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Nun begann eine elende Zeit für Frédéric. Er wurde Parasit des Hauses.
War jemand unwohl, so kam er dreimal des Tages, um sich zu erkundigen, ging zum Klavierstimmer, erfand tausend Vorwände, und ertrug mit ergebener Miene die Neckereien Mademoiselle Marthes und die Liebkosungen des kleinen Eugène, der ihm immer mit seinen schmutzigen Händen ins Gesicht fuhr. Er nahm an Mahlzeiten teil, bei denen die beiden Gatten, ohne ein Wort zu wechseln, einander gegenübersaßen oder Arnoux seine Frau durch abgeschmackte Bemerkungen reizte. Nach der Mahlzeit spielte er im Wohnzimmer mit seinem Sohn, versteckte sich hinter den Möbeln oder trug ihn auf allen Vieren kriechend auf dem Rücken. Endlich ging er; und sie begann sofort mit ewig derselben Klage: Arnoux.
Es war nicht sein ungehöriges Benehmen, das sie verletzte, aber sie schien in ihrem Stolz zu leiden und zeigte ihren Widerwillen gegen diesen Mann ohne Zartgefühl, ohne Würde, ohne Ehre.
»Oder er ist vielmehr ein Narr!« sagte sie.
Frédéric entlockte ihr geschickt ihre Bekenntnisse. Bald kannte er ihr ganzes Leben.
Ihre Eltern waren kleine Bürgersleute in Chartres. Eines Tages, als Arnoux am Ufer des Flusses zeichnete (er hielt sich damals für einen Maler), hatte er sie bemerkt, als sie aus der Kirche kam, und um sie geworben; seines Vermögens wegen hatte man nicht gezögert. Übrigens liebte er sie glühend. Sie fügte hinzu:
»Mein Gott, er liebt mich noch! auf seine Weise!«
Sie waren die beiden ersten Monate in Italien gereist. Arnoux hatte trotz seiner Begeisterung für die Landschaft und die Meisterwerke nichts getan, als über den Wein geschimpft und, um sich zu zerstreuen, mit Engländern Picknicks veranstaltet. Einige gut wiederverkaufte Bilder hatten ihn in den Kunsthandel getrieben. Dann hatte er sich auf eine Fabrikation von Fayencen eingelassen. Augenblicklich lockten ihn noch andere Spekulationen, und er wurde immer gewöhnlicher und nahm kostspieligere und gröbere Gewohnheiten dabei an. Sie habe ihm weniger seine Laster als seine Handlungsweise vorzuwerfen. Eine Änderung sei bei ihm unmöglich und ihr Unglück unabwendbar.
Frédéric versicherte, daß seine Existenz ebenfalls eine verfehlte sei.
Er wäre doch noch sehr jung. Warum verzweifeln? Und sie gab ihm gute Ratschläge: »Arbeiten Sie! Heiraten Sie!« Er antwortete mit einem bittern Lächeln; denn anstatt den wahren Grund seines Kummers zu gestehen, heuchelte er einen andern, erhabenen, spielte ein wenig den Werther, den Abgestoßenen, – was übrigens seinem Gedankengang nicht ganz widersprach.
Für gewisse Menschen ist der Entschluß um so unausführbarer, je stärker das Verlangen ist. Das Mißtrauen gegen sich selbst setzt sie in Verlegenheit, die Furcht zu mißfallen erschreckt sie; übrigens gleichen tiefe Neigungen den anständigen Frauen: sie fürchten sich, entdeckt zu werden, und gehen gesenkten Blicks durchs Leben.
Obwohl er mit Madame Arnoux nun vertrauter stand (vielleicht aus diesem Grunde), war er noch feiger als vorher. Jeden Morgen schwor er sich, kühn zu sein. Eine unbewegliche Scheu hinderte ihn daran; und er konnte sich nach seinem Vorbild richten, da sie sich von allen andern unterschied. Kraft seiner Träume hatte er sie über alles Menschliche hinausgehoben. Er fühlte sich neben ihr unbedeutender auf Erden als die Seidenschnipsel, die ihrer Schere entfielen.
Nun kam er auf absurde, ungeheuerliche Dinge, wie daß er sie nachts mit narkotischen Mitteln und falschen Schlüsseln überraschen werde – alles schien ihm leichter, als sich ihrer Geringschätzung auszusetzen.
Überdies bildeten die Kinder, die beiden Dienstmädchen, die Anordnung der Zimmer unübersteigliche Hindernisse. Er mußte also, um sie für sich allein zu besitzen, fern, in der Einsamkeit mit ihr leben; er überlegte sogar, welcher See blau genug, welch Gestade mild genug wäre, ob es Spanien, die Schweiz oder der Orient sein sollte; und indem er gerade die Tage wählte, an denen sie besonders erregt war, sagte er ihr, daß sie da heraus müsse, ein Mittel ersinnen, und daß er kein anderes als das der Scheidung sehe. Aus Liebe zu ihren Kindern, sagte sie, würde sie niemals zu einem solchen verzweifelten Entschluß kommen. Soviel Tugend erhöhte noch seine Achtung.
Seine Nachmittage vergingen mit der Erinnerung an den Besuch des vorigen Abends und dem Verlangen nach dem nächsten. Wenn er nicht mit ihnen speiste, stellte er sich gegen neun an die Straßenecke, und sobald Arnoux die Haustür geschlossen hatte, stieg er schnell die beiden Stockwerke hinauf und fragte das Mädchen mit unbefangener Miene:
»Ist der Herr zu Haus?«
Dann stellte er sich überrascht, ihn nicht zu treffen.
Oft kehrte Arnoux unvorhergesehen zurück. Dann mußte er ihn in ein kleines Cafe in der Rue Sainte Anne begleiten, wo Regimbart jetzt verkehrte.
Der Citoyen begann damit, eine neue Beschwerde gegen die Krone vorzubringen. Dann plauderten sie, indem sie sich freundschaftlich Grobheiten sagten; der Fabrikant hielt Regimbart für einen Denker von hohem Range, er bedauerte, so viel Begabung verloren zu sehen, und warf ihm seine Faulheit vor. Der Citoyen sah in Arnoux einen Mann von Herz und Phantasie, fand ihn aber viel zu unmoralisch; er behandelte ihn auch ohne jede Nachsicht und weigerte sich selbst bei ihm zu speisen, weil »die Zeremonie ihn langweile«.
Zuweilen, im Moment des Abschieds, wurde Arnoux von einem Heißhunger befallen. Er »mußte« eine Omelette oder Bratäpfel essen; und da die Speisen in dem Lokal niemals zu haben waren, ließ er sie holen. Man wartete darauf. Regimbart ging nicht fort und aß auch schließlich brummend.
Aber er war verstimmt und saß oft stundenlang mit demselben halbgefüllten Glas vor sich. Da die Vorsehung die Dinge keinesfalls nach seinen Ideen lenkte, wurde er zum Hypochonder, wollte nicht einmal mehr die Zeitungen lesen und geriet bei dem bloßen Namen England in Wut.
Bei einer Gelegenheit, als der Kellner ihn schlecht bediente, rief er aus:
»Haben wir nicht schon genug Kränkungen durch das Ausland!«
Abgesehen von diesen Anfällen verhielt er sich schweigend und dachte über einen unfehlbaren Coup nach, »die ganze Bude in die Luft zu sprengen«.
Während er in Nachdenken vertieft war, erzählte Arnoux mit monotoner Stimme und etwas verglasten Augen unglaubliche Anekdoten, in denen er dank seines sichern Auftretens immer geglänzt hatte, und Frédéric empfand (ohne Zweifel infolge großer Ähnlichkeit) eine gewisse Begeisterung für seine Person. Er machte sich Vorwürfe über diese Schwäche, da er ihn im Gegenteil doch hätte hassen müssen.
Arnoux beklagte sich bei ihm über die Stimmung seiner Frau, ihren Eigensinn, ihre ungerechten Beschuldigungen. Sie wäre früher nicht so gewesen.
»An Ihrer Stelle«, sagte Frédéric, »würde ich ihr eine Pension aussetzen und allein leben.«
Arnoux erwiderte nichts und fing einen Augenblick später an, sie zu loben. Sie wäre gut, aufopfernd, intelligent, tugendhaft; und auf ihre körperlichen Vorzüge übergehend, erging er sich in Enthüllungen mit einer Unbesonnenheit wie Leute, die ihre Schätze in den Herbergen ausbreiten.
Eine Katastrophe brachte ihn aus dem Gleichgewicht.
Er war als Mitglied des Aufsichtsrats in eine Koalin-Gesellschaft eingetreten. Da er sich auf alles verließ, was man ihm sagte, hatte er ungenaue Berichte unterzeichnet und ohne Prüfung die jährlichen Inventuren, die ein betrügerischer Geschäftsführer aufgestellt hatte, gutgeheißen. Nun aber war die Gesellschaft eingegangen, und Arnoux, nach bürgerlichem Recht verantwortlich, war eben zusammen mit den anderen zum Schadenersatz mit Zinsen verurteilt worden, was für ihn einen Verlust von ungefähr dreißigtausend Francs bedeutete, durch die Begründung des Urteils noch verschärft.
Frédéric las dies in einer Zeitung und stürzte in die Rue de Paradies.
Er wurde in dem Zimmer von Madame Arnoux empfangen. Es war zur Zeit des ersten Frühstücks. Kaffeeschalen standen unordentlich auf einem Tischchen neben dem Kamin. Niedergetretene Schuhe lagen auf dem Teppich umher, Kleider auf den Sesseln. Arnoux, in Unterhosen und Trikotweste, hatte rote Augen und zerzaustes Haar, der kleine Eugène, der den Ziegenpeter hatte, weinte und knabberte dabei doch an seiner Brotschnitte; seine Schwester aß gelassen; Madame Arnoux, ein wenig bleicher als sonst, bediente alle drei.
»Nun,« sagte Arnoux und stieß einen tiefen Seufzer aus, »Sie wissen wohl schon?« Und als Frédéric eine Gebärde des Mitgefühls gemacht: »Da sehen Sie's! Ich war ein Opfer meiner Leichtgläubigkeit!«
Dann schwieg er; und seine Niedergeschlagenheit war stark, daß er das Frühstück zurückwies. Madame Arnoux blickte mit einem Achselzucken auf. Er strich sich mit der Hand über die Stirn.
