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Ich war ein Bengel von siebzehn Jahren, linkisch und ungeschlacht, der immer einen Arm zu viel hatte, dessen Hände nichts anzufangen wußten, wenn sie nicht in die Hosentaschen gesteckt werden durften; aufgeschossen, eckig, blaß, mit hastigen, fahrigen Bewegungen, unfähig, seinen Körper zu beherrschen.
Im ganzen: alles eher als liebenswürdig.
Mein Inneres entsprach dem Äußeren: ich empfand dunkel, daß ich seelisch und geistig noch viel zu mager war, um irgendeinen Platz in der Welt ausfüllen zu können; aber gerade deshalb blähte mich oft ein grenzenloser Dünkel, ein gewaltiger Stolz auf die dürren Brocken eingebüffelter Schulweisheit, die ich zu anderen Zeiten wieder aufs tiefste verachtete; einmal wünschte ich mir einen furchtbaren Feind, einen Drachen mit fünfzig Köpfen, eine Aufgabe, die alle Tatkraft eines Mannes verlangte, um zeigen zu können, was alles in mir lag . . . und dann kam wieder eine verschwommene, weichliche Sehnsucht nach einem unbekannten Glück über mich, die schlaff und mutlos machte.
Mein Vater war Jurist mit Leib und Seele, pedantisch, trocken, gewissenhaft. Von ihm hatte ich wohl die Gewohnheit geerbt, über alles abzuurteilen, alles besser zu verstehen als die Andern. Ich belehrte meine zwei kleinen Schwestern, solange sie sichs gefallen ließen, über die Natur und ihre Geschöpfe, als säße ich auf einem Schulmeisterstuhl und die ganze Welt sei nur ein Bilderbuch für den Anschauungsunterricht. 72
Der Vater kümmerte sich wenig um unsere Erziehung. Beim Mittag- und Abendessen richtete er ein paar Fragen an mich, ließ sich die Schularbeiten zeigen, gab mir mitunter ein Kopfstück, wenn die Note schlecht war, dann zog er sich wieder in sein Arbeitszimmer zurück, wo er den größten Teil seiner freien Zeit zubrachte. Wehe uns Kindern, wenn wir es wagten, seine geheiligte Tätigkeit durch unsere persönlichen Angelegenheiten zu stören.
Die Mutter war ihm durch das lange eheliche Beisammenleben ähnlich geworden. Heute noch steht sie vor mir mit ihrer hohen, strengen Gestalt, den blassen, ein wenig vergrämten Zügen, über die selten ein Lächeln ging. Die Arme! Sie hat wohl auch manche Illusion begraben müssen an der Seite dieses trockenen, weltfremden Mannes, dessen Leben in seinem Amt aufging. Was wußte ich als Kind von solchen stillen Alltagstragödien! Ich erinnere mich nur an die ängstliche Sorgfalt, mit der sie auf unser körperliches Wohl bedacht war; an die bunte, aus hundert farbigen Fleckchen zusammengestückelte »Krankendecke«, die sie sorgsam über mich breitete, wenn ich mit Husten oder Halsentzündung im Bette lag; an die eingemachten Äpfel und Birnen, die das »Kranke« bekam, das von den Geschwistern wegen seiner Krankheit förmlich beneidet wurde. Und wir drei blassen Stubenkinder waren alle von zarter Gesundheit; fast jeder Spätherbst warf uns aufs Krankenlager. Zu solchen Zeiten geschah es, daß die strenge Miene, die das Gesicht Mamas förmlich überkrustete, im warmen Strahle eines gütigen Lächelns schmolz, daß die strengen Augen feucht wurden und der schmale, geschlossene Mund sich öffnete, ein uraltes Wiegenlied zu singen – leise, ganz leise nur, damit es der Vater ja nicht in sein Arbeitszimmer höre.
Das war meine Kindheit. 73
Ich kann nicht sagen, daß ich mich unglücklich gefühlt hätte; die strenge Ordnung des Hauses wirkte wohltätig auf mich, denn wenn man mich auch scharf zur Erfüllung meiner Schulpflichten anhielt, so brachte doch auch wieder das Christkind hübsche Geschenke und ich konnte sicher sein, daß man mir jeden halbwegs vernünftigen Wunsch erfüllte. So war ich denn auch ein williges und folgsames Kind und blieb es lange, länger als die meisten meiner Schulkameraden, die schon sonderbare, für mich unverständliche Scherze zu erzählen begannen.
Da kamen die Jahre des Reifens über mich. Mit beklemmendem Staunen bemerkte ich allerlei Veränderungen an meinem Körper; seltsam dunkle Gefühle und Stimmungen ergriffen Besitz von mir; aber eine heimliche Scham hielt mich ab, mit den Eltern darüber zu sprechen. Auch Vater und Mutter sah ich nun in anderem Licht; bisher hatte sich mein Urteil gar nicht an sie herangewagt, sie waren für mich einfach die Eltern schlechthin gewesen, eine Art höherer Wesen, vollkommen und in sich selbst ruhend wie eine Gottheit; nun aber mußte ich, ob ich wollte oder nicht, bemerken, daß der Vater in seinem beschränkten Beamtengeist die Familie vernachlässigte, daß die Mutter darunter litt und beide eine enge, kleinliche Weltanschauung besaßen. Das alles kam mir natürlich nur dunkel zu Bewußtsein; aber ich empfand dennoch eine Entfremdung zwischen mir und den Eltern, die langsam und stetig wuchs, ohne daß einer der beiden Teile den Versuch einer Verständigung gemacht hätte.
Ich war immer sehr empfindlich gegen Spott gewesen: jetzt bemerkte ich, daß junge Leute meines Alters in den Augen Erwachsener eine Art lächerlicher Figur darstellten, und das Wort »Flegeljahre« schlug wie eine Beleidigung an mein Ohr. Ich verstand damals so wenig als heute, warum 74 man die quälenden Schmerzen, die unruhigen Regungen von Glück und Sehnsucht, die aufquellende Liebe zum Weibe, die diesem Alter eigen sind, gerade beim jungen Mann mit seichtem Spott und albernen Scherzen verhöhnt. Aber ich litt darunter, zog mich in mich selbst zurück und wurde mürrisch und verdrossen.
Am schlimmsten war es in dem Frühjahr, in welches mein siebzehnter Geburtstag fiel. Wenn der laue Wind durch die Straßen fegte und die schmutzigen Schneehaufen zusammenschmolzen, raste es durch meine Adern wie Fieberglut, daß ich Hut und Mantel nehmen und im Sturmschritt durch die Stadt eilen mußte, wie gepeitscht von unsichtbaren Geistern.
Drunten in den weiten Praterauen war mir wohler; ich horchte auf das Stöhnen der alten Bäume, in deren Äste und Zweige der Frühlingssturm hineingriff wie in eine Harfe; in heulenden Akkorden, vom Krachen zerbrechenden Astwerks schauerlich unterbrochen, erklang das ewige Lied von der wehen Lust des Frühlings, den die arme Mutter Erde unter tausend Schmerzen gebären muß. Und die Donau war hochgeschwollen und wälzte schwimmende Inseln von zackigen Eisschollen mit sich. An ihrem Ufer ging ich entlang und sang wilde, wirre Melodien in den Sturm hinein.
Wenn ich dann heimkam, mit feuchten Kleidern, todmüde, aber ein wenig ruhiger an Leib und Seele, schalten sie mich einen Narren und verboten mir solche einsame Wanderungen.
War es ein Wunder, daß sich mein Trotz aufbäumte gegen sie, die ewig nur verboten?
Sie zerstörten ja selbst die Brücken zwischen sich und mir; sie nannten mich störrisch, unkindlich, gefühllos – sie hatten Recht.
Die Mutter weinte und erinnerte mich daran, wie folgsam ich als Kind gewesen war; die höhnende Antwort, die ich 75 ihr gab, tat mir selbst wehe, aber es war eine grausame Wollust in mir erwacht, Schmerzen zu bereiten um jeden Preis – der Grausamkeit kleiner Knaben vergleichbar, die hilflose Tiere quälen.
