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Seine Rückkehr nach Paris machte ihm keine Freude; es war ein Abend Ende August, der Boulevard schien leer, die Passanten gingen mit verdrossenen Mienen hinter einander her, hier und da rauchte ein Asphaltkessel, an vielen Häusern waren die Jalousien herabgelassen. Er kam nach Haus; Staub bedeckte die Wände; und als er ganz allein aß, wurde Frédéric von einem seltsamen Gefühl der Verlassenheit ergriffen. Da dachte er an Mademoiselle Roque.
Der Gedanke, sich zu verheiraten, schien ihm nicht mehr so außergewöhnlich. Sie würden reisen, nach Italien gehen, nach dem Orient! Und er sah sie vor sich, auf einem Hügel, die Landschaft betrachten, oder auch, auf seinen Arm gestützt, in einer florentinischen Galerie vor den Bildern. Welche Wonne es sein würde, dieses gute, kleine Geschöpf die Herrlichkeiten der Kunst und Natur genießen zu sehen! Fern von ihrer Umgebung, würde sie in kurzer Zeit eine reizende Gefährtin abgeben. Außerdem lockte ihn das Vermögen von Monsieur Roque. Indessen widerstrebte ihm ein solcher Entschluß als eine Schwäche, als seiner unwürdig.
Aber er war fest entschlossen, ein anderes Leben zu beginnen, das heißt, sein Herz nicht mehr an unfruchtbare Leidenschaften zu verlieren, und er zögerte daher, den Auftrag auszuführen, den Louise ihm gegeben hatte. Er bestand darin, bei Arnoux für sie zwei große polychrome Negerstatuetten, wie die auf der Präfektur von Troyes, zu kaufen. Sie kannte das Warenzeichen des Fabrikanten, wollte sie nicht von einem andern, Frédéric aber fürchtete, wenn er zu Arnoux zurückkehrte, noch einmal seiner alten Liebe zu verfallen.
Diese Überzeugungen beschäftigten ihn den ganzen Abend; und er war im Begriff, schlafen zu gehen, als eine Dame eintrat.
»Ich bin es,« sagte lachend Mademoiselle Vatnaz. »Ich komme auf Veranlassung von Rosanette.«
»Sie haben sich also wieder versöhnt?«
»Mein Gott, ja! Ich bin nicht boshaft, das wissen Sie wohl. Übrigens, das arme Mädchen ... Es würde zu lange währen, Ihnen das zu erzählen!«
Kurz, die Marschallin wünsche, ihn zu sehen, sie erwarte eine Antwort, da ihr Brief von Paris nach Nogent gewandert sei. Mademoiselle Vatnaz wußte nicht, was er enthielt. Da erkundigte Frédéric sich nach der Marschallin.
Sie »ging« jetzt mit einem sehr reichen Mann, einem Russen, dem Fürsten Tzernoukoff, der sie im vorigen Sommer bei den Rennen auf dem Champ de Mars gesehen hatte.
»Man hat drei Wagen, ein Reitpferd, Livree, einen Groom in englischem Chic, ein Landhaus, eine Loge in der italienischen Oper, und noch einen Haufen anderer Dinge dazu. Da haben Sie's, mein Lieber.«
Und die Vatnaz sah, als hätte sie einen Vorteil aus diesem Glückswechsel gezogen, viel heiterer und ganz glücklich aus. Sie zog ihre Handschuhe aus und betrachtete die Möbel und Nippsachen im Zimmer. Sie schätzte ihren Preis ab wie ein Trödler. Er hätte sie zu Rate ziehen sollen, um sie billiger zu erhalten; und sie beglückwünschte ihn zu seinem guten Geschmack.
