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»Stambul« hieß sie, war eben erst von der damals noch kaiserlich-königlichen Tabakregie auf den Markt gebracht worden und kostete zwei und einen halben Kreuzer. Für das schmale Taschengeld des Dreizehnjährigen immerhin ein Betrag. Aber ich hatte eine Einnahmsquelle, von der der Vater allerdings nichts wissen durfte: als Aushilfskegelbub. Ein einträglicher, wenn auch keineswegs gefahrloser Nebenverdienst. Vergangenen Sonntag war eine Kugel aus der Bahn gegen mein Schienbein gesprungen; aber ich verbiß den höllischen Schmerz und schrie »juchuh!« als die nächste Kugel alle Neune wegputzte; das trug noch zwei Kreuzer extra. Da konnte man wohl ein paar gute Zigaretten kaufen; denn wenn schon, so was Pickfeines.
Die Trafikantin lächelte. Trafikantinnen lächeln immer. wenn ein kurzbehoster Bub in den Laden tritt und mit möglichst tiefer Stimme Zigaretten verlangt. »Vielleicht noch eine schöne Spitze dazu? Echtes Bruyerholz, kostet bloß zwanzig Kreuzer – für Sie!« Mein zerbeultes Schienbein tat noch immer weh; aber es war sehr angenehm, mit »Sie« angesprochen zu werden, auch die Zigarettenspitze war sehr schön und elegant gebogen wie ein kleines Pfeifchen; ich erlegte die zwanzig Kreuzer und beschloß, am nächsten Sonntag wieder Kegel aufzustellen und meine Schienbeine besser in acht zu nehmen; dann ging ich mit stolzen und männlichen Schritten 68 durch das Städtchen zu dem kleinen, ins Grün der Obstbäume gebetteten Hause, wo die Eltern wohnten.
Und nach dem Mittagessen, als Mutter sich schlafen gelegt hatte und Vater droben im Garten bei den Bienenstöcken beschäftigt war, begab ich mich auf den Dachboden, Entschlossenheit in der Seele und in der Rocktasche ein Paket Streichhölzer. Unter allerlei Kram lag da ein zerbrochener, halb erblindeter Spiegel; ich blickte hinein und sah ein blasses Gesicht. In der Tat: in mir tobte ein schwerer Kampf mit widerstrebenden Empfindungen. Ob ich mir für das Geld nicht doch lieber was anderes hätte kaufen sollen? Verzuckerte Orangenschalen zum Beispiel waren etwas sehr Gutes. Aber nein. Die Kameraden rauchten alle, folglich mußte ich auch rauchen; da war nichts zu wollen, das war Ehrensache, Axiom, des Beweises weder fähig, noch bedürftig. Und es mußte heute geschehen, denn der lange Kemetter hatte mich in der Zehnuhrpause, während meine Banknachbarn darüber stritten, welcher der beste Zigarettentabak sei, so sonderbar von der Seite angeblickt. Sicher würde er mich morgen blutig hänseln, wenn ich ihm nicht unter Ehrenwort versichern konnte, daß ich auch rauchte. Es war sehr unangenehm, vom Kemetter gehänselt zu werden; er genoß in der Klasse großes Ansehen, sein Vater war Werkführer in einer Fabrik und seine Überlegenheit beruhte darauf, daß er als Repetent schon vierzehn Jahre alt war, lange Hosen und einen leichten Flaum auf der Oberlippe trug; es ging das Gerücht, daß er abends das Wirtshaus besuche, und seine dunkel behaarten Arme, die sich in der Turnstunde enthüllten, machten einen verwegenen und gefährlichen Eindruck. Kurz und gut: ich mußte dran, trotz aller heimlichen Beklemmung. Es war einfach ethisches Bedürfnis, sich selbst zu beweisen, daß man kein Hasenfuß war und weder dem Kemetter, noch den andern Kameraden 69 an Männlichkeit etwas nachgab. Und mit jener seltsamen Mischung von Draufgängertum und Feigheit, Selbstgefühl und Schwäche, die den Lausbuben ausmacht, steckte ich die Zigarette in die Spitze, setzte das Streichholz in Brand, sog mit ganz überflüssigem Kraftaufwand den Rauch in die Lungen, blies ihn hastig wieder aus . . .
Genuß? Ach Gott nein. Dazu war die Aufregung viel zu groß. Die verzuckerten Orangenschalen hätten mir weit besser geschmeckt. Es war der Reiz des Unbekannten, der in mir aufsprang wie eine rote Stichflamme – des Unbekannten und Verbotenen. Wie hatte der Professor der Naturgeschichte erst gestern wieder gegen das Rauchen gewettert, als zöge hinter den blauen Duftwölklein ein grauenvolles Heer tödlicher Krankheitsgespenster daher! Und je mehr er schalt, desto lockender ward die Lust, das Gefährliche zu versuchen. Reiz des Verbotenen! Damals empfand ich ihn zum erstenmal als heimliches Glück. Was wären alle Freuden unseres Lebens ohne seine Würze? Der erste fröhliche Rausch, die erste Mensur, die erste Liebesfreude: sie sind umwittert vom Zauber der Mißbilligung, des Widerspruches der Neunmalklugen und Vorsichtigen, der Pedanten und Spießer.
Und ich sog und paffte drauf los, daß mir die Augen aus dem Kopfe quollen. Erwartete mit vor Aufregung zitternden Knien, mit lustgemengtem Schaudern die gräßlichen Folgen des Rauchens, von denen man uns erzählt hatte: Erbrechen, Ohnmacht, Schwindel, Herzklopfen – nichts. Ruhig glomm die feine Zigarette weiter, ruhig schwebten kleine gekräuselte Wölkchen beim Fenster hinaus, draußen summten die Bienen um die Obstbäume und die weißen Wanderwolken zogen am Himmel ihre glänzende Bahn. War das alles? Ein Gefühl der Enttäuschung überkroch mich, als hätte mich das Leben 70 um einen großen, dramatischen Augenblick betrogen, auf den ich mich so lange Zeit mit heimlicher Angst gefreut hatte.
Es kam allerdings dann doch ein dramatischer Moment; das war, als mir mein Vater, der natürlich alles gesehen hatte, später im Wohnzimmer ein paar Kopfstücke gab, nicht wegen des Rauchens an sich, sondern wegen feuergefährlicher Hantierung auf dem Dachboden; ich sah ein, daß er recht hatte, und ertrug die drei Kopfstücke musterhaft. Am nächsten Tage fand ich, daß es vielleicht doch besser wäre, mein Kapital künftighin in verzuckerten Orangenschalen anzulegen. Aber als der lange Kemetter sich mit ironischem Lächeln nach meiner Lieblingszigarette erkundigte, warf ich ihm über die Achsel nachlässig die Bemerkung hin: »Wie kann man etwas anderes rauchen als Stambul . . .« 71