Der Vater beklagte sich mit strenger Miene über die schlechten Zensuren, die ich in der letzten Zeit in der Schule erhielt. Das war der größte Schmerz für ihn, der alles in starre Formeln und dürre Zahlen gepreßt sehen mußte. Ich zuckte verdrossen die Achsel und schwieg.
Was würde er gesagt haben, wenn er später in mein Zimmer gekommen wäre. wo ich auf dem Bett lag, weinend, gefoltert von Scham und Reue?
Aber er kam nie – nie bot er mir die Hand wie ein älterer, erfahrener Freund – ich war immer nur das Kind für ihn, das zu gehorchen hatte.
So bin ich zum Jüngling geworden.
Meine Eltern zogen der kleinen Schwesterchen wegen während der Ferien in irgendeine billige Sommerfrische. Man wollte standesgemäß auftreten und konnte nicht. Mit dem erbarmungslosen Spott der Jugend verfolgte ich die kleine Tragikomödie: die Fragen der Kollegenfrauen nach dem »diesjährigen Sommerséjour«, die gewundene Antwort meiner Mutter, die von Gmunden, Ischl, Kitzbühel, Zell am See sprach; wußte ich doch nur zu gut, daß wir höchstens einen dieser vornehmen Orte auf der Durchreise sehen würden und daß es den Kollegenfrauen genau ebenso ging; man verbrachte einige Wochen in irgendeinem einsam gelegenen Dorf fern von der Bahnstrecke, wo es noch billig war. Im Herbst erzählten sich die Frauen von den Herrlichkeiten des Salzkammerguts.
Damals war die Wahl der Eltern auf St. Michael gefallen, ein freundliches Nestchen inmitten eines Kranzes gewaltiger Nadelwälder. 76
Berta und Käthe waren wie alljährlich bald mit allen Haustieren befreundet, schleppten die kleinen Katzen von einem Polster zum andern und jubelten über die auskriechenden Hühnchen.
Sonst hatte ich alle diese kleinen Freuden mit ihnen geteilt und mich in der Nähe des Hauses herumgetrieben; in diesem Sommer aber lernte ich zum erstenmal die Sprache des Waldes verstehen. Und es zog mich hinaus in die grüne Dämmerung der alten Bäume, an die Ufer des dunkelbraunen Waldbaches, der in eigensinnigen Windungen durch eine tiefe Schlucht sich seinen Weg bahnte. Früher hatte ich den Krebsen und Forellen nachgestellt, jetzt saß ich auf den hohen Granitblöcken, die das Wasser schäumend umtoste, und sah dem Spiel der Fische zu, ohne an das grausame Vergnügen des Angelsportes auch nur zu denken. Eine Stimme tief in mir predigte die Heiligkeit alles Lebens.
An einer scharfen Krümmung des Baches hob sich ein felsiger Höhenrücken, der einen weiten Ausblick bot; dort saß ich oft und sog das schöne, schwermütig stimmende Bild der dunkelgrünen Wildnis in meine Seele ein. Gegen Osten dehnten sich weite, sonnenlichtgebadete Höhen, mit den langen grünen Teppichen der Wiesen und Felder geschmückt; im Norden aber war Wald, nichts als Wald, dunkelblaue Wellen, die letzten im fernen Duft des Horizontes verdämmernd. Wenn ich da droben saß auf meiner granitenen Felsenburg, fühlte ich mich unendlich wohl. Alles Gute und Lichte in meiner Seele quoll herauf; ich hätte die ganze Welt umarmen können. Da war niemand, der mich wegen meiner Lächerlichkeit verhöhnte, und die Tannenwipfel nickten feierlich und ernst zu meinen grünen Jungengedanken.
Es war ein Sonntagnachmittag im August; ich hatte stundenlang den Forst durchstreift und lag nun ausruhend 77 unter einer großen Fichte am Waldrand. Der weiße Kirchturm von St. Michael flimmerte in der Ferne; ich sah die warme Luft über den roten Dächern zittern, wie bei einem Kohlenfeuer. Mein Kopf lag auf einer weichen, moosbewachsenen Baumwurzel; ich horchte auf das wunderliche Rauschen in den Kronen der Nadelbäume, das wuchs und schwoll und verklang im Flüstern wie das Getöse eines fernen Meeres. Und die Sonne schüttete goldene Tropfen Lichtes zwischen dem dichten Gewirre der Nadeln herab, die fielen von Ast zu Ast, sammelten sich auf dem Moosboden zu leuchtenden Flecken und in dem Glast schwirrten Millionen Waldinsekten und freuten sich ihres kurzen Lebens.
Und wie ein seltsamer Traum umfing mich der Gedanke, ich sei gar nicht meiner Eltern Kind, sondern irgendein kleiner, kleiner Teil dieses großen Weltganzen und etwas in mir hätte vor Jahrmillionen schon gelebt, im Brausen ferner Wipfel, im Summen schwärmender Insekten.
Plötzlich wachte ich auf und sah zwei hellblaue Flecken durch die Büsche schimmern; die standen still, bewegten sich ein wenig nach links und rechts, kamen wieder zur Ruhe und trieben mit meinen kurzsichtigen Augen ein neckisches Spiel, bis ich erkannte, daß es Strümpfe waren, die zwei kleine, kräftige Mädchenfüße prall umschlossen.
Ich hob mich auf den Ellenbogen empor und sah ein frisches Bauerndirndel mit braunen Zöpfen, Erdbeeren in ein Körbchen sammelnd. Die Kleine bemerkte mein erstauntes Gesicht, nickte lächelnd zu mir herüber und pflückte weiter.
Zum erstenmal in meinem Leben sah ich mir so ein sechzehnjähriges Gottesgeschöpf recht genau aus nächster Nähe an; ich freute mich an ihren runden, ruhigen Bewegungen, an dem hübschen, stumpfnasigen, braunen Gesichtchen, das sich 78 von Zeit zu Zeit gegen mich wandte und in dem die unausgesprochene Frage lag: Wie kommst du hieher?
Ein Vogel schrie aus dem Waldesdickicht. Sie stand und lauschte.
Ich fühlte den Drang, etwas zu sagen:
»Das ist eine Krähe.«
Sie schüttelte den Kopf: »A junger Nußhäher is.«
Ich blieb bei meiner Meinung. Das mußte ich doch besser wissen als das ungebildete Bauernkind.
Sie zuckte die Achsel, band ihr Kopftüchel, das ihr auf den Rücken geglitten war, ab und setzte sich schweigend zu mir; das volle Erdbeerkörbchen stand zwischen uns.
»Bist du schon fertig?« fragte ich.
Sie griff mit ihren flinken Fingern zwischen die Blätter der Heidelbeersträucher und pflückte eine Handvoll der schwarzen Beeren:
»Pilzling muß ich noch suchen.«
Dann schob sie die Beeren in den Mund und kaute mit vollen Backen.
»Du wirst schwarze Zähne kriegen.«
»Schadt nix,« lachte sie. »Ich eß' ein Stück Brot, das machts wieder sauber.«
Und sie zog ein hartes, schwarzbraunes Bauernbrot aus der Schürzentasche und biß hinein.
Wie das krachte!
»So, jetzt gehts wieder an die Arbeit,« sagte sie aufstehend.
Sie lud mich zwar nicht ein, ihr zu helfen, sah es aber, wie ich glaubte, nicht ungern, daß ich mitging.
Von meiner Hilfe hatte sie freilich nicht viel. Ich verwechselte als richtiges Stadtkind die Pilzlinge regelmäßig mit Teufelsschwämmen und zerstampfte zwei gute Exemplare mit meinen doppelt gesohlten Schuhen. 79
Von dem gebückten Gang und dem oftmaligen Niederkauern war uns warm geworden. Wir setzten uns wieder hin und wischten den Schweiß von der Stirn.
»Wie heißt du denn?« fragte ich.
Da schüttelte sie den Kopf und sprach ganz leise:
»Sie nennen mich die Teichmariedl.«
»Warum?«
»Weil sie mich vor sechzehn Jahren beim Klosterteich g'funden haben.«
Ich wollte weiter fragen, aber sie lenkte ab:
»Und der junge Herr is vom Herrn Gerichtssekretär der Sohn?«
»Freilich,« erwiderte ich stolz.