»Ah! das ist allerliebst, außerordentlich hübsch! Nur Sie haben solche Ideen.«
Dann, als sie an einer Seite des Alkovens eine Tür bemerkte:
»Da läßt man die kleinen Mädchen wohl hinaus?«
Und freundschaftlich griff sie ihm unters Kinn. Er zitterte bei der Berührung ihrer langen, mageren und zugleich weichen Finger. Sie hatte einen Spitzenbesatz um das Handgelenk und auf der Taille ihres grünen Kleides Schnüre wie ein Husar. Ihr schwarzer Tüllhut mit herabfallendem Rand verdeckte ein wenig ihre Stirn; ihre Augen leuchteten darunter hervor; ein Duft von Patchouli entströmte ihren Scheiteln; die Lampe auf einem Tischchen beleuchtete sie von unten wie vor einer Theaterrampe und ließ ihre Kinnladen hervortreten; – und plötzlich empfand Frédéric gegenüber dieser häßlichen Frau mit den pantherartigen Bewegungen eine rasende Begierde, ein tierisches Wollustverlangen.
Sie bat mit einer sanften Stimme, indem sie drei Papierzettel aus ihrem Portemonnaie zog:
»Sie werden das doch nehmen?« Es waren drei Plätze für eine Vorstellung zu Delmars Benefiz.
»Wie! er?«
»Gewiß!«
Mademoiselle Vatnaz fügte, ohne weiteres zu erklären, hinzu, daß sie ihn mehr vergöttere denn je. Der Schauspieler gehöre jetzt entschieden zu den »Sternen seiner Zeit«. Und er stellte nicht etwa diese oder jene Persönlichkeit dar, sondern den Genius Frankreichs selbst, das Volk! Er war ein »Menschenfreund, er trat für das Heilige in der Kunst ein!« Um ihre Lobpreisungen nicht mehr anhören zu müssen, gab Frédéric ihr das Geld für die drei Plätze.
»Nicht nötig, daß Sie bei ihr davon sprechen! – Wie spät ist es, mein Gott! Ich muß fort. Ah! ich vergaß die Adresse: Rue Grange-Batelière 14.«
Und auf der Schwelle rief sie ihm zu:
»Adieu, geliebter Mann!«
»Von wem geliebt?« fragte sich Frédéric. »Eine sonderbare Person!«
Und er entsann sich, daß Dussardier ihm eines Tages in bezug auf sie gesagt hatte: »O! es ist nichts Besonderes an ihr,« als spiele er auf wenig ehrenhafte Geschichten an.
Am nächsten Morgen begab er sich zur Marschallin. Sie bewohnte ein neues Haus, dessen Jalousien alle nach der Straße gingen. Auf jedem Treppenabsatz war ein Spiegel an der Wand, ein ländlicher Blumenständer vor den Fenstern, die ganzen Stufen hinauf ein Leinenläufer; und wenn man von draußen kam, erquickte die Kühle des Treppenhauses.
Ein Bedienter öffnete, ein Lakai in roter Weste. Im Vorzimmer warteten auf einer Bank eine Frau und zwei Männer, augenscheinlich Lieferanten, wie im Vestibül eines Ministers. Zur Linken sah man hinter der angelehnten Tür des Speisezimmers leere Flaschen auf dem Büffet, Servietten auf den Stuhllehnen, und rings zog sich eine Galerie hin, an der vergoldete Stäbe ein Rosenspalier stützten. Unten im Hofe putzten zwei Burschen mit nackten Armen einen Landauer. Ihre Stimmen stiegen zugleich mit dem regelmäßigen Geräusch eines Striegels empor, der gegen einen Stein aufstieß.
Der Bediente kam zurück. »Madame lassen den Herrn bitten!« und er führte ihn durch ein zweites Vorzimmer, dann durch einen großen Saal, in gelbem Brokat gehalten, mit gewundenen Schnüren in den Ecken, die sich an der Decke trafen und sich in dem Laubwerk des Kronleuchters fortzusetzen schienen. Man hatte die vorige Nacht augenscheinlich gefeiert. Zigarrenasche war auf den Konsolen liegen geblieben.