»Schließlich bin ich nicht schuldig. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Es ist ein Unglück! Man muß es abschütteln. Mein Gott! Ich kann mir nicht helfen!«
Und den Bitten seiner Frau nachgebend, schnitt er eine Butterstulle an.
Abends wollte er allein mit ihr im Chambre-separée des Maison d'or speisen. Madame Arnoux hatte durchaus kein Verständnis für diese Herzensregung und verbat es sich, wie eine Lorette behandelt zu werden; obwohl es von Arnoux im Gegenteil als ein Beweis von Zärtlichkeit gemeint war. Dann ging er, da er sich langweilte, zur Marschallin, um sich zu zerstreuen.
Bisher hatte man ihm dank seinem gutmütigen Charakter vieles durchgehen lassen. Sein Prozeß stellte ihn auf eine Stufe mit anrüchigen Leuten. Sein Haus wurde gemieden.
Frédéric meinte sie anstandshalber öfter besuchen zu müssen als zuvor. Er mietete eine Parterreloge in der Italienischen Oper und führte sie jede Woche dorthin. Jedoch befanden sie sich in jener Periode zerstörter Ehen, wo eine unüberwindliche Gleichgültigkeit durch die Zugeständnisse entsteht, die man sich gegenseitig gemacht hat, und das Dasein unerträglich wird. Madame Arnoux hielt sich zurück, um nicht in Tränen auszubrechen, und Arnoux war verstimmt; der Anblick dieser beiden Unglücklichen betrübte Frédéric.
Da er ihr Vertrauen besaß, hatte sie ihn beauftragt, über ihre Angelegenheit Erkundigungen einzuziehen. Aber er schämte sich, er litt darunter, Arnoux' Diners anzunehmen, während er seine Frau begehrte. Nichtsdestoweniger tat er es, indem er sich damit entschuldigte, sie beschützen zu müssen, und daß sich eine Gelegenheit bieten könne, ihr nützlich zu sein.
Acht Tage nach dem Ball hatte er Monsieur Dambreuse seinen Besuch gemacht. Der Finanzier hatte ihm zwanzig Aktien seines Kohlen-Unternehmens angeboten. Frédéric war nicht wieder hingegangen. Deslauriers schrieb ihm mehrere Briefe; er ließ sie unbeantwortet. Pellerin hatte ihn mehrere Male aufgefordert, das Porträt anzusehen, er schlug es immer ab. Aber Cisy, der ihn bestürmte, ihn mit Rosanette bekannt zu machen, gab er nach.
Sie empfing ihn sehr liebenswürdig, jedoch ohne ihm um den Hals zu fallen wie sonst. Sein Begleiter war glücklich, bei einer Verworfenen Zutritt zu haben und zugleich mit einem Schauspieler plaudern zu können, denn Delmar war gerade bei ihr.
Ein Drama, in dem er einen Bauern dargestellt hatte, der Ludwig XIV. gute Lehren gibt und 89 prophezeit, hatte ihn so in den Vordergrund gerückt, daß man nun immer dieselbe Rolle für ihn fabrizierte; und seine Aufgabe bestand jetzt darin, die Monarchen aller Länder zu verhöhnen. Als englischer Bierwirt schmähte er Karl I., verfluchte als Student von Salamanka Philipp II. oder entrüstete sich als gefühlvoller Vater über die Pompadour, das war das schönste! Die Gassenbuben erwarteten ihn am Ausgang der Bühne, um ihn zu sehen, und seine Biographie, die in den Zwischenakten verkauft wurde, schilderte ihn, wie er seine alte Mutter pflegte, das Evangelium las, den Armen beistand, kurz, in der Beleuchtung eines heiligen Vincent de Paul, vermischt mit Brutus und Mirabeau. Man sagte: »Unser Delmar.« Er hatte eine Mission, er wurde ein Christus.
Alles das hatte Rosanette geblendet; und sie hatte sich, da sie nicht habsüchtig war, von dem alten Oudry befreit, ohne sich die geringste Sorge zu machen.
Arnoux, der sie kannte, hatte es sich lange Zeit zunutze gemacht, um sie ohne große Kosten zu unterhalten. Dann war der alte Mann gekommen, und sie trugen alle drei Sorge, nicht zu offen gegen ihn zu sein. Darauf hatte Arnoux, indem er sich einbildete, daß sie den andern nur um seinetwillen verabschiedet hatte, die Pension erhöht. Aber ihre Forderungen erneuten sich mit einer unerklärlichen Häufigkeit, denn sie führte eine viel weniger kostspielige Lebensweise; sie hatte sogar den Kaschmirschal verkauft, um sich von alten Schulden zu befreien, wie sie sagte; und er gab immer wieder, sie bestrickte ihn, nutzte ihn mitleidlos aus. Rechnungen und gestempelte Papiere regneten ihm ins Haus. Frédéric ahnte eine nahe Krise.
Eines Tages kam er, um Madame Arnoux zu besuchen. Sie war ausgegangen! Arnoux arbeitete unten im Magazin.
In der Tat versuchte Arnoux mitten unter seinen Porzellangefäßen Neuvermählten, Bürgersleuten aus der Provinz, etwas aufzuschwatzen. Er sprach von Drehen und Drechseln, vom Tupfen und von Glasur; die anderen, die nicht verraten wollten, daß sie nichts davon verstanden, stimmten allem zu und kauften.
Als die Kunden draußen waren, erzählte er, daß er morgens mit seiner Frau eine kleine Auseinandersetzung gehabt habe. Um ihren Bemerkungen über seine Ausgaben zuvorzukommen, hatte er versichert, daß die Marschallin nicht mehr seine Geliebte sei.
»Ich habe ihr sogar gesagt, daß sie die Ihre wäre.«
Frédéric war entrüstet, da aber Vorwürfe ihn verraten konnten, stammelte er:
»Das war unrecht von Ihnen, sehr unrecht!«
»Was tut das?« sagte Arnoux. »Seit wann ist es eine Schande, als ihr Liebhaber zu gelten? Ich bin es doch, ich! Würden Sie sich nicht geschmeichelt fühlen, es zu sein?«
Hatte sie es verraten? War das eine Anspielung?
Frédéric beeilte sich, zu erwidern:
»Nein! durchaus nicht! im Gegenteil!«
»Nun, also?«
»Ja, es ist wahr; es macht nichts.«
Arnoux fuhr fort:
»Warum kommen Sie nicht mehr hin?«
Frédéric versprach, es wieder zu tun.
»Ah! ich vergaß! Sie müssen... indem Sie von Rosanette sprechen... meiner Frau gegenüber ein Wort fallen lassen... ich weiß nicht wie, aber Sie werden schon etwas finden... etwas, sie zu überzeugen, daß Sie ihr Liebhaber sind. Ich bitte Sie um diesen Dienst, ja?«
Der junge Mann machte statt jeder Antwort eine unbestimmte Geberde. Durch diese Verleumdung war er verloren. Er ging noch am selben Abend zu ihr und beteuerte, daß Arnoux' Angaben falsch wären.
»Wirklich?«
Er schien aufrichtig zu sein; und nach einem tiefen Seufzer sagte sie mit reizendem Lächeln: »Ich glaube Ihnen,« dann senkte sie den Kopf, und fügte hinzu, ohne ihn anzusehen:
»Übrigens, niemand hat ein Recht auf Sie!«
Sie ahnte also nichts und verachtete ihn, da sie nicht glaubte, daß er sie genug lieben könnte, um ihr treu zu bleiben! Frédéric, der seine Versuche der andern gegenüber vergessen hatte, fand diese Billigung kränkend.
Dann bat sie ihn, zuweilen »zu dieser Frau« zu gehen, um zu sehen, wer dort war.
Arnoux kam herein und wollte ihn fünf Minuten später zu Rosanette mitschleppen.
Die Situation wurde unerträglich.
Ein Brief von seinem Notar, der ihm am nächsten Morgen fünfzehntausend Francs schicken sollte, lenkte ihn davon ab; und um seine Nachlässigkeit Deslauriers gegenüber wieder gut zu machen, ging er zu ihm, um ihm diese gute Nachricht mitzuteilen.
Der Advokat wohnte Rue des Trois-Maries, im fünften Stockwerk nach dem Hof. Seine Kammer, ein viereckiger, kalter Raum mit graufarbener Tapete, hatte als Hauptschmuck eine goldene Medaille, sein Doktordiplom, in einem Ebenholzrahmen vor dem Spiegel. Ein Mahagonibücherschrank barg hinter Glasscheiben etwa hundert Bände. Der Schreibtisch, mit braunem Leder bezogen, nahm die Mitte des Zimmers ein. Vier alte grüne Samtsessel standen in den Ecken; und es flammten Späne im Kamin, wo immer ein Reisigbündel bereit lag, um beim Klang der Glocke angezündet zu werden. Es war seine Sprechstunde; der Advokat trug eine weiße Krawatte.
Bei der Ankündigung der fünfzehntausend Francs (er hatte zweifellos nicht mehr darauf gerechnet) grinste er vor Vergnügen.
»Das ist schön, mein Lieber, das ist schön, sehr schön!« Er warf Holz ins Feuer, setzte sich wieder und sprach sofort von der Zeitung. Vor allen Dingen müßte man suchen, Hussonnet loszuwerden. – »Dieser Kretin langweilt mich! Wenn es gilt, eine Meinung zu vertreten, ist es meiner Ansicht nach das beste und klügste, gar keine zu haben.«
Frédéric schien verwundert.