Sie rückte ein wenig von mir weg, als schicke sichs nicht, daß ein elternloses Mädel neben einer so ausgezeichneten Person sitze. Dann nahm sie ihre Pilze und Erdbeeren, gab mir die Hand und verschwand zwischen den graugrünen Stämmen.
Ich sah ihr nach, so lange die blauen Strümpfe in der Ferne leuchteten, dann seufzte ich leise, starrte eine Weile in die Luft und begann endlich Heidelbeeren zu essen.
Tags darauf erkundigte ich mich mit der nötigen Vorsicht bei unserer dicken, redseligen Hausfrau nach der Teichmariedl.
»O du mei, na ja, a lediges Kind is' halt. Der alte Meßnerseppl – er is scho lang in der Ewigkeit – der hats damals g'funden beim Klosterteich und is zum Pfarrer und zum Ortsvorstand, aber sie haben nix rausbracht, und so habens das arme Dirndl um an Gottslohn zum Kerschbaum geben, wissens, junger Herr, die kleine Keuschen am oberen End vom Ort, die gehört ihm. Na und sie is so halb a Kind und halb a Dienstbot und treibt die Kuh aus und die zwei Ziegen und 80 kriegt das bissel Essen und Kleider – es is halt hart für eins, wenn man nöt weiß, wer die Eltern sind.«
Noch nie hatte meine Phantasie so fieberhaft gearbeitet wie in den nächsten Tagen.
Ich spann einen ganzen Roman um das Mädel. Bald war dieses arme Kind einer gedankenlosen Leidenschaft zum mindesten eine verzauberte Prinzessin; ich fand ihre Haut viel zarter und feiner als bei den Mädchen im Dorf, ihre Füße schmal wie die einer Dame und das reiche Haar auf ihrer Stirne wurde zur Krone, würdig der Königin eines großen Reiches – ach, wie licht und leicht träumt man sich das Größte in seine Nebenmenschen hinein, wenn man siebzehn Jahre alt ist!
Die kleine Waldwiese, wo die Kuh weiden durfte, lag nicht weit von der Stelle, an der wir uns zuerst getroffen hatten. Natürlich trieb ich mich jeden Nachmittag dort herum und wenn ich sie von ferne kommen sah, stieß ich einen fröhlichen Juchzer aus und warf sie mit Tannenzapfen – sie drohte lachend mit dem Finger und befahl mir zu schweigen – der Heger konnte ja kommen und greinen, daß das Wild verscheucht werde bei soviel Geschrei. War ihr ohnehin nicht grün, weil sie beim Pilzsuchen einmal ein junges Tannenbäumchen zertreten hatte.
»Gut, ich werde nicht mehr juchezen,« sagte ich. Und am nächsten Tag schlich ich ganz leise hinter sie, legte die Hände von rückwärts über ihre Augen und tat die höchst überflüssige Frage: »Wer ist's?«
Unter der Woche trug sie keine blauen Strümpfe, ihre nackten Füße steckten in Holzpantoffeln und ein geflicktes Wollkleidchen umschloß die knospenden Formen ihres schlanken Körpers. Auch mit dem Erdbeersuchen war es nichts – sie mußte auf die Kuh achtgeben und hatte Strickzeug mit, daß 81 die Finger nicht müßig blieben; aber gerade so gefiel sie mir am besten und unsere harmlose Freundschaft wuchs mit dem Strumpfe, den sie strickte. Ich betrachtete die grobe Wolle mit stillem Schauder – so etwas hätte meine seine Haut blutig gescheuert.
»Erzählen Sie mir was. Sie sind doch ein studierter Herr!«
Und ich erzählte – von Wien und seinen Herrlichkeiten, von meinem Leben zuhause, vom Theater. Sie hörte zu, mit halbgeöffneten Lippen und großen glänzenden Augen. Und die Stricknadeln klapperten im Takt.
»Wien!« Wie groß das sein muß! Und wie schön!
Da sank die Strickerei in den Schoß und die Augen blickten sehnsüchtig nach den blauen Bergen des Horizontes.
Niemand wußte von meinem reizenden Abenteuer mit der verwunschenen Waldprinzessin. Die Mutter saß bei den Schwestern und quälte sie mit neuen Häkelmustern und unendlich langen Tischläufern.
Die armen Mädchen wären auch lieber zwischen den Ästen der Kirschbäume herumgeklettert, deren rote Früchte so verführerisch lockten; aber Mutter fand das unschicklich. Sie beneideten mich vom Herzen wegen meiner größeren Freiheit, darum zeigten sie ehrliche Schadenfreude, als unerwartet eines Tages der Vater eintraf, um eine Woche seines Urlaubs bei uns zu verbringen. Nun war es aus mit der goldenen Freiheit, ich mußte ihm Rede stehen, was für Schulgegenstände ich betrieben hätte, und er schien nicht sehr erbaut von meinen Kenntnissen.
»Du bist ein entsetzlich leichtsinniger Bursch. Denkst du denn gar nicht daran, daß du im nächsten Jahr zur Reifeprüfung kommst?«
Wahrhaftig – ich dachte nicht daran und zählte die Tage, die mich von seiner Abreise trennten. 82
Endlich verließ er uns.
Die kleine Mariedl hatte indessen täglich auf ihrer Waldwiese gewartet und verbarg ihre Freude nicht, als ich wieder kam.
Und wir setzten unsere Freundschaft fort und pflegten die kleine, warme Flamme, die in unseren Herzen brannte, dachten wenig an die Zukunft, noch weniger an das Menschenvolk da draußen, am wenigsten daran, ob unser stilles Glück dem Moralgötzen wohlgefällig war oder nicht.
An einem schwülen Nachmittag fiel es mir ein, mit ihr zu ringen. Lachend stellte sie sich hin, packte mich mit festem Griff und ich, der ich mir auf meine Turnerkünste soviel einbildete, lag im Augenblick auf dem Rücken. Ihre kräftigen Bauernfäuste umspannten meine Handgelenke wie eiserne Klammern und drückten sie fest in das feuchte, kühle Waldmoos.
Da lag ich mit ausgebreiteten Armen, wie ans Kreuz geschlagen, rot vor Scham und Zorn, daß mich ein Mädel niedergezwungen hatte.
»Loslassen!« sagte ich ärgerlich.
»Nein!«
Sie schüttelte den Kopf mit triumphierendem Lachen.
»Das gilt nicht!« schrie ich jetzt wütend. »Du hast mich in die Kniekehlen gestoßen!«
Sie bog sich über mich und preßte mich noch fester an den Boden. Und ich sah ihre Augen, ihre großen, weißblitzenden Zähne, fühlte den Duft eines blühenden Mädchenkörpers, zum erstenmal in meinem Leben – eine seltsame Ermattung kam über mich.
Die Knöpfe ihres Leibchens waren beim Ringen aufgesprungen – ich sah das grobe weiße Hemd, die frischen Brüste, 83 schwer und prangend wie reife Trauben; blendend weiß hoben sie sich ab von dem sonnenverbrannten Hals.
Und plötzlich verrauchte mein Zorn.
»Deine Augen sind gerade so braun wie der Bach,« sagte ich.
»Ich bin der Bach. Und mitten drin liegt ein großer Stein, den wälz ich, wohin ich will.«
»Der Stein ist aber stärker.«
»Nein, der Bach ist stärker,« sagte sie. Und auf einmal schlug eine jähe Röte in ihre Wangen, sie sprang auf und huschte durch das Dickicht davon.
Langsam, wie betäubt erhob ich mich vom Boden.
Die Ferien gingen zu Ende.
Mutter hatte wieder Dienstbotensorgen. In St. Michael konnte sie sich allein behelfen, weil Berta und Käthe sie unterstützten. Aber in der Stadt ging das nicht, schon des Dekorums halber. Sie kam auf den Gedanken, ein Mädchen aus St. Michael zu nehmen; man sparte am Lohn.
Unsere Hausfrau versprach, sich im Orte nach einem passenden Dirndel umzusehen.
Ich wußte von alledem nichts – wer beschreibt also mein Erstaunen, als eines Tages die kleine Teichmariedl in unsere Küche trat, mit einem Pinkerl in der Hand und blauen Strümpfen – genau so, wie ich sie damals im Walde zum erstenmal gesehen hatte.