Endlich trat er in eine Art Boudoir, das durch farbige Scheiben matt erleuchtet war. In Holz geschnitzte Kleeblattkreuze schmückten die Türgesimse; hinter einer Balustrade ein Diwan mit drei Purpurpolstern, über dem der Schlauch einer Wasserpfeife aus Platina hing. Auf dem Kamin stand anstatt des Spiegels eine pyramidenförmige Etagere, auf deren Absätzen eine ganze Sammlung von Kuriositäten zu sehen war: alte silberne Uhren, böhmisches Glas, Juwelen-Agraffen, Steinknöpfe, Emaillen, Porzellanaffen, eine kleine byzantinische Jungfrau in rot vergoldetem Mantel; und all dies verschmolz in einer goldigen Dämmerung mit dem bläulichen Ton des Teppichs, dem Perlmutterreflex der Taburetts und dem fahlen Ton der Wände, die mit kastanienbraunem Leder bespannt waren. In den Ecken standen auf Sockeln Bronzevasen mit Blumensträußen, die betäubenden Duft ausströmten.
Rosanette erschien in einer Weste aus rosa Atlas, mit weißen Kaschmir-Pantalons, einem Piasterhalsband und rotem Käppchen, das ein Jasminzweig umwand.
Überrascht wandte Frédéric sich um, dann sagte er, daß er »die bewußte Sache« bringe, und überreichte ihr die Banknote.
Sie blickte ihn ganz verdutzt an, und da er den Schein immer noch in der Hand hielt und nicht wußte, wohin er ihn legen sollte, sagte er:
»Nehmen Sie doch!«
Sie tat es und sagte, nachdem sie ihn auf den Diwan geworfen hatte:
»Sie sind sehr liebenswürdig.«
Sie brauchte es, um damit die Jahresrate für ein Grundstück in Bellevue zu bezahlen. Diese Ungeniertheit verletzte Frédéric. Übrigens umso besser! das entschädigte ihn für die Vergangenheit.
»Setzen Sie sich!« sagte sie, »da, näher.« Und in ernstem Ton fuhr sie fort: »Vor allem, mein Lieber, habe ich Ihnen dafür zu danken, daß Sie Ihr Leben für mich aufs Spiel gesetzt haben.«
»O! das ist nichts!«
»Es war aber sehr schön!«
Und die Marschallin bezeigte ihm eine Dankbarkeit, die ihm peinlich war; denn sie mußte glauben, daß er sich ausschließlich für Arnoux geschlagen hatte, der es sich jedenfalls einbildete, als er dem Verlangen, es zu erzählen, nachgab.
»Vielleicht macht sie sich über mich lustig,« dachte Frédéric.
Er hatte nun nichts weiter zu tun, schützte eine Verabredung vor und erhob sich.
»Ach nein. Bleiben Sie!«
Er setzte sich wieder und machte ihr Komplimente über ihr Kostüm.
Sie erwiderte mit niedergeschlagener Miene:
»Ich tue es, weil der Fürst mich so liebt! Und ich muß aus solchen Maschinen rauchen,« fügte Rosanette hinzu, indem sie auf die Wasserpfeife deutete. »Ob wir es einmal versuchen? Wollen Sie?«
Es wurde Feuer gebracht; aber da der Tabak sich schwer entzündete, stampfte sie vor Ungeduld mit den Füßen. Dann überkam sie eine Mattigkeit, und mit einem Kissen unter der Achselhöhle, den Körper ein wenig gedreht, ein Knie gebogen, das andere Bein ganz gerade, saß sie unbeweglich auf dem Diwan. Die lange saffianrote Schlange, die Ringe auf dem Boden bildete, rollte sich an ihrem Arm zusammen. Sie druckte das Bernstein-Mundstück an die Lippen und blickte Frédéric mit halbgeschlossenen Lidern durch den Rauch an, der ihn in Wolken einhüllte. Ihre Atemzüge machten das Wasser gurgeln, und sie murmelte von Zeit zu Zeit:
»Der arme kleine Kerl! armer Kerl!«
Er versuchte, einen angenehmen Unterhaltungsstoff zu finden; die Vatnaz fiel ihm ein. Er sagte, daß sie ihm sehr elegant vorgekommen wäre.
»Das will ich meinen! O! die ist sehr froh, mich zu haben!« erwiderte die Marschallin, ohne ein Wort hinzuzufügen, so wortkarg waren sie in ihrem Gespräch.