»Aber in allem Ernst. Es ist Zeit, die Politik wissenschaftlich zu behandeln. Die Alten des XVIII. Jahrhunderts begannen damit, als Rousseau und die Literaten zur großen Freude der Katholiken die Philanthropie, die Poesie und anderes unnützes Zeug hineingebracht hatten; eine natürliche Mischung übrigens, da die modernen Reformatoren (ich kann es beweisen) alle an die Offenbarung glauben. Aber singt ihr Messen für die Polen, nehmt ihr an Stelle des Gottes der Dominikaner, der ein Henker war, den Gott der Romantiker, der ein Tapezierer ist, habt ihr endlich keine größere Vorstellung vom Absoluten als eure Vorfahren, so wird die Monarchie unter euren republikanischen Formen durchdringen, und eure rote Mütze wird nie etwas anderes sein als eine Priesterkappe! Nur wird die Einzelhaft die Folter, die Beschimpfung der Religion ihre Entheiligung, das europäische Konzert die Heilige Allianz ersetzt haben, und in diesem schönen Zustand, den man bewundert, aus Trümmern der Zeit Ludwigs XIV. und Voltaires entstanden, mit kaiserlichem Kitt und Fragmenten der englischen Verfassung übertüncht, wird man die Munizipalräte versuchen sehen, den Maire zu chikanieren, die Generalräte ihren Präfekten, die Kammern den König, die Presse den Staat und die Verwaltung alle Welt! Aber die guten Seelen sind ja begeistert von dem bürgerlichen Gesetzbuch, ein Werk, das, wie man sagt, in einem kleinlich tyrannischen Geiste verfaßt ist, denn anstatt seine Aufgabe zu erfüllen, was so viel bedeutet, wie die Sitten zu regeln, hat der Gesetzgeber behauptet, die Gesellschaft zu modeln wie ein Lykurg! Warum beschränkt das Gesetz den Familienvater in Testamentsangelegenheiten? Warum hindert es Zwangsverkauf von Grund und Boden? Warum straft es die Landstreicherei, die nicht einmal eine Übertretung sein sollte, als Vergehen? Und anderes mehr! Ich kenne das! ich werde aber nun auch einen kleinen Roman mit dem Titel »Geschichte des Rechtsbegriffs« schreiben, der spaßhaft sein wird! Aber ich habe einen schauderhaften Durst! und du?«
Er beugte sich aus dem Fenster und rief dem Hausmeister zu, er solle Grog aus dem Wirtshaus holen.
»Kurz, ich sehe drei Parteien ... nein! drei Gruppen, – von denen keine mich interessiert: die etwas haben, die nichts mehr haben, und die versuchen, etwas zu haben. Aber alle stimmen in der einfältigen Vergötterung der Autorität überein! Beispiele: Mably empfiehlt, die Philosophen an der Veröffentlichung ihrer Lehrsätze zu verhindern. M. Wronsky, Professor der Geometrie, nennt die Zensur in seiner Sprache ›kritische Unterdrückung der spekulativen Willkür‹; der alte Enfantin segnet die Habsburger dafür, ›eine wuchtige Hand über die Alpen ausgestreckt zu haben, um Italien im Zaume zu halten‹; Pierre Leroux will, daß man euch zwinge, einen Redner anzuhören, und Louis Blanc neigt zu einer Staatsreligion, eine solche Sucht, beherrscht zu werden, hat dieses Volk von Vasallen! Indessen ist nicht einer gerecht, trotz all ihren Prinzipien. Aber da Prinzip Ursprung bedeutet, muß man immer wieder eine Revolution ins Auge fassen, einen Gewaltakt, eine durchgreifende Tat. So ist unser Prinzip die Volkssouveränität in parlamentarischer Form, obwohl das Parlament es nicht einräumt! Aber wodurch wird die Souveränität des Volkes heiliger als das göttliche Recht? Eins wie das andere sind schließlich Fiktionen!! Genug von Metaphysik, keine Phantome mehr! Es sind keine Dogmen nötig, um die Straßen kehren zu lassen. Man wird sagen, ich stürze die Gesellschaft! Meinetwegen! Wo steckt denn das Übel? Sie ist wirklich sauber, deine Gesellschaft!«
Frédéric hätte ihm vielerlei darauf erwidern können. Aber da er ihn weitab von Sénécals Theorien sah, war er voll Nachsicht. Er begnügte sich damit, zu entgegnen, daß ein solches System allgemeinen Haß hervorrufen würde.
»Im Gegenteil, da wir jeder Partei einen Grund des Hasses gegen ihren Nachbarn gegeben hätten, würden alle zu uns stehen. Auch du wirst dich daran beteiligen und uns überlegene Kritiken liefern.«
Es müßten die überlieferten Ideen angegriffen werden, die Akademie, die Normalschule, das Konservatorium, die Comédie-Française, alles, was einer Institution glich. Damit würden sie ihrer Revue eine einheitliche Richtung geben. Dann, wenn sie erst sehr gut eingeführt sein wird, müßte das Blatt plötzlich täglich erscheinen und sich mit Persönlichkeiten beschäftigen.
»Und man wird uns respektieren, verlaß dich darauf!«
Deslauriers kam auf seinen alten Traum zurück. Chef einer Redaktion, das heißt das unaussprechliche Glück, andere zu leiten, ihre Artikel nach Belieben zu beschneiden, sie zu bestellen, sie abzulehnen. Seine Augen funkelten hinter der Brille, er ereiferte sich und goß mechanisch ein Glas nach dem andern hinunter.
»Du mußt einmal wöchentlich ein Diner geben. Das ist unerläßlich, selbst wenn die Hälfte deiner Einnahmen daraufgeht! Man wird sich dazu drängen, es wird ein Mittelpunkt für die anderen, ein Hebel für dich sein; und wenn wir in jeder Hinsicht die Führung haben, werden wir, ehe sechs Monate um sind, was Literatur und Politik betrifft, in Paris an der Spitze stehen, das wirst du sehen.«
Frédéric überkam beim Zuhören ein Gefühl von Verjüngung; ihm war zumute wie jemand, der nach langem Aufenthalt im Zimmer ins Freie gebracht wird. Dieser Enthusiasmus nahm ihn gefangen.
»Ja, ich bin ein Faulenzer gewesen, ein Narr, du hast recht!«
»Gott sei Dank!« rief Deslauriers; »nun erkenne ich meinen Frédéric wieder!«
Er hielt ihm die Faust unters Kinn:
»Ah! wie ich durch dich gelitten habe! Aber schadet nichts! ich hab dich doch lieb.«
Sie standen da und sahen einander an, beide gerührt und nahe daran, sich zu küssen, als ein Frauenhut auf der Schwelle des Vorzimmers erschien.
»Was führt dich her?« sagte Deslauriers.
Es war Mademoiselle Clémence, seine Geliebte.
Sie antwortete, daß sie beim zufälligen Vorübergehen an seiner Wohnung dem Wunsch, ihn wiederzusehen, nicht habe widerstehen können; und um gemeinsam einen kleinen Imbiß zu nehmen, bringe sie Kuchen für ihn mit, die sie auf den Tisch legte.
»Gib acht auf meine Papiere!« rief der Advokat barsch. »Übrigens ist es das dritte Mal, daß ich dir verbiete, während meiner Sprechzeit zu kommen.«
Sie wollte ihn küssen.
»Laß das! Geh! fort mit dir!«
Er stieß sie zurück, sie seufzte tief.
»Ach, du langweilst mich, mach ein Ende!«
»Ich liebe dich doch!«
»Ich verlange nicht, daß man mich liebt, sondern daß man mir gehorcht!«
Bei diesen harten Worten versiegten Clémences Tränen. Sie stellte sich ans Fenster und blieb dort reglos stehen, die Stirn an die Scheibe gedrückt.
Ihre Haltung und ihr Schweigen reizten Deslauriers.
»Wenn du fertig bist, bestellst du einen Wagen, nicht wahr?«
Sie wandte sich auffahrend um:
»Du schickst mich fort?«
»Allerdings!«
Sie heftete ihre großen blauen Augen auf ihn; es war offenbar eine letzte Bitte, schlug dann die beiden Enden ihres schottischen Tuches übereinander, wartete noch eine Minute und ging.
»Du solltest sie zurückrufen,« sagte Frédéric.
»Laß uns gehen!«
Und da er gern fort wollte, ging Deslauriers in die Küche, die sein Toilettenzimmer war. Er hatte dort auf den Fliesen neben einem Paar Stiefel die Reste eines mageren Frühstücks stehen, und eine Matratze war mit einer Decke in einem Winkel auf der Erde zusammengerollt.
»Dies hier beweist,« sagte er, »daß ich keine Marquisen empfange! Man verzichtet leicht darauf, weißt du! und auf die andern auch. Die nichts kosten, nehmen einem Zeit, das ist Geld in einer andern Form, und ich bin nicht reich! Und dann sind sie alle so dumm! so dumm! Kannst du dich mit einer Frau unterhalten?«
Sie trennten sich an der Ecke des Pont Neuf.
»Also, abgemacht! du bringst es mir morgen, sobald du es hast!«
»Abgemacht!« sagte Frédéric.
Am folgenden Morgen erhielt er beim Erwachen durch die Post einen Scheck von fünfzehntausend Francs auf die Bank.
Dieser Papierfetzen repräsentierte für ihn fünfzehn dicke Geldbeutel; und er sagte sich, daß er mit einer solchen Summe: erstens seinen Wagen auf drei Jahre behalten könnte, anstatt ihn zu verkaufen, wozu er künftig gezwungen sein würde, oder sich zwei schöne damaszierte Rüstungen kaufen, die er am Quai Voltaire gesehen hatte, dann noch eine Anzahl anderer Dinge, Gemälde, Bücher und wie viele Blumensträuße und Geschenke für Madame Arnoux! Alles schließlich schien ihm besser, als so viel Geld aufs Spiel zu setzen oder an dieser Zeitung zu verlieren! Deslauriers erschien ihm anmaßend, seine Gefühllosigkeit am vorigen Tage kühlte ihn gegen ihn ab, und Frédéric überließ sich seiner Reue, als er zu seiner Überraschung Arnoux eintreten sah, – der sich bedrückt wie ein mutloser Mensch auf den Rand seines Lagers setzte.
»Was gibt's denn?«
»Ich bin verloren!«
Er sollte am nämlichen Tage im Büro Beauminets, Notar in der Rue Saint-Anne, achtzehntausend Francs einzahlen, die er von einem gewissen Vanneroy geliehen hatte.