Hinter dem mächtigen Leib der Hausfrau kroch sie hervor wie ein Küchlein unter der Klucke. Kaum konnte ich einen Ausruf der Überraschung unterdrücken.
Der Mutter gefiel ihr stilles, bescheidenes Wesen. Man wurde einig: also am nächsten Montag um 8 Uhr früh sollte sie sich reisefertig bei uns einfinden. Dann bekam sie ihr 84 Handgeld und ging; über die Schulter warf sie mir einen freundlichen Blick zu.
»Kennst du denn diese Person?« fragte meine Mutter.
»Ja – so halb – ich hab sie einmal im Dorf gesehen,« log ich.
Sie trat ganz nahe zu mir heran:
»Fang dir ja niemals etwas an mit solchen Geschöpfen, hörst du? Du bist jetzt in einem Alter, wo ein junger Mensch sehr vorsichtig sein muß. Und gar diese Dienstmädeln – die sind heutzutage so niederträchtig und abgefeimt – es kann ein Unglück geben, das dich durch dein ganzes Leben verfolgt –«
Ich schlug den großen Atlas auf, steckte den Kopf zwischen die Deckel und markierte Interesse für die mittlere Zone der Ostalpen.
Warum mir die Mutter in der letzten Zeit beständig solche Lehren gab? Ich wurde doch von jedem weiblichen Verkehr ferngehalten; was für ein »Unglück« stand zu befürchten, wenn ich einem jungen Mädel gut war?
Ich beschloß zu schweigen und so zurückhaltend als möglich zu sein.
Der Montag kam, ein kühler Septembertag mit Morgennebeln und trüber Abschiedsstimmung. Sehnsüchtig sah ich hinüber nach meinem lieben Wald.
Eine endlos lange Eisenbahnfahrt brachte uns nach Hause. Die Mariedl saß zusammengekauert beim Fenster, ihr kleines Bündel auf den Knien, und sah in die Landschaft hinaus, die fremder und fremder wurde; ich merkte wohl, wie sie tapfer die Tränen schluckte.
Armes Ding! Da zog sie hinaus in die graue ungewisse Zukunft, fort aus der Umgebung, die ihre Heimat und das 85 Land der Kindheit war, mochten die Pflegeeltern auch barsch und rauh gegen sie gewesen sein.
Und ich durfte sie nicht trösten, ich mußte artig und still sitzen zwischen Mutter und Schwester und dem Gespräch zuhören, das sich um Schling- und Häkelmuster drehte.
Die blasse Kontur des Kahlenbergs hob sich vom Himmel ab und bald keuchte der Zug in die Halle.
Vater stand am Perron, steif und korrekt, küßte erst die Mutter, dann uns Kinder nach dem Alter und steuerte uns dem Ausgang zu.
Die Mariedl zappelte nach; ganz betäubt war sie von dem Rufen, Zischen, Klingeln, Brausen und Schwirren auf dem Perron. Das war also Wien!
»Langsam ist sie – furchtbar langsam. Du wirst viel Geduld mit ihr haben müssen,« meinte der Vater, als Mama ihm die neue Hausgenossin vorstellte.
Draußen zwischen den stampfenden Fiakerpferden, Autos und rollenden Omnibussen verlor sie uns einen Augenblick im Getümmel und wäre bei einem Haar unter die Räder der Straßenbahn geraten.
Endlich war man in der dumpfigen, mit Ruß und Staub erfüllten Wohnung.
»Hier ist deine Küche, Marie.« Mutter wies auf den kleinen Raum, dessen einziges Fenster in den Lichthof ging. Herd, Kredenz, Küchentisch und Tafelbett drängten sich zusammen, kaum blieb noch Platz für einen kleinen Stuhl. Auf diesen sank die Mariedl todmüde und drückte ihr Bündel an die Brust.
Eine halbe Stunde später schlich ich in die Küche, da saß sie noch immer im Finstern und weinte. Sie tat mir leid; ich streichelte ihr die Wange, da fing sie meine Hand und küßte sie – war ich doch jetzt der junge, gnädige Herr!
So kam die kleine Mariedl zu uns. 86
Mir war, als sei etwas Frisches und Duftendes in das einsame Haus gezogen, wie Waldesrauschen, wie der Geruch blühender Kleefelder in der Glut der Sonne; als sei die schreckliche Regelmäßigkeit, mit der das Uhrwerk des täglichen Lebens abschnurrte, leichter zu tragen.
Vater stand vor der Beförderung. Noch korrekter und pedantischer als früher, blieb er uns oft tagelang unsichtbar, saß über Mittag im Bureau, um Rückstände aufzuarbeiten, und kam spät abends heim, wenn wir schon schliefen.
Und mich umklammerten wieder abwechselnd die grauen Mauern des Schulzimmers und der Studierstube. Ich sehnte mich so schmerzlich nach Glanz und Pracht und Schönheit in Menschenwelt und Natur; ich liebte die Musik und das Theater und bei den Klängen der Beethovenschen Symphonien, die ich in populären Konzerten hörte, konnte ich mich in eine fremde, wunderliche Traumwelt einspinnen, wo ich wunschlos und glücklich war. Die großen Dichter und Schriftsteller meines Volkes klopften mit ihren Werken an mein Herz; ich verschlang den Ekkehard, brütete über dem halbverstandenen Faust und war begeistert von Heineschen Versen. Da war die Welt, nach der ich mich so sehr sehnte; sie stieg aus alten Märchen und winkte mir mit weißer Hand . . . und um mich war das erbärmlichste, jämmerlichste Kleinbürgerleben, das Feilschen um Käse und Brot, die niederdrückende Atmosphäre des ärmlichen Beamtenhaushaltes, die jeden Aufschwung der Seele mit eisernen Klammern niederzwang.
Und als sie sahen, wie heiß mein Herz an all dem bunten Glanz jener Traumwelt hing, die die Künste in unser Leben gewebt haben . . . da, ja, da . . . da nahmen sie mir die Bücher fort und verboten mir, ins Theater und ins Konzert zu gehen. »Es greift seine Nerven an und zieht ihn von den Schularbeiten ab,« sagte der Vater. 87
Heute weiß ich, daß er es gut gemeint und nicht besser verstanden hat.
Damals aber – in der Überschwänglichkeit meines Knabengefühls – damals habe ich ihn gehaßt.
Die Mariedl lebte sich rasch in die neue Umgebung ein. Freilich verwechselte sie anfangs die Trafik mit dem Milchladen, den Greißler mit dem Selcher – in St. Michael hatte man in dem einzigen Krämerladen alles bekommen, was man brauchte; aber mit ihrem natürlichen Instinkt fand sie sich bald in dem ungewohnten Getriebe der Großstadt und zwischen den vielen unnützen Nippsachen unserer Wohnung zurecht. Und über den Rand meines Lehrbuches verfolgten meine Augen oft genug die Bewegung ihrer kleinen, derben Hände, die mit dem Staubtuch über die Bilderrahmen glitten und die geleckten Porzellanfigürchen behutsam anfaßten, als wären es Kunstwerke alter Meister. An die kleine Hirtin Hadumoth mußte ich denken, die im Dienste der strengen Herzogin von Schwaben stand; Hunnenschlacht und Sonnwendefeuer, Waldesrauschen in St. Michael, lachende Bauernmädchen, die mich in das weiche Moos niederrangen, das alles wirbelte im tollen Tanz durch mein unreifes Gemüt.
Meine Mutter behandelte das Mädchen nicht schlecht; aber sie war von jeher gewohnt, Dienstleute als eine tiefstehende Menschenklasse anzusehen, und es fiel ihr niemals ein, daß dieses junge Ding außer Kost, Wohnung und Lohn vielleicht auch ein anerkennendes Wort, eine Frage nach seinem Wohl und Wehe, seinen Sorgen und Hoffnungen verlangen könne. Was sie an Güte und Teilnahme im Herzen trug, gehörte ganz allein der Familie: der Dienstbote hatte doch seinen Lohn!
Von dem Lohn freilich bekam die Mariedl nicht viel zu sehen; die Pflegeeltern verlangten, daß sie ihnen fast das ganze Geld sandte. 88
Aber ich konnte das Mädchen nicht als bezahlte Lohnsklavin betrachten.