Alle beide empfanden einen Zwang, ein Hemmnis. In der Tat hatte das Duell, dessen Ursache Rosanette sich glaubte, ihrer Eigenliebe geschmeichelt. Dann war sie sehr erstaunt gewesen, daß er nicht herbeieilte, um seine Handlungsweise auszunutzen; und um ihn zum Wiederkommen zu zwingen, hatte sie die Schuld von fünfhundert Francs erfunden. Wie kam es, daß Frédéric als Lohn nicht ein wenig Zärtlichkeit forderte! Es war ein Raffinement, das sie aufs höchste verwunderte, und in einer Herzensregung sagte sie:
»Wollen wir zusammen ins Seebad gehen?«
»Wer sind wir?«
»Ich und mein Alter; ich führe Sie als meinen Vetter ein, wie in den alten Komödien.«
»Danke sehr!«
»Sie nehmen dann eine Wohnung in unserer Nähe.«
Der Gedanke, sich vor einem reichen Mann zu verstecken, schien ihm erniedrigend.
»Nein! das ist unmöglich!«
»Wie Sie wollen!«
Rosanette wandte sich mit einer Träne an den Wimpern ab. Frédéric bemerkte es, und um ihr seine Teilnahme zu zeigen, sagte er, daß er sich freue, sie in ausgezeichneter Lage zu sehen.
Sie zuckte die Achseln. Was betrübte sie denn? Ob sie vielleicht nicht geliebt werde?
»O ich, ich werde immer geliebt!« Sie fügte hinzu:
»Es kommt nur darauf an, auf welche Art.«
Indem sie sich beklagte, vor Hitze zu ersticken, öffnete die Marschallin ihre Weste, und ohne ein anderes Kleidungsstück um die Hüften als ihr seidenes Hemd, lehnte sie den Kopf mit der Miene einer Sklavin herausfordernd an seine Schulter.
Ein Mann mit weniger vorsichtiger Überlegung hätte nicht daran gedacht, daß der Vicomte, Monsieur de Comaing oder ein anderer dazwischen kommen könnte. Aber Frédéric war zu oft schon von diesem Blicke getäuscht worden, um sich jetzt einer neuen Demütigung auszusetzen.
Sie wollte seine Verbindungen kennen, seine Vergnügungen; fragte ihn sogar nach seinen Geschäften und bot ihm Geld an, falls er dessen bedurfte. Völlig gleichgültig geworden, nahm Frédéric seinen Hut.
»Also, meine Liebe, viel Vergnügen da unten, auf Wiedersehen!«
Sie sah ihn groß an und sagte dann in trockenem Ton:
»Auf Wiedersehen!«
Er ging durch den gelben Salon und das zweite Vorzimmer zurück. Auf dem Tisch stand zwischen einer Schale mit Visitenkarten und einem Schreibzeug ein ziseliertes, silbernes Kästchen. Es war das von Madame Arnoux! Da überkam ihn eine Rührung und Entrüstung zugleich über diese Profanation. Er hatte Lust, es zu berühren, es zu öffnen, aber er fürchtete, bemerkt zu werden, und ging.
Frédéric blieb standhaft. Er ging nicht wieder zu Arnoux.
Er schickte seinen Diener, die beiden Neger zu kaufen, nachdem er ihm alle notwendigen Weisungen gegeben hatte, und die Kiste ging am selben Abend nach Nogent ab. Am nächsten Morgen, als er sich zu Deslauriers begab, sah er sich an der Ecke der Rue Vivienne und dem Boulevard plötzlich Madame Arnoux gegenüber.
Ihre erste Bewegung war ein Ausweichen; dann trat beiden dasselbe Lächeln auf die Lippen und sie näherten sich einander. Eine Minute lang sprach keiner von beiden.
Sie stand in voller Sonne; – und ihr ovales Gesicht, ihre langen Wimpern, ihr schwarzer Spitzenschal, der sich den Formen ihrer Schultern anschmiegte, ihr Kleid von taubengrauer Seide, das Veilchenbukett an der Seite ihres Hutes, alles schien ihm von unvergleichlicher Pracht. Unendliche Milde strahlte aus ihren schönen Augen, und stotternd kamen die ersten Worte, wie sie ihm gerade einfielen:
»Wie geht es Arnoux?« sagte Frédéric.