»Es ist ein unerklärliches Mißgeschick! Ich habe ihm eine Hypothek gegeben, die ihn hätte beruhigen können! Aber er droht mir mit einer Klage, wenn ich es nicht sogleich heute nachmittag zahle!«
»Und dann?«
»Dann, nun das ist sehr einfach. Er wird meine Grundstücke expropriieren. Sobald es bekannt wird, bin ich ruiniert, das ist alles! Ah! wenn ich jemand fände, der mir diese verwünschte Summe vorschießen könnte, er nähme die Stelle von Banneroy ein, und ich wäre gerettet! Sie könnten es zufällig nicht?«
Der Scheck war auf dem Nachttisch neben seinem Buche liegen geblieben. Frédéric hob den Band auf, legte ihn darauf und erwiderte:
»Mein Gott, nein, lieber Freund!«
Aber es wurde ihm schwer, es Arnoux abzuschlagen.
»Finden Sie denn niemand, der ...?«
»Niemand! und wenn man bedenkt, daß ich heute in acht Tagen Zahlungen erwarte! Man schuldet mir etwa ... fünfzigtausend Francs bis Ende des Monats!«
»Könnten Sie Ihre Schuldner nicht bitten, das Geld vorzustrecken ...?«
»Ach, was glauben Sie!«
»Aber Sie haben doch wohl irgendwelche Werte, Wechsel?«
»Nichts!«
»Was ist da zu tun?« sagte Frédéric.
»Das frage ich mich eben,« fuhr Arnoux fort.
Er verstummte und ging im Zimmer hin und her.
»Es ist nicht meinetwegen, mein Gott! sondern für meine Kinder, für meine arme Frau!«
Dann fuhr er fort und stieß jedes Wort abgerissen hervor:
»Schließlich ... ich werde stark sein ... ich lasse alles im Stich ... und werde irgendwo mein Glück versuchen ... ich weiß nicht wo!«
»Unmöglich!« rief Frédéric.
Arnoux erklärte ruhig:
»Wie wollen Sie, daß ich jetzt in Paris lebe?«
Es entstand eine lange Pause.
»Wann würden Sie das Geld zurückgeben?« Nicht daß er es hätte; im Gegenteil! Aber es hindere ihn nichts, Freunde aufzusuchen. Schritte zu tun. Und er klingelte seinem Diener, um sich anzukleiden. Arnoux dankte ihm. »Es sind achtzehntausend Francs, die Sie brauchen, nicht wahr?«
»O, ich würde mich mit sechzehntausend begnügen! denn ich werde für mein Silberzeug wohl zweitausendfünfhundert bis dreitausend erhalten können, wenn Vanneroy mir bis morgen Zeit läßt; und ich wiederhole Ihnen, Sie können dem Geldgeber versichern, daß das Geld in acht Tagen, vielleicht sogar in fünf oder sechs Tagen zurückgezahlt wird. Überdies, die Hypothek bürgt dafür. Also keine Gefahr, Sie verstehen?«
Frédéric versicherte, daß er verstehe und sich gleich aufmachen würde.
Er verwünschte Deslauriers und blieb zu Haus, denn er wollte sein Wort halten und doch Arnoux gefällig sein.
»Wenn ich mich an Monsieur Dambreuse wendete? Aber unter welchem Vorwand Geld leihen? Es ist vielmehr an mir, ihm welches für seine Kohlenaktien zu bringen! Ach, mag er seine Aktien behalten! Ich brauche sie nicht!«
Und Frédéric pries seine Unabhängigkeit, als hätte er Monsieur Dambreuse soeben einen Dienst abgeschlagen.
»Also,« sagte er sich endlich, »da ich jetzt hier einen Verlust habe, denn ich könnte mit fünfzehntausend Francs hunderttausend verdienen! An der Börse kommt das zuweilen vor ... Wenn ich es mir nun entgehen lasse, bin ich nicht frei? ... Außerdem, wenn Deslauriers wartete! – Nein, nein, das geht nicht, ich muß hingehen!«
Er sah nach der Uhr.
»Ach, es eilt nicht! Die Bank schließt erst um fünf Uhr.«
Und um halb fünf Uhr, als er sein Geld einkassiert hatte, sagte er sich:
»Jetzt ist es nutzlos! Ich treffe ihn nicht. Ich werde abends hingehen!« Er gab sich so die Möglichkeit, auf seinen Entschluß zurückzukommen, denn es bleibt in unserm Gewissen immer etwas von den Sophismen zurück, die man hineingestreut hat; es behält einen Nachgeschmack davon wie von schlechtem Likör.
Er spazierte auf den Boulevards umher und aß allein im Restaurant. Dann hörte er einen Akt im Vaudeville, um sich zu zerstreuen. Aber seine Banknoten genierten ihn, als hätte er sie gestohlen. Es würde ihn nicht bekümmert haben, wenn er sie verloren hätte.
Als er nach Haus zurückkehrte, fand er einen Brief, der diese Worte enthielt:
»Wie steht es?
»Meine Frau schließt sich mir in der Hoffnung an, usw.
Ihr«
Dann ein Schnörkel als Namenszug.
»Seine Frau! sie bittet mich!«
Im selben Augenblick erschien Arnoux, um zu hören, ob er die notwendige Summe erhalten.
»Hier ist sie!« sagte Frédéric.
Und vierundzwanzig Stunden später sagte er zu Deslauriers:
»Ich habe noch nichts bekommen!«
Der Advokat kam drei Tage hintereinander zu ihm. Er drang in ihn, an den Notar zu schreiben, er bot sich sogar an, die Reise nach Havre zu machen.
»Nein, das ist unnötig! ich will selber hin!«
Am Ende der Woche erinnerte Frédéric Arnoux schüchtern an seine fünfzehntausend Francs.
Arnoux vertröstete ihn auf morgen, dann auf übermorgen. Frédéric wagte sich erst bei hereinbrechender Nacht hinaus, weil er fürchtete, von Deslauriers überrascht zu werden.
Eines Abends stieß ihn jemand an der Ecke der Madeleine an. Er war es.
»Ich gehe es holen,« sagte Frédéric.
Und Deslauriers begleitete ihn bis zur Tür eines Hauses im Faubourg Poissonnière.
»Warte auf mich!«
Er wartete. Endlich, nach dreiundvierzig Minuten, kam Frédéric mit Arnoux heraus und machte ihm ein Zeichen, sich noch etwas zu gedulden. Der Fayencehändler und sein Begleiter gingen Arm in Arm die Rue Hauteville hinauf und bogen dann in die Rue de Chabrol ein.
Die Nacht war dunkel, es wehte ein lauer Wind. Arnoux ging langsam und sprach von den Geschäftsgalerien: einer Reihe von gedeckten Passagen, die vom Boulevard Saint-Denis bis zum Châtelet führen sollten, einer großartigen Spekulation, an der sich zu beteiligen er große Lust hatte; und von Zeit zu Zeit blieb er stehen, um an den Schaufenstern der Läden das Gesicht einer Grisette zu betrachten, dann setzte er seinen Vortrag fort.
Frédéric vernahm die Schritte Deslauriers hinter sich wie Vorwürfe, wie Schläge, die an sein Gewissen pochten. Aber aus falscher Scham und in der Furcht, daß es unnütz sein möchte, wagte er nicht, seine Forderung auszusprechen. Der andere näherte sich. Er entschloß sich zu fragen.
Arnoux sagte leichthin, daß er, da seine Zahlungen nicht eingegangen wären, die fünfzehntausend Francs jetzt nicht wiedergeben könne.
»Sie brauchen sie doch nicht, denke ich?«
In diesem Augenblick sprach Deslauriers Frédéric an und zog ihn beiseite:
»Sag offen, hast du es, ja oder nein?«
»Nun wohl, nein!« sagte Frédéric, »ich habe es verloren.«
»So, und wobei?«
»Im Spiel!«
Deslauriers erwiderte kein Wort, grüßte sehr tief und ging. Arnoux hatte die Gelegenheit benutzt, sich in einem Tabakladen eine Zigarre anzuzünden. Er kam zurück und fragte, wer der junge Mann wäre.
»Ach! ein Freund!«
Dann, drei Minuten später, vor der Tür der Rosanette sagte Arnoux:
»Kommen Sie doch herauf, sie wird sich freuen, Sie zu sehen. Wie menschenscheu Sie jetzt sind!«
Eine Straßenlaterne gegenüber beleuchtete ihn; und mit seiner Zigarre zwischen den weißen Zähnen und der fröhlichen Miene hatte er etwas Unerträgliches.
»Übrigens, mein Notar war heute morgen bei dem Ihrigen, wegen der Überweisung der Hypothek. Meine Frau hatte mich daran erinnert.«
»Eine Frau von Verstand,« sagte Frédéric mechanisch.
»Das will ich meinen!«
Und Arnoux begann wieder ihr Lob zu singen. Sie hätte, was Geist, Herz, Sparsamkeit anbelangte, nicht ihresgleichen; dann fügte er mit leiser Stimme, die Augen rollend, hinzu:
»Und als Frauenkörper!«
»Adieu!« sagte Frédéric.
Arnoux machte eine Bewegung.
»Warten Sie! warum?«
Und ihm die Hand halb entgegenstreckend, ganz verblüfft über sein zorniges Gesicht, blickte er ihn prüfend an.
Frédéric wiederholte trocken:
»Adieu!«
Wie ein Stein, der ins Rollen kommt, schritt er mechanisch die Rue de Bréda hinunter, gebrochen, verzweifelt; und wütend auf Arnoux, tat er das Gelübde, ihn niemals wiederzusehen, auch sie nicht. Anstatt des Bruches, den er erwartet hatte, fing der andere nun an, sie im Gegenteil zärtlich zu lieben, von den Enden ihres Haars bis zum Grunde der Seele. Die Gewöhnlichkeit dieses Mannes empörte ihn. Alles gehörte ja ihm! Er sah ihn wieder vor sich auf der Schwelle zu dem Hause der Lorette, und der Ärger über ihn vereinte sich mit der Wut über seine Ohnmacht. Zudem demütigte ihn Arnoux' Anständigkeit, ihm eine Garantie für sein Geld anzubieten; er hätte ihn erdrosseln mögen; und über seinem Kummer lastete drückend in seinem Gewissen das Gefühl der Feigheit seinem Freunde gegenüber. Tränen erstickten ihn.
Deslauriers kam die Rue des Martyrs herunter und fluchte laut vor Entrüstung; denn sein Projekt erschien ihm jetzt, wie ein umgestürzter Obelisk, von außerordentlicher Größe. Er glaubte sich bestohlen, meinte einen großen Schaden erlitten zu haben. Seine Freundschaft für Frédéric war erloschen, und er empfand Freude darüber; das war ein Ausgleich! Ein Haß gegen die Reichen überkam ihn. Er neigte sich den Ansichten Sénécals zu und nahm sich vor, sich ihrer zu bedienen.