Für mich war sie ein junges Menschenwesen wie ich, stand im selben Alter, träumte von einer unbekannten Zukunft, fühlte sich beengt durch die dumpfe Gegenwart gleich mir.
War es zu verwundern, daß jene stille warme Freundschaft, die da draußen unter den breiten Tannenästen begonnen, jetzt in der Großstadt weitergesponnen wurde?
Wie oft kam sie heimlich und schnell zu mir gelaufen und bat mich um Rat – wie oft wendete ich einen Verweis der ungeduldigen Mutter von ihr ab; und manchmal, wenn der Vater noch im Bureau arbeitete und die Mutter mit den Schwestern ausgegangen war, huschte sie in mein Studierzimmer. Da kauerte sie sich in einer Sofaecke zusammen und saß ganz still, und ich zeigte ihr meine Bücher, meine Bilder und Sammlungen; ich sah an dem verständnisvollen Aufleuchten dieser klugen braunen Augen, wie dem Dorfkind die Ahnung einer andern Welt aufging, wenn es fragte und nachsann und wieder fragte; für sie, die in geistiger Armut aufgewachsen, war ich mit meinem engbegrenzten, flüchtigen Wissen ein Großer, ein Gelehrter.
Da fühlte ich, wie die knabenhafte Anmaßung des Übergangsalters Stück für Stück von mir abfiel; tiefe, stille Kräfte des Gemütes regten sich und machten mich duldsamer und gütiger; wenn dieses Mädchending vertrauend zu mir aufsah, schmolz die Rinde des Hochmuts von meinem Herzen und ich hätte es nie gewagt, ihr Vertrauen zu täuschen.
Meine Mitschüler lernten um diese Zeit das Weib kennen – in jener Gestalt, wie es den jungen Menschen in der Großstadt entgegentritt. Sie prahlten mit ihren Erlebnissen, erzählten mir von geheimnisvollen Gassen und nächtlichen Schwärmereien und ich schüttelte den Kopf und begriff nicht 89 recht: warum suchten sie ihr Vergnügen denn immer nur in Schmutz und Heuchelei? Warum lauerte auf dem Grund ihrer Seelen trotz aller prahlenden Worte eine heimliche Angst, als begingen sie ein Verbrechen? Warum endlich wurde ich Zeuge so manchen Ausbruchs von Reue, Scham und Ekel?
Sie luden mich ein, mit ihnen zu gehen – es gab Gelegenheiten genug, auch die wachsamsten Angehörigen zu betrügen. Aber ich wich ihnen aus. Was sie mir da schilderten, reizte mich nicht, erschien mir widerlich, abstoßend, beinahe unnatürlich.
Damals hatte ich öfters einen wunderlichen Traum: es war mir, als lege sich um die Zeit des Morgengrauens ganz leise eine Hand auf meine Stirn und eine Gestalt stünde vor meinem Lager, ein gütiger Geist, der mich segnete und Worte in einer fremden Sprache zu mir sagte. Und wenn ich dann erwachte, war mir froh und leicht zumut. Was war das? Gab es Gewalten, aus fremden Welten zur Erde herüberreichend, die das Licht des klaren Bewußtseins scheuten und nur im Traum zu uns kamen? Oder gehörte jene Hand meiner Mutter? Wohl kaum – die hatte nur für die Schwestern hie und da solche Zärtlichkeiten übrig.
Es kam eine Stunde, die mir Gewißheit brachte.
Ich hatte schlecht geschlafen und lag bei Tagesanbruch im Halbschlummer. Trotzdem vernahm ich im Zimmer ein leises Geräusch; und zwischen den Lidern in den dämmernden Raum blinzelnd, sah ich das Mädchen, wie es auf den Zehenspitzen an mein Bett schlich und nach den Schuhen tastete, die es zu reinigen hatte. Ich lag ganz still und rührte mich nicht. Und wirklich – ich fühlte, ohne es zu sehen, daß sie neben mir stand und mit der Hand über mein Haar fuhr; wie ein leiser Windhauch strich es mir über die Stirn. Und unhörbar 90 schlüpfte sie wieder aus dem Zimmer. Ich lag noch eine Stunde regungslos und in meinem kindischen, liebesbedürftigen Herzen war Sonne.
Manchmal aber kamen stärkere und lautere Gefühle über mich, ein heißer Drang, sie zu umklammern, daß ihr der Atem ausging, ihr weh zu tun, bis sie schmerzlich schrie – da schlug es aus meinem Innern in hellen, heißen, leidenschaftlichen Flammen wie aus einem schlecht behüteten Kohlenmeiler.
Unsere Wohnung lag im dritten Stock; nebenan führte eine eiserne Tür zum Bodenraum, wo die Wäsche zum Trocknen aufgehängt wurde. Da stieg sie einmal mit dem gefüllten Wäschkorb die steile Treppe hinauf. Leise schlich ich ihr nach; mich freute das Spiel dieser festen, kleinen, gutgeformten Füße, deren Fesseln sich so frei und leicht bewegten, wie sie Stufe für Stufe mit ihrer Last emporschritt. Droben stellte sie den Korb hin und spannte die Stricke; dann ging sie zu einem der größten Fenster, das sich wie eine Balkontür nach außen öffnen ließ.
Sie drückte es mit dem Knie auf und stand nun, vom klaren Licht der Herbstsonne umflossen, auf der Plattform. Nur ein dünnes Geländer grenzte den engen Raum von der furchtbaren Tiefe, wo die Straßenbahn wie ein Kinderspielzeug hinglitt und die Menschen krabbelnden Käfern glichen. In den engen Gassen lag schon tiefer Schatten; droben spielte das rötliche Sonnenlicht um die Schnörkel, Zieraten und sinnlos angeklebten Stuckmasken, von denen der Mörtel herabbröckelte, daß man die nackten roten Ziegel darunter sah.
Ihr Blick aber glitt über die erbärmliche Zinskaserne hinaus in die leuchtende Wolkenwelt. Dort im Westen führten die Wellenberge des Wienerwaldes ihren steinernen Reigen und ein breiter Strom rotgoldenen Lichtes floß darüber hin; sie 91 beschattete die Augen mit der Hand und sah unverwandt hinüber.
»Was hast du, Mariedl?« fragte ich leise.
Sie schüttelte den Kopf und deutete nach Westen.
»Nichts – ich hab nur wieder einmal Berge sehen müssen und Wälder. Heimweh hab ich jetzt so oft, weils in den Gassen drunten so finster ist und eng – und die Luft legt sich mir auf die Brust . . . ach was, ich werds schon gewöhnen.«
Wie sie da stand, in der Schönheit ihres frischen Mädchenkörpers, den die kühle Abendluft umwehte, da schien sie mir reizvoll und begehrenswert – nun aber, als sie nach einem letzten Sehnsuchtsblick auf die blauen Berge sich wieder mit kräftigem Ruck zu ihrer Arbeit wandte, zerschmolz das unbestimmte, drängende Verlangen im Gefühl gemeinsamer Sehnsucht; ich blieb droben auf der Plattform, während sie die Treppe herunterschritt, und träumte der sinkenden, roten Sonne nach.
Bisher war es mir gelungen, meine Empfindungen vor den Eltern zu verbergen. Nicht als ob ich das leiseste Gefühl irgendeiner Schuld gehabt hätte; aber die sonderbare Warnung der Mutter vor »solchen Personen« klang mir noch immer im Ohr und eine Ahnung sagte mir, daß die Mariedl das Bad werde ausgießen müssen, wenn die Mutter etwas bemerkte.
Es wäre ihr damals kaum eingefallen, daß der so sorgsam gehütete Sohn sich mit einem gewöhnlichen Dienstmädel einlassen könnte; auch hatte sie wenig Zeit, sich um mich zu kümmern, weit der Vater endlich um eine Stufe auf der Jakobsleiter avanciert war und eine Menge von Gratulationsbesuchen erwidert werden mußten. Mutter zog das Schwarzseidene aus dem Kasten und nahm für einige Tage eine arme hustende Schneiderin ins Haus. Als das Kleid 92 »modernisiert« war, erinnerte sie sich plötzlich einer großen Zahl von Freundinnen, machte Visiten und sonnte sich im Glanz des Gatten.
