand eine wunderschöne Marmorkopie des Idolino in Florenz. Er kannte das Original – es stammte aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert; in einem verlassenen Winkel des Museums war es untergebracht, gottlob noch nicht entdeckt vom Troß der Globetrotter, die unter Cooks Führung »ganz Italien in drei Wochen« bereisten.

Der eine Arm war abgebrochen, der linke Fuß stark beschädigt. Aber die ganze Arbeit erschien so gediegen, daß man die Mängel kaum beachtete.

Es war das Lebensideal des Griechentums, was hier verkörpert stand. Der junge Knabe, blühend in Kraft und Gesundheit, seiner Schönheit unbewußt, goß die Opferschale aus zu Ehren der Götter. Mitten im langsamen Schreiten einen Augenblick anhaltend, den Kopf leicht geneigt, stand er in seiner schönen Nacktheit da. Denn nicht besser und reiner konnte man die Himmlischen ehren, als wenn man ihnen die Blüte der Jugend darstellte in der Pracht eines schönen Menschenleibes. 79

Durch die halberblindeten, schmutzigen Fensterscheiben hatte ein Sonnenstrahl mühsam seinen Weg in die Kammer gefunden. Er fiel auf die weißen Schultern des Steinbildes. Der edle, durchscheinende Marmor sog das warme Licht auf und leuchtete wie ein Körper von lebendem Fleisch. Und das blasse Gesicht schien zu lächeln in den goldenen Strahlen.

Gedankenvoll betrachtete Heinrich die Statue. Wer hat das Urbild dieses Körpers einst in grauen Tagen in Erz gegossen? Wer diesen lieblichen weißen Knaben hierher über die Alpen gebracht, in die fremde, kalte, schönheitverlassene Welt des Nordens? Vielleicht der Erbauer des Schlosses selbst, von dem sie noch heute an den langen Winterabenden erzählten, daß er ein Freund und Gönner von Malern und anderm Künstlervolk gewesen, große Reisen gemacht habe und um der Frau eines andern willen im Duell mit einem französischen Kavalier gefallen sei . . . War das Gemälde dort vielleicht ihr Bildnis? Nun, es lohnte sich schon zu sterben um die Liebe eines solchen Weibes . . .

Damals verstand man in den exklusiven 80 Kreisen höherer Menschen, was Schönheit war. Man betete zu ihr, setzte sie auf den Thron wie eine Gottheit. Man ging in den Tod um ihretwillen. Heute trieben die armseligen Epigonen Geldgeschäfte und wucherten mit Fleisch und Brot.

Von der Kirche her klang die Wandlungsglocke. Die Stasi trat aus der Küchentür und schlug ein Kreuz. Ein schlurfender Schritt kam den Korridor herab; es war Porges.

»Ist der Herr Oberverwalter schon zu Hause?« fragte er mit seiner scharfen Stimme, die bis in die Kammer drang, wo Heinrich noch immer die Statue betrachtete.

Die Magd winkte ihm, zu schweigen, und murmelte ihr Gebet weiter.

Noch immer erfüllten die Glockentöne den gewölbten Raum mit ihrem leisen, lieblichen Summen. Heinrich strich mit den Fingern an den kühlen Marmorgliedern herab und freute sich über ihren matten Glanz.

So hielt er Gottesdienst. 81



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