Arnoux saß indessen bequem in einem Lehnsessel am Feuer, schlürfte seine Tasse Tee und hielt die Marschallin auf den Knien.
Frédéric ging nicht wieder zu ihnen; und um sich in seiner unheilvollen Stimmung zu zerstreuen, ergriff er den ersten Stoff, der sich ihm bot, und beschloß, eine Geschichte der Renaissance zu schreiben. Er stapelte auf seinem Tisch Werke der Humanisten, der Philosophen und Dichter auf, alles durcheinander; er ging ins Kupferstichkabinett, die Gravuren Marc-Antons zu sehen; er versuchte, sich in Macchiavel zu vertiefen. Allmählich beruhigte ihn der Friede der Arbeit. Indem er sich in die Persönlichkeit anderer versenkte, vergaß er seine eigene, was vielleicht das einzige Mittel ist, nicht darunter zu leiden.
Eines Tages, als er in Ruhe seine Notizen machte, öffnete sich die Tür und der Diener meldete Madame Arnoux.
Sie war es wirklich! allein? Nein, denn sie hatte den kleinen Eugène an der Hand, von seiner Bonne in einer weißen Schürze begleitet. Sie setzte sich und sagte nach einem Räuspern:
»Es ist lange her, seit Sie nicht mehr in unser Haus gekommen sind.«
Da Frédéric keine Entschuldigung einfiel, fuhr sie fort:
»Sie tun es aus Zartgefühl nicht!«
Er erwiderte:
»Zartgefühl, für wen?«
»Für Arnoux!« sagte sie.
Frédéric machte eine Bewegung, die sagen wollte: »Was kümmert er mich! es geschah für Sie!«
Sie schickte ihr Kind in den Salon, dort mit seiner Bonne zu spielen. Sie wechselten zwei oder drei Worte über ihr Ergehen, dann stockte die Unterhaltung.
Sie trug ein Kleid aus brauner Seide, von der Farbe eines spanischen Weines, und einen schwarzen Samtpaletot mit Marder besetzt; dieses Perlwerk erweckte die Lust, mit der Hand darüber zu streichen, und ihre glatten Scheitel, sie mit den Lippen zu berühren. Aber erregt und verwirrt wandte sie die Augen der Tür zu:
»Es ist hier etwas warm!«
Frédéric verstand die vorsichtige Absicht ihres Blickes.
»Verzeihen Sie! Man braucht die beiden Flügel nur aufzustoßen.«
»Ach, das ist wahr!«
Und sie lächelte, wie um zu sagen: »Ich fürchte nichts.«
Er fragte sie, was sie hergeführt.
»Mein Mann«, erwiderte sie mit Anstrengung, »hat mich aufgefordert, zu Ihnen zu gehen, da er diesen Schritt selbst nicht wagt.«
»Und warum?«
»Sie kennen Monsieur Dambreuse, nicht wahr?«
»Ja, ein wenig!« – Sie schwieg.
»Einerlei! fahren Sie fort!«
Da erzählte sie, daß Arnoux am vorhergehenden Tage vier Wechsel über tausend Francs an die Ordre des Bankiers nicht habe zahlen können, die er von ihr hatte unterzeichnen lassen. Sie bereue, das Vermögen der Kinder aufs Spiel gesetzt zu haben. Aber alles sei besser als die Schande; und wenn Monsieur Dambreuse die Klage zurückziehen würde, könnte er sicher bald bezahlt werden, denn sie sei im Begriff, in Chartres ein kleines Haus zu verkaufen, das sie besaß.
»Arme Frau!« murmelte Frédéric. »Ich gehe zu ihm! rechnen Sie auf mich!«
»Danke!«
Und sie erhob sich, um zu gehen.
»O! Sie haben es doch nicht so eilig!«
Sie blieb stehen, betrachtete die von der Decke herabhängende Trophäe von mongolischen Pfeilen, die Bibliothek, die Einbände, alle Schreibutensilien; sie hob die Bronzeschale in die Höhe, die die Federn enthielt; ihre Sohlen traten auf verschiedene Stellen des Teppichs. Sie war mehrmals bei Frédéric gewesen, aber immer mit Arnoux. Jetzt waren sie allein, – allein in seinem eigenen Hause; – es war ein außerordentliches Ereignis, fast ein unverhoffter Glückszufall.
Sie wollte sein Gärtchen sehen; er bot ihr den Arm, um ihr seinen Besitz zu zeigen, dreißig Fuß Boden, von Häusern eingeschlossen, mit Sträuchern in den Ecken und einem länglichen Blumenbeet in der Mitte geschmückt.
Es waren die ersten Tage des April. Der Flieder wurde schon grün, ein reiner Hauch durchwogte die Luft, und die kleinen Vögel zwitscherten, ihr Gesang wechselte mit dem fernen Geräusch ab, das eine Wagenschmiede verursachte.
Frédéric holte eine Kohlenschaufel, und während sie nebeneinander auf und ab wandelten, schaufelte das Kind Sandhaufen in der Allee.
Madame Arnoux glaubte nicht, daß es später viel Phantasie haben würde, aber es sei zärtlichen Gemüts. Seine Schwester dagegen habe einen angeborenen Starrsinn, der sie zuweilen verletzte.
»Das ändert sich,« sagte Frédéric. »Man muß nie verzagen!«
Sie wiederholte:
»Man muß nie verzagen!«
Diese mechanische Wiederholung seiner Worte schien ihm wie eine Art von Ermutigung; er pflückte eine Rose, die einzige im Garten.
»Erinnern Sie sich ... eines gewissen Rosenstraußes, im Wagen damals?«
Sie errötete ein wenig und sagte im Tone scherzhaften Einverständnisses:
»Ach! ich war damals sehr jung!«
»Und diese Rose,« fuhr Frédéric mit leiser Stimme fort, »wird es ihr ebenso ergehen?«
Sie antwortete, indem sie den Stengel zwischen den Fingern drehte wie den Faden einer Spindel:
»Nein, ich werde sie aufbewahren!«
Sie winkte der Bonne, die das Kind auf den Arm nahm; dann, auf der Türschwelle an der Straße, atmete Madame Arnoux den Duft der Blume ein und neigte den Kopf dabei mit einem Blick auf die Schulter, der süßer war als ein Kuß.
Als er wieder in sein Zimmer kam, betrachtete er den Armstuhl, in dem sie gesessen, und alle Gegenstände, die sie berührt hatte. Ein Hauch ihres Wesens war geblieben. Der Reiz ihrer Gegenwart war noch zu spüren.
»Sie war wirklich hier!« sagte er sich.
Eine unendliche Zärtlichkeit erfüllte ihn.
Am folgenden Tage um elf Uhr fand er sich bei Monsieur Dambreuse ein. Er wurde im Speisezimmer empfangen. Der Bankier frühstückte mit seiner Frau. Ihre Nichte saß neben ihr und an der anderen Seite deren Erzieherin, eine stark blatternarbige Engländerin.
Monsieur Dambreuse forderte seinen jungen Freund auf, Platz zu nehmen, und sagte, als er es ablehnte:
»Womit kann ich Ihnen dienen?«
Frédéric gestand mit erkünstelter Gleichgiltigkeit, daß er mit einer Bitte für einen gewissen Arnoux gekommen sei.
»Ah! ah! der ehemalige Kunsthändler,« sagte der Bankier mit leisem Lächeln, bei dem sein Zahnfleisch sichtbar wurde. »Oudry garantierte früher für ihn. Dann haben sie sich erzürnt.«
Und er begann die Briefe und Zeitungen durchzusehen, die neben seinem Gedeck lagen.
Zwei Diener servierten geräuschlos; und der hohe Saal mit seinen drei gestickten Portieren und den beiden Fontainen aus weißem Marmor, der Glanz der Schüsselwärmer, die Anordnung der Nebengerichte und selbst die steifen Falten der Servietten, dieser ganze luxuriöse Wohlstand riefen Frédéric den Gegensatz eines andern Frühstücks bei Arnoux in Erinnerung. Er wagte nicht, Monsieur Dambreuse zu unterbrechen.
Madame Dambreuse bemerkte seine Verlegenheit.
»Sehen Sie unsern Freund Martinon zuweilen?«
»Er kommt heute abend,« sagte das junge Mädchen lebhaft.
»Ah! du weißt es,« erwiderte ihre Tante mit einem kalten Blick auf sie.
Dann, als einer der Bedienten sich zu ihrem Ohr neigte:
»Deine Schneiderin, mein Kind! ... Miß John!«
Und die Erzieherin verschwand gehorsam mit ihrem Zögling.
Durch das Stühlerücken gestört, fragte Monsieur Dambreuse, was es gebe.
»Madame Regimbart ist da!«
»Halt! Regimbart! Den Namen kenne ich. Ich habe seine Unterschrift schon gesehen.«
Frédéric kam endlich auf die Angelegenheit; Arnoux verdiene Interesse; in dem einzigen Bestreben, seinen Verpflichtungen nachzukommen, wolle er sogar ein Haus seiner Frau verkaufen.
»Sie gilt für sehr hübsch,« sagte Madame Dambreuse.
Der Bankier fügte gutmütig hinzu:
»Sind Sie ihr – intimer Freund?«
Ohne direkt zu antworten, sagte Frédéric, daß er ihm sehr dankbar sein würde, wenn er Rücksicht darauf nehmen wolle ...
»Nun, da es Ihnen Freude macht, sei es! man kann ja warten! Ich habe noch Zeit. Gehen wir jetzt in mein Büro hinunter, was meinen Sie?«
Das Frühstück war beendet. Madame Dambreuse verneigte sich leicht mit einem seltsamen Lächeln voll Höflichkeit und Ironie zugleich. Frédéric hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn sobald sie allein waren, begann Monsieur Dambreuse:
»Sie haben Ihre Aktien nicht abgeholt.«
Und ohne ihm eine Entschuldigung zu gestatten, sagte er: »Gut! gut! es ist ganz in Ordnung, daß Sie die Sache etwas besser kennen lernen wollen.«
Er bot ihm eine Zigarette an und begann:
Die allgemeine Union der »Französischen Kohlenwerke« sei begründet; es würde nur noch die Bestätigung erwartet. Die Tatsache der Fusion allein vermindere die Kosten der Verwaltung wie der Arbeitslöhne und vermehre die Einnahmen. Außerdem plane die Gesellschaft etwas Neues, und zwar die Arbeiter an dem Unternehmen teilnehmen zu lassen. Sie wolle ihnen Häuser bauen, gesunde Wohnungen, wolle Lieferantin für ihre Angestellten werden und ihnen alles zum Selbstkostenpreis liefern.