Es kam der Winter und die Bäume der Ringstraße streckten ihre schneebedeckten Äste zum Himmel, da brachte die Mariedl einmal ein Bündel brauner Zweige vom Markte heim.
»Was ist denn das?« fragte ich.
»Barbarazweigerln. Die stecken wir jetzt in ein Glas mit Wasser und lassen sie ganz ruhig stehen. Und um Weihnachten herum werden sie blühen.«
Ich lächelte ein wenig ungläubig. Aber sie streckte sich auf den Fußspitzen empor und stellte das Glas mit den Zweigen an den Rand der Küchenkredenz.
»Ganz gewiß werden sie blühen. Sie werden schon sehen.«
Und sie nickte ernsthaft.
Die Weihnachtszeit nahte.
Wie hatte ich mich als Kind immer gefreut an dem geheimnisvollen Treiben – an den sonderbar geformten Paketen, dem streng bewachten Besuchszimmer, all den ahnungsvollen Vermutungen der Schwestern! Jetzt aber mißlangen alle meine Versuche, die süße Wunderstimmung wieder zurückzurufen, nur die kühle Welle von Tannenduft, die beim Öffnen der Türe des Christbaumzimmers herausschlug, trug mir noch einen letzten, leisen Rest des lieben Kinderglaubens entgegen. Alles schien mir nur eine öde, verbrauchte Form, aus der der Geist gewichen war; vom Lichterbaum angefangen bis zu dem zweistimmigen Weihnachtslied, das die Schwestern einstudierten, weil Vater auf die alte Sitte soviel hielt.
Was sollte ich schenken?
Damals fiel es mir zum erstenmal auf die Seele, wie sinnlos es war, die Angebinde von dem Taschengeld zu kaufen, das ich ja doch von den Eltern geschenkt bekam. Und doch 93 gab es etwas, das jenem Weihnachtsfest einen Schimmer alten Kinderglücks verlieh: das eifrige Nachdenken, wie ich der kleinen Mariedl eine Überraschung bereiten konnte. Ich verfiel auf die sonderbarsten Gegenstände; endlich fragte ich eines Abends, um doch wenigstens einen Anhaltspunkt zu gewinnen, die Mutter:
»Was schenkst du denn dem Mädchen zu Weihnachten?«
Es sollte recht gleichgültig klingen, aber sie sah erstaunt auf:
»Welchem Mädchen?«
»Nun, der Marie.«
Sie schüttelte den Kopf und ich fühlte zu meinem größten Ärger, daß ich über und über rot wurde.
»Man gibt dem Dienstboten gewöhnlich soviel, als der Monatslohn ausmacht. Das ist sehr viel für unsere Verhältnisse, aber mein Gott – die Leute reden einem sonst nach. Übrigens: was kümmert das dich?«
Ich hob die Achsel und schwieg. Eine ungeheure Verstimmung kam über mich. Nun hatte ich eine dumme Frage gestellt und doch nicht herausgebracht, was ich dem Mädel geben sollte.
Wäre ich nur ein wenig Menschenkenner gewesen, so hätte ich bemerken müssen, daß die Mutter von jenem Augenblick an die Mariedl und mich mit steigendem Mißtrauen beobachtete.
War es Eifersucht, die nicht zuließ, daß der Sohn einem anderen Weibe nahetrat? Oder glaubte sie wirklich an Verführungsabsichten bei diesem Naturkind?
Der ganze Komplex dieser Muttergefühle ist mir nie klar geworden – weder damals noch später.
Ich war also auf meine eigene Phantasie angewiesen und wanderte stundenlang vor den erleuchteten Schaufenstern umher, die mit jedem Tag bunter und verführerischer lockten. 94
Endlich kam ich auf einen nach meiner Meinung guten Gedanken. Ich wußte, daß sie sich in der Küche stets mit einem kleinen, halb erblindeten Wandspiegel behelfen mußte; da fiel mir in einem großen Galanteriewarengeschäft ein hübscher Toilettespiegel auf, von der Größe eines Quartblattes, mit einem schmalen Rahmen aus imitiertem Elfenbein. Das war was. Mit Herzklopfen fragte ich nach dem Preis – gottlob, es ging mir mit dem Taschengeld aus.
Der Spiegel wurde sorgfältig verpackt und daheim in die tiefste Lade meines Schreibtisches gesenkt. Und in unbewachten Augenblicken zog ich ihn hervor und malte mir die Überraschung der Mariedl aus.
Heiliger Abend. Alles wie sonst: Lichterbaum, feierliche Gesichter, ein wenig gespielte Überraschung. Und doch fehlte der Duft des innersten Erlebens. Oder war nur ich so unglücklich, schärfer zu sehen als die andern?
Die Bescherung der Mariedl war von der Mutter vorher abgetan worden; sie hatte eine Banknote auf den Küchentisch gelegt, die Hand zum Kusse gereicht und streng befohlen, das Feuer zu hüten, damit der Karpfen ordentlich gar werde.
Der Vater saß im Bescherungszimmer im Lehnstuhl vor dem Christbaum und genoß mit Behagen die Feierlichkeit. Zufrieden lächelnd sah er zu, wie Käthe und Berta ans Klavier traten; das Weihnachtslied begann, von Mutter begleitet. Es war von unendlicher Länge und sie ersparten sich keine einzige Strophe.
Unbemerkt konnte ich in mein Zimmer schlüpfen und die Geschenke holen: eine Zigarrenspitze für den Vater, Handtäschchen, Taschentücher für die Mutter und Schwestern – und den Spiegel für die Mariedl.
Leise trat ich in die Küche; eine kleine Petroleumlampe verbreitete müdes Licht. 95
Sie stand beim Herd und hielt etwas in den Händen. Die Barbarazweige!
Weiße Blütensterne waren aus dem braunen Holz gekommen, ein Frühlingsmärchen mitten im Winter. Sie hielt mir das Glas hin:
»Wie groß und schön sie sind!«
Und wir betrachteten das weiße Wunder mit verträumten Blicken.
Ein Geräusch im Vorzimmer schreckte mich auf.
»Mariedl, da – von mir – aber bitte, niemandem zeigen, hörst du?«
Es schimmerte in ihren Augen:
»Danke, Herr . . . danke.«
Sie wollte mir die Hand küssen.
»Nicht – so laß doch –«
Aus dem Zimmer klangen die dünnen Stimmchen der Schwestern. Und das Lied sprach von Güte und Liebe gegen alte Geschöpfe Gottes, vom Geben, das seliger ist als das Nehmen, vom Heiland, dem wir nachstreben sollen zum Trost der Mühseligen, Beladenen.
Auf dem Küchentisch, im Schein der schwelenden Lampe, lag die schmutzige, abgegriffene Banknote, achtlos hingeworfen wie ein Knochen vor den Hund.
Ich weiß nicht, wie es kam – aber mich erfaßte mit einemmal ein wütender Haß gegen diese ganze Welt voll Heuchelei und Lüge, die von Gefühlen spricht und Steine gibt statt Brot; ein wilder, flammender Trotz, wie ihn nur die unverbrauchte Jugend kennt; und ich trat mit einem harten Schritt auf das Mädel zu und riß sie an mich, sie, gerade sie, die vielleicht das Kind einer Dirne war, und preßte wild und stürmisch meinen Mund auf den ihrigen. 96
Sie aber schlug die Arme um mich und legte den Kopf an meine Schulter. Und seltsam erinnerte mich der Duft ihres Haares an jenen schwülen Nachmittag, als ich Brust an Brust mit ihr gerungen hatte auf dem grünen Moosteppich.
Damals war sie stärker als ich.
Heute aber lehnte sie still an meiner Brust, schwer und regungslos, und ich fühlte die Wärme ihres Körpers durch den Stoff des Kleides.
Und drinnen sangen sie noch immer von der heiligen Nacht.
»Richard, wo bleibst du?« rief die Mutter aus dem Zimmer, mitten hinein in die letzte Zeile des Liedes.
»Ich komme schon.«
Und ich war befremdet und erstaunt über den rauhen Klang meiner Stimme.
Das Fest war vorüber.