»Ich danke!«
»Und Ihren Kindern?«
»Es geht ihnen sehr gut!«
»Ach! – ach! – was für schönes Wetter wir haben, nicht wahr?«
»Sie machen einen Ausgang?«
»Ja!«
Und mit leichter Kopfneigung sagte sie:
»Adieu!«
Sie hatte ihm nicht die Hand gereicht, hatte nicht ein herzliches Wort gesagt, ihn nicht einmal zu sich eingeladen, und dennoch, er hätte diese Begegnung nicht für das schönste Abenteuer hingegeben und genoß die Süßigkeit davon auf seinem ganzen Wege.
Überrascht, ihn zu sehen, verbarg Deslauriers seinen Verdruß, – denn er bewahrte hartnäckig noch einige Hoffnung auf Madame Arnoux; und er hatte Frédéric geraten, fortzubleiben, um freier in seinem Vorhaben zu sein.
Er sagte indessen, daß er sich ihr vorgestellt hätte, um zu erfahren, ob ihr Heiratskontrakt Gütergemeinschaft einschließe: man hätte sich sonst an die Frau halten können; »und sie hat ein drolliges Gesicht gemacht, als ich von deiner Heirat sprach.«
»Wie! welch eine Idee!«
»Es mußte sein, um zu zeigen, daß du dein Geld brauchst! Wenn es ihr gleichgültig gewesen wäre, hätte nicht eine Art Ohnmacht sie befallen.«
»Wahrhaftig?« rief Frédéric.
»Ah! du Halunke, du verrätst dich! Sei aufrichtig! Scherz beiseite!«
Eine namenlose Feigheit ergriff den Verehrer von Madame Arnoux.
»Nicht doch! ... ich versichere dich! ... mein Ehrenwort!«
Dieses schwache Leugnen überzeugte Deslauriers vollends. Er machte ihm Komplimente und bat ihn um »Details«. Frédéric erzählte ihm keine und widerstand sogar der Lust, welche zu erfinden.
Hinsichtlich der Hypothek bat er ihn, nichts zu unternehmen, sondern abzuwarten. Deslauriers fand, daß er unrecht täte und wurde sogar in seinen Ermahnungen ganz brutal.
Er war übrigens finsterer und jähzorniger denn je. Wenn das Glück sich binnen einem Jahre nicht wandte, würde er sich nach Amerika einschiffen oder eine Kugel durch den Kopf schießen. Schließlich geriet er in eine solche Wut gegen alles und in einen so absoluten Radikalismus, daß Frédéric sich nicht enthalten konnte, ihm zu sagen:
»Du bist ja wie Sénécal.«
Bei dieser Gelegenheit sagte ihm Deslauriers, daß dieser aus Sainte-Pélagie entlassen sei, da die Untersuchung nicht genügende Beweise erbracht habe, um ihn zu verurteilen.
Vor Freude über diese Befreiung wollte Dussardier »einen Punsch spendieren« und bat Frédéric »mitzumachen«, indem er ihm jedoch ankündigte, daß er Hussonnet dabei treffen werde, der sich vorzüglich gegen Sénécal benommen hätte.
Tatsächlich hatte der »Flambard« sich neben ein Geschäftsbüro eingerichtet, das sich auf den Prospekten als Winzer-Kontor – Annoncen-Annahmestelle – Auskunfts- und Eintreibungs-Büro und so weiter empfahl. Der Bohémien fürchtete aber, daß seine Tätigkeit seinem literarischen Ansehen Abbruch tun könnte, und hatte den Mathematiker angestellt, um die Bücher zu führen. Obwohl es eine mittelmäßige Stellung war, wäre Sénécal ohne sie verhungert. Da Frédéric den braven Dussardier nicht verletzen wollte, nahm er seine Einladung an.
Schon drei Tage vorher hatte Dussardier die roten Fliesen seiner Dachkammer selber gewachst, den Lehnstuhl geklopft und den Kamin abgestaubt, wo unter einer Glasglocke eine Alabasteruhr zwischen einem Stalaktit und einer Kokosnuß stand. Da seine zwei Leuchter und sein Wachsstock nicht ausreichten, hatte er vom Hausmeister zwei Armleuchter geliehen, und diese fünf Lichtspender leuchteten auf der Kommode, die mit drei Servietten bedeckt war, damit sich Makronen, Biskuits, ein Stollen und ein Dutzend Flaschen Bier besser ausnahmen. Gegenüber enthielt ein kleiner Mahagonibücherschrank an der gelbtapezierten Wand die »Fabeln von Lachambeaudie«, »die Geheimnisse von Paris« und den »Napoléon« von Norvins; – und mitten im Alkoven lächelte in einem Rahmen von Palisander das Antlitz Bérangers!