»Und sie werden dabei gewinnen; es ist tatsächlich ein Fortschritt, eine siegreiche Antwort auf ein gewisses republikanisches Geschrei! Wir haben in unserm Aufsichtsrat«, er zeigte den Prospekt, »einen Pair von Frankreich, einen Gelehrten der Akademie, einen höheren pensionierten Ingenieur-Offizier, lauter bekannte Namen! Derartige Elemente beruhigen ängstliche Kapitalisten und locken die intelligenten an.« Die Gesellschaft könne auf die Aufträge des Staats rechnen, dann auf die Eisenbahnen, die Dampfschiffahrt, die Metallgießereien, die Gasanstalten und die Kleinbürgerküchen. »So werden wir also heizen, beleuchten, bis zu den Öfen der bescheidensten Haushaltungen dringen. Aber wie können wir den Verkauf sichern, werden Sie mich fragen? Mit Hilfe von Schutzrechten, mein Herr, und die werden wir erhalten, das ist unsere Sache! Ich bin übrigens offener Anhänger des Einfuhrverbots! Das Vaterland über alles!« Er wäre zum Direktor ernannt, aber ihm fehle die Zeit, sich mit gewissen Kleinigkeiten, unter anderem in der Redaktion, zu beschäftigen. »Ich stehe mit meinen Autoren ein wenig auf Kriegsfuß, habe mein Griechisch vergessen! Ich werde jemand nötig haben ... der meine Ideen übertragen kann.« Und plötzlich: »Wollen Sie dieser Mann mit dem Titel eines General-Sekretärs sein?«
Frédéric wußte nicht, was er antworten sollte.
»Nun, was hindert Sie?«
Seine Tätigkeit würde sich darauf beschränken, jedes Jahr einen Bericht für die Aktionäre zu schreiben. Er würde täglich in Beziehung zu den bedeutendsten Persönlichkeiten von Paris treten, müsse die Gesellschaft bei den Arbeitern repräsentieren, die ihn natürlich vergöttern würden. Und das könne ihm dazu verhelfen, später in den General-Rat zu kommen, Deputierter zu werden.
Frédéric klangen die Ohren. Woher kam dieses Wohlwollen? Er erschöpfte sich in Danksagungen.
Aber er brauche von niemand abhängig zu sein, sagte der Bankier. Das beste Mittel wäre, Aktien zu nehmen, »übrigens eine vortreffliche Anlage, denn Ihr Kapital ist eine Garantie für Ihre Stellung, wie Ihre Stellung für Ihr Kapital.«
»Wieviel müßte es etwa betragen?« sagte Frédéric.
»Mein Gott, soviel Sie wollen; vierzig- bis sechzigtausend Francs vermutlich.«
Diese Summe war so minimal für Monsieur Dambreuse und seine Autorität so groß, daß der junge Mann sich sofort entschloß, ein Pachtgut zu verkaufen. Er schlug ein. Monsieur Dambreuse bestimmte für einen der nächsten Tage eine Zusammenkunft, um ihre Maßnahmen zu treffen.
»Also darf ich Jacques Arnoux sagen ...?«
»Alles, was Sie wollen! der arme Kerl! Alles, was Sie wollen!«
Frédéric schrieb an Arnoux, daß er ruhig sein könne, und ließ den Brief von seinem Diener hintragen, der die Antwort brachte: »Sehr gut!«
Sein Verhalten hätte indessen anderes verdient. Er hatte einen Besuch erwartet oder einen Brief wenigstens. Er erhielt keinen Besuch. Es kam kein Brief.
War es Vergeßlichkeit oder Absicht? Was hinderte Madame Arnoux, ihn wieder aufzusuchen, da sie doch schon einmal gekommen war? War das stillschweigende Einverständnis, das Geständnis, das sie ihm gemacht, nur ein Manöver, das sie aus Eigennutz ausgeführt hatte. »Haben sie mit mir gespielt? ist sie dabei mitschuldig?« Eine Art Scham hinderte ihn, trotz seines Verlangens, wieder zu ihnen zu gehen.
Eines Morgens (drei Wochen nach ihrer Zusammenkunft), schrieb ihm Monsieur Dambreuse, daß er ihn am selben Tage in einer Stunde erwarte.
Unterwegs fiel ihm Arnoux wieder ein, und da er keinen Grund für ihr Benehmen finden konnte, überkam ihn Angst, eine düstere Vorahnung. Um sich davon zu befreien, nahm er ein Kabriolett und ließ sich nach der Rue Paradis fahren.
Arnoux sei auf Reisen.
»Und Madame?«
»Auf dem Lande, in der Fabrik!«
»Wann kommt der Herr zurück?«
»Morgen jedenfalls!«
Er würde sie allein finden; der Augenblick war gekommen. Gebieterisch rief etwas in ihm: »Fahre hin!«
Aber Monsieur Dambreuse? »Ach was, ich kann mir nicht helfen! Ich werde sagen, daß ich krank gewesen wäre.« Er eilte auf den Bahnhof; im Eisenbahnwagen dachte er dann: »Vielleicht tat ich unrecht? Ach was, einerlei!«
Zur Rechten und zur Linken dehnten sich grüne Gelände, durch die der Zug rollte; die Wärterhäuschen glitten vorüber wie Kulissen, und der Rauch der Lokomotive streute immer von derselben Seite seine dicken Flocken aus, die eine Weile auf dem Grase tanzten und dann verschwanden.
Allein auf seiner Bank, schaute Frédéric ihnen aus Langeweile zu, in jener Abspannung, die ein Übermaß der Ungeduld hervorruft. Aber nun erschienen Krahne, Lagerhäuser. Das war Creil.
Die Stadt, am Abhang zweier niedriger Hügel erbaut (von denen der eine kahl, der andere bewaldet war), mit ihrem Kirchturm, ihren ungleichen Häusern, ihrer Steinbrücke, hatte für ihn etwas Heiteres, Verschwiegenes, Angenehmes. Ein großes, flaches Boot kam den Strom herunter, der, vom Winde gepeitscht, rauschte; Hühner pickten am Fuße des Hügels im Stroh; eine Frau ging vorüber, die nasse Wäsche auf dem Kopfe trug.
Hinter der Brücke gelangte er auf eine Insel, wo man zur Rechten die Ruinen einer Abtei erblickte. Eine Mühle drehte sich und versperrte in ihrer ganzen Breite den zweiten Arm der Oise, die über die Fabrik geleitet war. Der Wert dieser Anlage überraschte Frédéric in hohem Maße. Es erhöhte seinen Respekt vor Arnoux. Drei Schritte weiter bog er in ein Gäßchen ein, das am Ende durch ein Gitter abgeschlossen war.
Er war eingetreten; die Pförtnerin rief ihn zurück und fragte:
»Haben Sie die Erlaubnis?«
»Wozu?«
»Die Fabrik zu besichtigen!«
Frédéric erwiderte barsch, daß er Monsieur Arnoux besuchen wolle.
»Wer ist Monsieur Arnoux?«
»Der Chef, der Herr, der Besitzer natürlich!«
»Nein, mein Herr, dieses ist die Fabrik von Leboeuf und Milliet!«
Die gute Frau scherzte wohl. Arbeiter kamen; er redete zwei oder drei an; ihre Antwort war die gleiche.
Schwankend wie ein Betrunkener verließ Frédéric den Hof; seine Miene war so bestürzt, daß ein Mann auf der Fleischerbrücke, der seine Pfeife rauchte, ihn fragte, ob er etwas verloren habe. Dieser kannte die Fabrik von Arnoux. Sie befand sich in Montataire.
Frédéric erkundigte sich nach einem Wagen, es war nur auf dem Bahnhof einer zu haben. Er kehrte dorthin zurück. Eine wacklige Kalesche, bespannt mit einem alten Gaul, dessen zerrissenes Zaumzeug über die Deichsel hing, stand einsam vor dem Gepäckraum.
Ein Gassenjunge erbot sich, »Vater Pilon« aufzusuchen. Nach Verlauf von zehn Minuten kam er zurück: Vater Pilon frühstückte. Frédéric verzichtete und ging. Aber die Barriere war geschlossen. Er mußte warten, bis zwei Züge vorüber gefahren waren. Endlich stürmte er davon.
In dem monotonen Grün glich die Landschaft einem ungeheuren Billardtuch. Eisenschlacken waren zu beiden Seiten des Weges wie Haufen von Kieselsteinen aufgeschichtet. Ein wenig weiter sah man einen Fabrikschlot nach dem andern rauchen. Vor ihm erhob sich auf einem runden Hügel ein kleines Schloß mit Türmchen und der viereckige Glockenturm einer Kirche. Darunter bildeten lange Mauern unregelmäßige Linien zwischen den Bäumen; und ganz unten dehnten sich die Häuser des Dorfes.
Sie bestehen aus einem Stockwerk mit einer Treppe von drei Stufen, die ohne Zement aus Quadern hergestellt sind. Dann und wann hörte man die Türglocke eines Krämers. Schwer sanken die Füße in den schwarzen Morast; ein feiner Regen fiel und zeichnete tausendfältig feine Striche auf den blauen Himmel.
Frédéric ging in der Mitte der Straße weiter; endlich traf er zur Linken, am Anfang eines Weges, auf einen großen hölzernen Torbogen, auf dem in goldenen Lettern stand: »Fayencen.«
Jacques Arnoux hatte nicht ohne Absicht die Nachbarschaft von Creil gewählt; indem er seine Fabrik so nahe wie möglich bei der andern (seit lange wohlangesehenen) errichtete, führte er das Publikum irre, um sich selbst zu nützen.