Es vergingen Tage und Wochen. Einförmig und träge schlich die Zeit und brachte mir viel Dumpfes und Schweres.
Der Schnee wurde weich; der kleine Teich im Stadtpark sah aus wie geschmolzenes Blei; Regenschauer zerfraßen die Eisdecke, Nebel schleifte drüber hin wie schleppende Gewänder. Tagelang verbarg sich die Sonne.
Ein Gefühl von Öde und Leere schlug über mir zusammen. Mir war, als säße ich auf einer mächtigen Eisscholle, ringsum von weißen Wolken eingehüllt, und treibe langsam, unaufhörlich den Strom hinab, weiter, immer weiter. Kein Ziel vor Augen, keinen Stern am Himmel, der mir den Weg gezeigt hätte.
Das war also die Jugend, die sie besangen in Gedichten und Romanen, im jubelnden Dithyrambus – die schönste Zeit des Daseins, voll Glanz und Duft und süßen Freuden, die genossen werden muß, bevor das Alter kommt, das trübe, nebelgraue, das dem Tod entgegenschreitet. 97
Wohin trieb mein Leben?
In der Schule ging es mir nicht gut. Die Müdigkeit und Unlust zur Arbeit wurde größer, je näher der Termin der Matura kam. Wenn ich mich zu den Büchern setzte, befiel mich ein bohrender Kopfschmerz, der das Denken unmöglich machte; und an der ganzen Richtung meines Lebens, die man mir von Kindheit an gewiesen, verzweifelnd, sehnte ich mich oft, als Bauer zu leben, den Pflug mit hornharten Fäusten in die Erde zu stoßen, tief, tief hinein – mich zu mühen in schwerer Körperarbeit, bis alle Gedanken mit dem Schweiß von meiner Stirne zur Erde strömten; wie köstlich mußte es dann sein, wenn man am Abend seines Tages oder seines Lebens hinfiel zu tiefem, traumlosem Schlaf.
Ich stöhnte – ja, da war wieder das dumpfige Arbeitszimmer, die griechische Grammatik, die Logarithmentafeln, die geometrischen Formeln mit Sinus und Cosinus. O, wie ich das alles haßte!
Der Vater war verzweifelt. Schlechte Zensuren waren ihm gleichbedeutend mit Verbrechen. Die Mutter ging mit schweigenden Jammermienen im Haus umher, die Schwestern drückten sich scheu in die Ecke. Das alles reizte mich zu feindseligem Trotz auf.
Niemand versuchte den tieferen Gründen meiner Verstimmung nachzugehen. Ich war ein mißratener Sohn, nichts weiter.
Wie sehr ich gerade damals eines älteren Freundes bedurft hätte, ahnten weder Vater noch Mutter. Ich begann zu grübeln über den Fragen des Daseins. Die banale Durchschnittsreligion des Katechismus und der Bücher, die sich vermaßen, Religion »lehren« zu wollen, genügte mir nicht mehr.
Wo war der Gott, von dem sie alle sprachen, als sei er ihnen irgendwo begegnet – der Gott, in dessen Namen 98 Ströme von Blut vergossen wurden, Scheiterhaufen brannten und Unschuldige das Schafott bestiegen; der Gott, von dem sie sagten, er hätte einen Geschäftsvertrag geschlossen mit den Bewohnern dieses Planeten – hier Gehorsam und Unterwerfung, da drüben ewige Belohnung oder Strafe, Auge um Auge, Zahn um Zahn? Kann ein Gott mit Menschen einen Handel schließen? Die Schriften der Priester gaben mir keine Antwort. Da griff ich zu Spinoza, zu Schopenhauer und Nietzsche. Heimlich schleppte ich ihre Werke mit meinen Schulbüchern ins Haus. Und spät in der Nacht, wenn alles schlief, brütete ich über den tiefen, harten Worten:
»Leiden wars und Unvermögen, das schuf alle Götter und Hinterwelten . . .«
Und jede Stunde solcher Einsamkeit führte mich noch weiter von den engen geistigen Grenzen des Hauses und der Familie fort. Vergessen lagen die Schulbücher im Winkel, aus denen ich mich für morgen hätte vorbereiten sollen.
Aber dann, wenn ich endlich die Lampe ausgelöscht hatte und ein Stückchen tiefblauen Himmels mit flimmernden Sternen aus mein Bett herabsah, dann schrie irgend etwas in meinem Herzen mit heißem Verlangen nach einem persönlichen Gott, der die Menschen belohnt und bestraft wie ein Vater seine Kinder; der seine Auserwählten an der Hand führt durch Meeresbrandung und glühenden Wüstensand in das Land der Verheißung, das von Milch und Honig fließt.
Und ich drückte den Kopf in die Kissen und weinte – das tat gut. So schlief ich ein . . .
Nur ein einzigesmal wagte ich es, aus mir herauszugehen. Der Mutter, die doch trotz ihrer Strenge mehr Gemütswärme besaß als der Vater, warf ich einst eine Andeutung von jenen inneren Kämpfen hin. 99
Sie sah mich lange an und es war etwas wie Mitleid in ihrer Stimme:
»Aber schau, Richard, das sind ja alles Phantastereien. Du willst doch kein Geistlicher werden. Über solche Dinge darf man gar nicht nachdenken. Laß das Grübeln und lerne lieber deine Schulgegenstände.«
Da begann ich zu begreifen, wie einsam ein Mensch im Grunde seiner Seele ist, wie uns nichts und niemand helfen kann in der Not des Werdens, und daß man solche Gemütskrankheiten durchmachen muß wie Bräune und Scharlach – der eine ist stärker als die Krankheit, der andere stirbt daran.
Als meine Überreizung und Mattigkeit immer mehr zunahmen, gerieten die Eltern endlich auf den Gedanken, den Arzt zu befragen.
Er untersuchte mich genau und gab den Eltern den dringenden Rat, mich in Gottesnamen das Schuljahr wiederholen zu lassen, dafür aber lieber für Ruhe, heitere Zerstreuung, frische Luft und im Frühjahr für einen Aufenthalt in Meran zu sorgen. Meinen Zustand bezeichnete er nach einigem Hin- und Herreden als eine »schwere physische und psychische Depression«.
Der Vater war unwillig, aber Mutter bekam Angst vor den lateinischen Worten und sah mich schon auf dem Totenbett.
Man sorgte also für meine Erholung laut Vorschrift: ich durfte spazieren gehen, Hackländer und Kotzebue lesen und eine Freundin der Mutter lud mich zu ihren Jours ein, wo es junge Leute und hübsche Mädchen gab.
Gleichgültig ließ ich alles mit mir geschehen. Was konnte es helfen, wenn ich die Ringstraße auf- und abschlenderte oder unter den Bäumen des Praters dahinschritt – die Gedanken gingen mit mir und arbeiteten weiter wie der Bohrwurm im Holz. Die Unterhaltungslektüre langweilte mich, in 100 unbewachten Augenblicken flog der Kotzebue in die Ecke und ich verbiß mich wieder in den Zarathustra. Am schrecklichsten aber waren mir die Mädchenjausen der Frau Sektionsrat. Ich hatte nie gelernt, Konversation zu machen; mein ruppiges Benehmen stieß die jungen Mädchen ab; Mama zog mich zur Seite, zupfte meine Krawatte zurecht und gab mir Belehrungen. Das war das Peinlichste.
Eines Abends war ich mit Mutter und Schwestern wieder geladen, während der Vater in Berufsgeschäften verreist war. Meine ältere Schwester kokettierte erfolgreich mit einem jungen Ingenieur, den alle Mädchen entzückend fanden; mich beachtete niemand, nur die Haustochter, ein hochbeiniger, schnippischer Backfisch mit grünlichem Gesicht, richtete hie und da ein herablassendes Wort an mich. Wie ich sie haßte, diese Karikaturen von Damen, die über alles Mögliche schwatzten und vor Ziererei und Koketterie ihre natürlichen Gesichter nicht mehr fanden! Unbeschreiblich sehnte ich mich nach meinem stillen Arbeitszimmer, dem großen ledernen Armstuhl, der schönen Kunstgeschichte von Springer, deren Bilder ich oft betrachtet, während die kleine Mariedl mir über die Schulter sah.