Die Gäste waren (außer Deslauriers und Sénécal) ein Apotheker, der eben zugelassen war, aber nicht die nötigen Mittel besaß, sich zu etablieren, ein junger Angestellter »seines« Hauses, ein Weinhändler, ein Architekt und ein Versicherungsagent. Regimbart hatte nicht kommen können. Man bedauerte es.
Sie empfingen Frédéric mit großer Sympathie, da alle durch Dussardier sein Austreten bei Monsieur Dambreuse kannten, Sénécal begnügte sich damit, ihm mit würdiger Miene die Hand zu reichen.
Er stand am Kamin. Die anderen saßen mit der Pfeife im Munde und hörten seine Auseinandersetzung über das allgemeine Wahlrecht an, aus dem sich der Triumph der Demokratie, die Anwendung der Grundsätze des Evangeliums ergeben würde. Übrigens, der Moment komme; die Versammlungen der Reformisten vermehrten sich in den Provinzen; Piemont, Neapel, Toscana ...
»Es ist wahr,« sagte Deslauriers, ihm kurz das Wort abschneidend, »es kann nicht mehr lange so bleiben!«
Er begann, ein Bild der Lage zu entwerfen.
»Wir haben Holland geopfert,« um von England die Anerkennung Louis-Philippes zu erlangen; und diese berühmte englische Allianz sei dank der spanischen Heiraten dahin! In der Schweiz erhalte Guizet im Schlepptau des Österreichers die Verträge von 1815 aufrecht. Preußen mit seinem Zollverein bereite uns Verlegenheiten, und die Orientfrage bleibe noch offen.
»Es ist kein Grund, Rußland zu vertrauen, weil der Großherzog Konstantin Monsieur b'Aumale Geschenke sendet. Was die inneren Zustände betrifft, so hat man niemals soviel Verblendung, soviel Dummheit gesehn! Nicht einmal ihre Majorität hält sich mehr! Überall schließlich die alte Geschichte, nichts! nichts! nichts! und bei soviel Schmach«, fuhr der Advokat, die Fäuste in die Seite stemmend, fort, »geben sie sich zufrieden!«
Die Anspielung auf eine berühmte Abstimmung rief Beifall hervor. Dussardier entkorkte eine Flasche Bier; der Schaum bespritzte die Gardinen, er achtete nicht darauf, er stopfte die Pfeifen, zerschnitt das Gebäck und bot davon an, einige Male war er hinuntergegangen, um zu sehen, ob der Punsch nicht käme. Und alle stimmten überein in dem Haß gegen die Ungerechtigkeit und der Entrüstung über die Regierung, warfen aber berechtigte Beschwerden mit den törichtesten Vorwürfen durcheinander.
Der Apotheker schimpfte über den jammervollen Zustand der Flotte. Der Versicherungsagent wollte die beiden Schildwachen des Marschalls Soult nicht dulden. Deslauriers klagte die Jesuiten an, die sich eben öffentlich in Lille installiert hatten. Sénécal verabscheute Monsieur Cousin; denn der Eklektizismus, der lehrt, aus dem Anerkannten das Wahre zu folgern, entwickele Egoismus und zerstöre die Solidarität; der Weinreisende, der wenig von diesen Materien verstand, bemerkte lärmend, daß er wohl diese Niederträchtigkeit vergesse:
»Der königliche Wagen auf der Nordbahn kostete achtzigtausend Francs! Wer bezahlt das?«
»Ja, wer bezahlt's?« wiederholte der Handlungsgehilfe entrüstet, als hätte man das Geld aus seiner Tasche genommen.