Der Hauptteil des Gebäudes grenzte an das Ufer eines Flusses, der die Wiesen durchschnitt. Das Haus des Eigentümers, von einem Garten umgeben, zeichnete sich durch seine Freitreppe aus, die mit vier Vasen geschmückt war, in denen Kakteen starrten. Haufen weißer Erde trockneten unter Schuppen, andere in freier Luft; und in der Mitte des Hofes stand Sénécal in seinem ewigen blauen, rot gefütterten Paletot.
Der ehemalige Hilfslehrer reichte ihm seine kalte Hand.
»Kommen Sie zu dem Chef? Er ist nicht da!«
Aus der Fassung gebracht, erwiderte Frédéric einfältig:
»Ich wußte es.« Doch gleich verbesserte er sich:
»Es ist eine Angelegenheit, die Madame Arnoux betrifft. Kann sie mich empfangen?«
»Ich habe sie seit drei Tagen nicht gesehen,« sagte Sénécal.
Und er begann eine Litanei von Klagen. Als er die Bedingungen des Fabrikanten angenommen, war es abgemacht worden, daß er in Paris wohnen sollte und nicht sich auf dem Lande, fern von seinen Freunden und ohne Zeitungen, vergraben. Doch er hatte sich darüber hinweggesetzt! Aber Arnoux schien seine Verdienste gar nicht zu würdigen. Er war zudem beschränkt, rückschrittlich, unwissend wie kein anderer. Anstatt künstlerische Vervollkommnung zu erstreben, wäre es wertvoller gewesen, Kohlen- und Gasheizung einzuführen. Der Mann werde »hereinfallen«; Sénécal betonte dieses Wort. Kurz, seine Tätigkeit mißfiel ihm, und er forderte fast von Frédéric, zu seinen Gunsten zu sprechen, damit sein Gehalt erhöht würde.
»Warten Sie nur ab!« sagte der andere.
Auf der Treppe begegnete er niemand. Im ersten Stock steckte er den Kopf in einen leeren Raum; es war der Salon. Er rief ganz laut. Niemand antwortete; wahrscheinlich war die Köchin ausgegangen, die Bonne ebenfalls; endlich, im zweiten Stock angelangt, öffnete er eine Tür. Madame Arnoux stand allein vor einem Spiegelschrank. Der Gürtel ihres offenen Morgenkleides hing an ihrer Hüfte. Die Hälfte ihres Haares bildete eine schwarze Flut auf ihrer rechten Schulter; sie hatte beide Arme erhoben und hielt mit einer Hand ihren Nackenknoten, während sie mit der andern eine Nadel hineinsteckte. Sie stieß einen Schrei aus und verschwand.
Dann kam sie korrekt angekleidet wieder herein. Ihre Figur, ihre Augen, das Rascheln ihres Kleides, alles entzückte ihn. Frédéric mußte an sich halten, um sie nicht mit Küssen zu bedecken.
»Ich bitte Sie um Verzeihung,« sagte sie, »aber ich konnte nicht ...«
Er hatte die Kühnheit, sie zu unterbrechen:
»Aber ... Sie sahen eben ... sehr gut aus!«
Sie fand das Kompliment ohne Zweifel ein wenig plump, denn ihre Wangen röteten sich. Er fürchtete, sie verletzt zu haben. Sie erwiderte:
»Welch glücklicher Zufall hat Sie hergeführt?«
Er wußte nichts zu antworten; nach einem verlegenen Lächeln, das ihm Zeit gab zu überlegen, sagte er:
»Wenn ich es Ihnen sagte, würden Sie mir glauben?«
»Warum nicht?«
Frédéric erzählte, daß er in der vorigen Nacht einen schrecklichen Traum gehabt hätte:
»Mir träumte, Sie wären ernstlich krank, dem Tode nahe.«
»O! weder ich noch mein Mann sind jemals krank gewesen!«
»Ich habe nur von Ihnen geträumt,« sagte er.
Sie blickte ihn ruhig an.
»Träume verwirklichen sich nicht immer.«
Frédéric stammelte, suchte nach Worten und stürzte sich schließlich in einer langen Periode auf die Seelenverwandtschaft. Es existiere eine Kraft, die zwei Menschen über weite Fernen miteinander in Verbindung setzen kann, ihnen mitteilen, was sie empfinden, und sie so vereint.
Sie hörte ihm mit gesenktem Kopf und ihrem reizenden Lächeln zu. Er beobachtete sie verstohlen voll Freude und ließ unter Vorschub eines Gemeinplatzes seiner Liebe freien Lauf. Sie schlug vor, ihm die Fabrik zu zeigen, und da sie darauf bestand, willigte er ein.
Um ihn zuerst durch etwas Unterhaltendes zu zerstreuen, ließ sie ihn eine Art von Museum sehen, das die Treppen schmückte. Die Stücke, die an die Wand gelehnt oder auf die Dielen gestellt waren, zeugten von den Bemühungen und den unablässigen, hartnäckigen Versuchen Arnoux'! Nachdem er das Kupferrot der Chinesen gesucht hatte, wollte er Majoliken und Fayencen nach dem Etruskischen, dem Orientalischen herstellen und hatte schließlich einige der Vervollkommnungen versucht, die später auch glückten. In der Sammlung bemerkte man noch große Vasen mit Mandarinen darauf. Schalen von einer schillernden Goldkäferfarbe, Töpfe mit erhabenen arabischen Inschriften, Schenkkrüge mit zwei Figuren, die wie mit Rotstift in einer zierlichen, duftigen Art gezeichnet waren. Jetzt fabrizierte er Buchstaben für Schilder und Weinetiketten, aber er war nicht intelligent genug, um sich bis zur Kunst aufzuschwingen, und auch nicht spießbürgerlich genug, um ausschließlich den Nutzen im Auge zu behalten, so daß er, ohne jemand zu befriedigen, sich selbst ruinierte. Beide betrachteten diese Sachen, als Mademoiselle Marthe vorüberkam.
»Du erkennst ihn wohl nicht wieder?« fragte ihre Mutter sie.
»Freilich!« erwiderte sie ihn begrüßend, wobei ihr heller, argwöhnischer Blick altklug zu fragen schien: »Was hast du hier zu suchen?« und den Kopf ein wenig über die Schulter gedreht, stieg sie die Stufen hinan.
Madame Arnoux führte Frédéric auf den Hof und erklärte ihm ernsthaft, wie die Erde zermahlen, gereinigt und gesiebt wird.
»Das wichtigste ist die Zubereitung der Masse.« Und sie führte ihn in einen mit Bottichen angefüllten Saal, in denen sich eine senkrechte Achse mit horizontalen Armen um sich selbst drehte.
»Dies sind die Manschschaufeln,« sagte sie.
Er fand das Wort grotesk und unpassend in ihrem Munde.
Breite Riemen zogen sich von einem Ende der Decke zum andern, um sich auf Walzen aufzurollen, und alles ging unablässig und mit einer mathematischen Genauigkeit vor sich, die peinlich berührte.
Sie gingen nun hinaus und kamen an einer zerfallenen Hütte vorüber, die ehemals dazu gedient hatte, Gartengeräte zu beherbergen.
»Sie wird nicht mehr benutzt,« sagte Madame Arnoux.
Er entgegnete mit zitternder Stimme:
»Das Glück könnte dort wohnen!«
Das Getöse der Dampfmaschine erstickte seine Worte, und sie traten in den Knet-Saal ein.
An einem schmalen Tisch saßen Männer und hatten vor sich auf einer Drehscheibe einen Klumpen der Masse; mit ihrer linken Hand formten sie das Innere, die rechte glättete die Oberfläche, und man sah Vasen emporwachsen wie Blumen, die sich entfalten.
Madame Arnoux ließ die Modelle der schwierigsten Arbeiten vorzeigen.
In einem andern Raum wurden die Verzierungen, die Hälse und die hervortretenden Linien gemacht, im oberen Stockwerk die Nähte entfernt und die kleinen Löcher, die die vorhergehenden Arbeiten hinterlassen hatten, mit der Masse verkittet.
Auf den Fenstersimsen, in den Ecken, mitten in den Gängen, überall standen reihenweise Töpfereien.
Frédéric fing an sich zu langweilen.
»Es ermüdet Sie vielleicht?« sagte sie.
In der Furcht, vielleicht seinen Besuch abkürzen zu müssen, stellte er sich im Gegenteil sehr begeistert. Er bedauerte sogar, sich nicht dieser Industrie gewidmet zu haben.
Sie schien überrascht.
»Wirklich! ich hätte in Ihrer Nähe leben können!«
Und als er ihren Blick suchte, nahm Madame Arnoux, um ihm auszuweichen, von einer Konsole eine Kugel der Masse, die von der Ausbesserung des Fehlerhaften übrig geblieben war, plattete sie zu einer flachen Scheibe ab und drückte ihre Hand darauf ab.
»Darf ich das mitnehmen?« sagte Frédéric.
»Sind Sie solch ein Kind, mein Gott!«
Er wollte antworten, als Sénécal eintrat.
Der Herr Sub-Direktor bemerkte schon auf der Schwelle eine Übertretung der Vorschriften. Die Werkstätten sollten jede Woche gefegt werden; heute war Samstag, und da die Arbeiter es nicht getan hatten, erklärte Sénécal ihnen, daß sie eine Stunde länger zu bleiben hätten.
»Um so schlimmer für euch!«
Ohne Murren neigten sie sich über ihre Arbeit, aber man erriet ihren Zorn an ihren rauhen Atemzügen. Sie waren übrigens nicht leicht zu leiten, da man sie alle aus der großen Fabrik fortgejagt hatte. Der Republikaner behandelte sie streng. Als Mann der Theorie zog er nur die Massen in Betracht und war unbarmherzig gegen den Einzelnen.
Durch seine Gegenwart geniert, fragte Frédéric Madame Arnoux leise, ob es nicht möglich wäre, die Öfen zu sehen. Sie gingen ins Erdgeschoß, und sie war im Begriff, den Gebrauch der Brennkasten zu erklären, als Sénécal, der ihnen gefolgt war, sich zu ihnen gesellte.
Er fuhr selbst mit der Beschreibung fort, verbreitete sich über die verschiedenen Arten der Brennmaterialien, über das Einschieben in die Öfen, die Pyroskope, die Legierung, den Glanz und die Metalle, wobei er sich chemischer Ausdrücke wie Chlor, Sulfur, Borax, Carboneum bediente. Frédéric verstand nichts davon und wandte sich alle Augenblicke nach Madame Arnoux um.