Niemand bemerkte, daß ich ins Vorzimmer schlüpfte, meinen Mantel umwarf und mich hinausschlich. Nein, es war nicht mehr zum Aushalten.
Draußen brauste der Südwind durch die Straßen. Auf seinen Schwingen kam der Frühling, er streckte seine Hand aus und es klang durch die Luft wie ein brausender Akkord von Äolsharfen und Riesengeigen; noch ein lauer Regen und die braunen Knospen werden aufspringen, die Blumen sich entfalten und das Wunder der Zeugung wird wieder Wirklichkeit werden. Mir war so merkwürdig bang und beklommen und doch versprach mir irgendeine heimliche Stimme 101 unerhörtes Glück. Ein warmer Strom floß durch meine Seele und seine Welten flüsterten seltsam. Was war das nur?
Als ich daheim in den Korridor eintrat, saß die Mariedl da und strickte. Sie sah mich an – ihre Augen strahlten ein tiefes, warmes Licht.
Da atmete ich auf wie von einer Last befreit und kniete vor sie hin und legte ruhig, selbstverständlich, als könne es gar nicht anders sein, den Kopf in ihren Schoß. Und sie streichelte mein Haar und gab mir zärtliche Namen gleich einem Kind. Da kam es über mich wie süße Flammen und die Besinnung verließ mich. Wieder breitete sich jenes Gefühl des Nirwana um meine Gedanken, als hätte ich kein eigenes Leben mehr, sondern sei nur ein Teil der unendlichen Lebenskraft, die das Weltall ebenso durchflutet wie jene warme, wogende Mädchenbrust, in der ich das heiße Klopfen des Herzens vernahm.
Sie wuchs zu so hoher, großer Schönheit in dieser Stunde, das arme kleine Mädel. Sie spielte nicht, sie reizte mich nicht durch scheinbares Versagen. Sie gab Glück und war selbst glücklich. Die arme, enge Welt um uns versank. Leise tickte die Wanduhr durch die große Stille.
Da plötzlich wurde ein Schlüssel an die Türe gesteckt – ehe ich mich besinnen konnte. stand die Mutter vor mir. Wie eine Steinsäule.
Minuten verstrichen.
Endlich stieß sie mit heiserer Stimme heraus:
»Also das ist deine Krankheit. Mit einem gemeinen Geschöpf gibst du dich ab . . .«
Härter als ein Peitschenhieb traf mich das Wort.
»Mutter!« schrie ich auf. 102
»Schweig,« war die eisige Antwort. »Marie, du packst sofort deine Sachen. Hier ist dein Lohn. Morgen früh wirst du das Haus verlassen.«
Als ich später an meinem Schreibtisch saß, die Arme auf die Platte gelegt, den Kopf darauf – da kam die Mutter zu mir herein. Und ich hörte Worte, wie ich sie aus diesem Mund nie vernommen, sie sprach von dem Mädchen, als sei es das elendeste, verlottertste Geschöpf, schlechter als eine Straßendirne.
Ich antwortete nicht.
Im Morgendämmer erhob ich mich von meinem Bett, wo ich in den Kleidern geschlafen hatte. Leise schlich ich auf die Straße hinab.
Zwei Stunden stand ich wartend am Tor. Da endlich kam sie, mit rotgeweinten Augen, ihr Bündel in der Hand, in denselben Kleidern wie damals im Herbst, als sie bei uns eingetreten war.
Schluchzend fiel ich ihr um den Hals:
»Sei nicht bös! Ich war schuld – ich ganz allein! Du armes, armes Ding!«
Die Leute, die durch den Morgennebel an uns vorbeischritten, sahen erstaunt auf.
»Es ist ja alles wieder gut,« sagte sie und atmete tief. »Aber in Wien kann ich nicht mehr bleiben. Für mich ists am besten, ich fahre heim – und für dich auch.«
Es war das einzige Mal, daß sie du zu mir sagte.
Schweigend fügte ich mich dieser ruhigen, stillen Sicherheit. Der Blick ihrer Augen haftete fest an seinem Ziel, auch wenn er durch Tränen verdunkelt war.
Wir standen auf dem Perron.
Sie drückte mir noch einmal die Hand und sah mir ins Gesicht, lange, lange. als wollte sie sich meine Züge recht fest 103 einprägen; und dann stieg sie in den Wagen und drehte sich nicht mehr nach mir um.
Und der Zug, der sie zurückführte in ihre Welt, verschwand im Nebel.
* * *
Die Mutter hat nie mehr über die Sache gesprochen und kein Wort des Vorwurfs zu mir gesagt.
In reifen Mannesjahren, als mein Urteil über Menschen und Dinge klar und ruhig ward, habe ich sie um ihrer Pflichttreue willen geachtet und verehrt und an ihrem Sarg flossen meine aufrichtigen Tränen.
Aber das hat sie nie erfahren, daß sie damals mit jenem Mädchen ein Stück meiner Liebe zu ihr aus meinem Herzen gerissen hat, das ihr verloren war für immer.
Fünfzehn Jahre später führten mich Berufsgeschäfte in ein Dorf unweit St. Michael. Ich wußte, daß sie dort verheiratet war.
Mit sonderbaren Empfindungen trat ich über die Schwelle des kleinen Gasthauses, das ihrem Mann gehörte. Der dumpfige Geruch des schlecht gelüfteten Raumes betäubte mich. Ein zwölfjähriges Mädel kam mir entgegen und fragte nach meinen Wünschen.
Ich bestellte ein Glas Wein.
Fliegen summten durch die niedrige Gaststube. Der Herrgottswinkel mit dem verstaubten Kruzifix, die kurzen roten Vorhänge, die nackten Bauerntische mit den Weinringen auf der Platte – alles wie in tausend anderen Dorfwirtshäusern.
Der Wein war herb und sauer. Das Mädel stand an der Kredenz und wischte mit seiner blauen Schürze an einem Teller herum.
»Wo ist denn die Mutter?« 104
»Sie hilft dem Vater am Feld, Heu heimführen. Soll ich sie rufen?«
»N – nein.«
Ich kam mir plötzlich lächerlich vor. Welche dumme Kindheitserinnerung lockte mich in diese kleine Alltagswelt hinein?
Nachdenklich ging ich im Zimmer auf und nieder. Die weißen, im prallen Sonnenlicht glühenden Häuser der Straße schienen ausgestorben – das ganze Dorf war draußen bei der Heuernte.
Ich kam an einer angelehnten Tür vorbei. Neugierig warf ich einen Blick durch die Spalte.
Das Schlafzimmer der Wirtsleute; Öldruckbilder von Heiligen, Weihbrunnkessel, Palmzweige über den Betten.
Und dort – täuschten mich meine Augen?
Da hing der kleine Spiegel mit seinem weißen Rahmen, von einem Rosenkranz umgeben, neben dem Bett der Frau – der Spiegel, den ich der Mariedl damals geschenkt.
Ich hatte geglaubt, das Leben habe längst jede Spur von Sentimentalität aus mir herausgeätzt – und nun spürte ich doch ein seltsames Kribbeln in der Herzgegend.
Ein kurzer Kampf mit mir selbst – dann rief ich entschlossen das Mädel, zahlte meinen Wein und ging ohne mich umzusehen fort.
Es war ein tiefer, voller Akkord in mir, ein Dreiklang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Warum jetzt eine Dissonanz hereinbringen, ein ödes Gespräch im Beisein eines fremden Menschen, der zufällig ihr Mann war?
Ich schritt zwischen den Häusern hindurch, den Abhang hinauf, wo die Kirche mit ihrem spitzen Turm lag; da blieb ich stehen, sog das Bild des friedlichen Dorfes und den Duft 105 der Heuwiesen in mich und wandte mich wieder meinem Leben zu, Feiertagsstille im Herzen.
So ist mir damals geschehen, als die Liebe zum erstenmal zu mir kam.
Und wenn ich später in all den vielen Frauen, die meinen Lebensweg kreuzten, immer das Weib geachtet habe, so danke ich das jenem armen, kleinen Mädel; und ich wünschte jedem Werdenden in den wilden Jahren des Reisens eine solche Lehrmeisterin der Liebe.