»Sie hören nicht zu,« sagte sie. »Monsieur Sénécal ist sehr klar. Er weiß alle diese Dinge viel besser als ich.«
Durch dieses Lob geschmeichelt, schlug der Mathematiker vor, das Auftragen der Farben anzusehen. Frédéric sandte Madame Arnoux einen angstvoll fragenden Blick zu. Sie blieb kaltblütig, wollte wahrscheinlich weder mit ihm allein sein, noch ihn verlassen. Er bot ihr seinen Arm.
»Nein! danke sehr! die Treppe ist zu eng!«
Und als sie oben angelangt waren, öffnete Sénécal die Tür eines Raumes voll Frauen.
Sie hantierten mit Pinseln, Fläschchen, Muscheln und Glasplatten. An der Wand längs des Gesimses standen gravierte Platten, Fetzen dünnen Papiers flatterten umher; und ein Schmelzofen strömte eine erdrückende Hitze aus, die sich mit dem Geruch von Terpentin vermischte.
Fast alle Arbeiterinnen hatten unsaubere Kleider. Doch war eine darunter, die eine Art Kopftuch aus indischem Mull und lange Ohrringe trug. Zart und voll zugleich, hatte sie große schwarze Augen und die fleischigen Lippen einer Negerin. Ihre volle Brust sprang unter dem Hemd hervor, das durch das Rockband um die Taille gehalten wurde, und einen Arm auf dem Werktisch, während der andere herabhing, blickte sie ungewiß ins Weite. Neben ihr stand eine Flasche Wein und etwas kaltes Fleisch.
Aus Rücksicht auf die Sauberkeit der Arbeit und die Gesundheit der Arbeiter verbot die Hausordnung, in den Werkstätten zu essen.
Aus Pflichtgefühl oder in dem Bedürfnis, den Despoten herauszukehren, rief Sénécal von weitem, indem er auf einen eingerahmten Anschlag wies:
»He! Sie da unten, Bordelaisin! lesen Sie einmal laut den Artikel 9.«
»Gut, und was dann?«
»Dann, mein Fräulein? Dann haben Sie drei Francs Strafe zu zahlen!«
Sie blickte ihm unverschämt ins Gesicht.
»Was kümmert mich das? Der Chef wird nach seiner Rückkehr die Strafe schon aufheben! Ich pfeif' auf Sie, mein Guter!«
Sénécal, der sich hinter dem Rücken die Hände rieb wie ein Aufsichtslehrer in der Schulklasse, begnügte sich damit, zu lächeln.
»Artikel 13, Verweigerung des Gehorsams, zehn Francs!«
Die Bordelaisin nahm ihre Arbeit wieder auf. Madame Arnoux sagte anstandshalber nichts, aber sie runzelte ihre Brauen, Frédéric murmelte:
»O! für einen Demokraten sind Sie sehr hart!«
Der andere erwiderte lebhaft:
»Demokratie heißt nicht Übergriff des Einzelnen. Sie bedeutet Gleichheit vor dem Gesetz, gleiche Arbeitsteilung und Rangordnung.«
»Sie vergessen die Humanität,« sagte Frédéric.
Madame Arnoux nahm seinen Arm. Sénécal, über dieses stillschweigende Einverständnis vielleicht verletzt, ging fort.
Frédéric empfand eine ungeheure Erleichterung. Seit dem Morgen suchte er eine Gelegenheit, sich zu erklären; nun war sie gekommen. Zudem war ihm die spontane Bewegung Madame Arnoux' wie eine Verheißung erschienen, und er bat, in ihr Zimmer hinaufzugehen, um sich die Füße zu wärmen. Doch als er neben ihr saß, begann seine Verlegenheit von neuem; ihm fehlte der Anknüpfungspunkt. Glücklicherweise fiel ihm Sénécal ein.
»Nichts ist alberner,« sagte er, »als diese Strafe!«
Madame Arnoux erwiderte:
»Es gibt eine Strenge, die nicht zu umgehen ist.«
»Das sagen Sie, die so gut ist! Oder täusche ich mich, denn Sie lieben es ja, zuweilen leiden zu machen.«
»Ich verstehe keine Rätsel, mein Lieber.«
Und ihr strenger Blick hielt ihn noch mehr zurück als ihr Wort. Aber Frédéric war entschlossen, weiterzugehen. Ein Band von Musset lag zufällig auf der Kommode. Er blätterte ein paar Seiten um und fing dann an, von Liebe zu sprechen, von ihren Qualen, ihrer Wollust.
Nach Madame Arnoux' Ansichten war alles das sündhaft oder erkünstelt.
Der junge Mann fühlte sich durch diese Abweisung verletzt, und um sie zu widerlegen, nannte er als Beweis die Selbstmorde, von denen man in den Zeitungen las, und sprach begeistert von den großen Gestalten in der Literatur, Phädra, Dido, Romeo, Desgrieux. Dabei verwickelte er sich.
Das Feuer im Kamin brannte nicht mehr, der Regen peitschte gegen die Scheiben. Madame Arnoux saß, ohne sich zu regen, die Hände auf der Armlehne ihres Sessels. Die Enden ihres Häubchens fielen herab wie die Kopfbinde einer Sphinx; ihr reines Profil hob sich hell von der Dunkelheit ab.
Er hatte Lust, sich ihr zu Füßen zu werfen. Es knarrte im Flur, er wagte es nicht.
Auch hinderte ihn eine Art religiöser Furcht. Dieses Kleid, das mit der Dunkelheit verschmolz, hatte für ihn Unendliches, Unantastbares, und gerade deshalb verdoppelte sich sein Verlangen. Aber die Furcht, nicht genug oder zu viel zu tun, nahm ihm alle Urteilskraft.
»Wenn ich ihr mißfiele,« dachte er, »müßte sie mich fortjagen. Wenn sie mich gern hat, müßte sie mich ermutigen!«
Seufzend sagte er:
»Also Sie geben nicht zu, daß man ... eine Frau lieben kann.«
Madame Arnoux erwiderte:
»Wenn sie nicht verheiratet ist, vermählt man sich mit ihr, gehört sie einem andern, zieht man sich zurück.«
»So ist also ein Glück unmöglich?«
»Nein! Aber man findet es nicht in Lügen, in der Unruhe und in Gewissensbissen.«
»Was tut das! wenn es durch himmlische Wonnen belohnt wird?«
»Das Wagnis ist zu groß!«
Er wollte sie mit Ironie angreifen.
»Tugend wäre demnach nichts als Feigheit?«
»Sagen Sie lieber Scharfsichtigkeit. Denen, die die Pflicht oder die Religion vergessen, kann der einfache, gesunde Verstand genügen. Der Egoismus gibt eine solide Basis für die Tugend.«
»Ach, was für spießbürgerliche Grundsätze Sie haben.«
»Aber ich rühme mich ja auch nicht, eine große Dame zu sein!«
In diesem Augenblick kam der kleine Knabe angelaufen.
»Mama, kommst du zum Mittagessen?«
»Ja, gleich!«
Frédéric erhob sich; zu gleicher Zeit erschien Marthe. Er konnte sich nicht entschließen, zu gehen, und sagte mit einem inständig bittenden Blick:
»Die Frauen, von denen Sie sprechen, sind also ganz unempfindlich?«
»Nein! aber taub, wenn es nötig ist!«
Sie blieb mit den beiden Kindern neben sich auf der Schwelle stehen. Er verneigte sich ohne ein Wort. Sie erwiderte schweigend seinen Gruß.
Seine erste Empfindung war eine maßlose Bestürzung. Diese Art, ihm das Vergebliche seiner Hoffnung zu verstehen zu geben, vernichtete ihn. Er fühlte sich verloren wie jemand, der in einen Abgrund gestürzt ist und weiß, daß er nicht gerettet werden kann und sterben muß.
So ging er nun, ohne etwas zu sehen, aufs Geratewohl; er stieß sich an den Steinen und schlug einen falschen Weg ein. Ein Geräusch von Holzschuhen klang an sein Ohr; es waren die Arbeiter aus der Gießerei. Da fand er sich zurecht.
Am Horizont zeichneten die Eisenbahnlaternen eine Flammenlinie. Er kam an, als ein Zug abging, ließ sich in ein Abteil drängen und schlief ein.
Eine Stunde später auf den Boulevards rückte der Taumel von Paris seine Reise plötzlich in weite Ferne. Er wollte stark sein und erleichterte sein Herz, indem er Madame Arnoux in beleidigenden Ausdrücken verhöhnte.
»Sie ist dumm, eine Pute, eine Gans. Ich will nicht mehr an sie denken.«
Zu Haus angekommen, fand er in seinem Zimmer einen Brief von acht Seiten auf glänzend blauem Papier mit den Initialen R. A.
Er begann mit freundschaftlichen Vorwürfen:
»Wie geht es Ihnen, mein Lieber? ich langweile mich.«
Aber die Schrift war so abscheulich, daß Frédéric das Ganze fortwerfen wollte, als er eine Nachschrift bemerkte:
»Ich rechne morgen auf Sie, um mich zum Rennen zu führen.«
Was bedeutete diese Einladung? War das wieder ein Einfall der Marschallin? Aber man hält nicht zweimal ohne Grund denselben Menschen zum Narren; neugierig geworden, las er den Brief aufmerksam durch.
Frédéric entzifferte: »ein Mißverständnis ... falschen Weg eingeschlagen ... Enttäuschungen ... Wir armen Wesen! ... Gleich zwei Flüssen, die sich vereinigen! etc.«
Dieser Stil kontrastierte mit der gewöhnlichen Sprache der Lorette. Was für eine Veränderung war eingetreten?
Er betrachtete lange die Blätter in seiner Hand. Sie dufteten nach Iris; und in der Form der Buchstaben und dem ungleichen Zwischenraum der Zeilen war etwas wie Unordnung in der Kleidung, die ihn erregte.
»Warum nicht hingehen?« sagte er endlich. »Aber wenn Madame Arnoux es wüßte? Ach! mag sie es wissen! Umso besser! und mag sie eifersüchtig sein! das ist meine Rache!«