Dann folgten Beschuldigungen gegen die habgierigen Wucherer der Börse und die Korruption der Beamten. Sénécal meinte, man müßte viel höher hinauf und vor allem die Fürsten anklagen, die die Sitten der Regierungszeit Philipps von Orléans wieder aufleben ließen.
»Sahen Sie neulich nicht die Freunde des Herzogs von Montpensier aus Vincennes zurückkommen, berauscht ohne Zweifel, und die Arbeiter des Faubourg Saint-Antoine durch ihre Lieder in Aufruhr bringen?«
»Man schrie sogar: Nieder mit den Dieben!« sagte der Apotheker. »Ich war dabei, ich habe mitgeschrien!«
»Um so besser! das Volk beginnt seit dem Prozeß Teste-Cubières endlich aufzuwachen.«
»Ich bin traurig über diesen Prozeß,« sagte Dussardier, »weil er einen alten Soldaten entehrt.«
»Wissen Sie,« fuhr Sénécal fort, »daß man bei der Herzogin von Praslin entdeckt hat ...«
Plötzlich wurde die Tür mit dem Fuße aufgestoßen. Hussonnet trat ein.
»Seien Sie mir gegrüßt, meine Herren!« sagte er und setzte sich aufs Bett.
Es wurde keine Anspielung auf seinen Artikel gemacht, den er übrigens bereute, denn die Marschallin hatte ihn deswegen tüchtig gescholten.
Er kam aus dem Theater, wo er den »Chevalier de Maison-Rouge« von Dumas gesehen hatte, den er »langweilig« fand.
Ein solches Urteil überraschte die Demokraten, – da dieses Drama durch seine Tendenz, mehr noch durch seine Ausstattung ihren Leidenschaften schmeichelte. Sie widersprachen. Sénécal fragte, um ein Ende zu machen, ob das Stück der Demokratie diene.
»Ja ... vielleicht; aber es hat einen Stil ...«
»Einerlei, es ist also gut; was ist Stil? auf die Idee kommt es an!«
Und ohne Frédéric zu Worte kommen zu lassen, fuhr er fort:
»Ich behauptete also, daß in der Affaire Praslin ...« Hussonnet unterbrach ihn.
»Ah! das ist wieder so abgedroschenes Zeug! Es langweilt mich!«
»Und andere auch!« erwiderte Deslauriers. »Nicht weniger als fünf Zeitungen haben sich dessen bemächtigt! Hören Sie diese Notiz.«
Und nachdem er sein Taschenbuch hervorgezogen hatte, las er:
»Wir haben seit der Gründung der besten der Republiken zwölfhundertneunundzwanzig Preßprozesse überstanden, bei denen sich für die Schriftsteller dreitausend hunderteinundvierzig Jahre Gefängnis nebst der kleinen Summe von sieben Millionen hundertzehntausendfünfhundert Francs Geldstrafen ergaben. – Niedlich, was?«
Alle lachten bitter. Erregt wie die anderen rief Frédéric:
»Die Democratie pacifique hat einen Prozeß wegen ihres Feuilletons, einem Roman mit dem Titel ›Der Anteil der Frauen‹.«
»Sehr gut!« sagte Hussonnet. »Wenn man uns unsern Anteil an den Frauen auch noch verbietet!«
»Aber was wird nicht alles verboten!« rief Deslauriers. »Es ist verboten, im Luxembourg zu rauchen, verboten, die Hymne auf Pius IX. zu singen!«
»Und das Bankett der Buchdrucker wird untersagt!« fiel eine dumpfe Stimme ein.
Es war die des Architekten, der bis jetzt schweigend im Schatten des Alkovens versteckt gesessen hatte. Er fügte hinzu, daß man in der vorigen Woche einen gewissen Rouget wegen Majestätsbeleidigung verurteilt hatte.
»Rouget ist futsch!« sagte Hussonnet.
Diese Äußerung schien Sénécal so unpassend, daß er ihm vorwarf, »den Jongleur des Stadthauses, den Freund des Verräters Dumouriez«, zu verteidigen.
»Ich? Im Gegenteil!«
Er fand Louis-Philippe altmodisch wie einen Nationalgardisten, spießbürgerlich und schlafmützig wie nur einen. Und die Hand aufs Herz drückend, gab der Bohémien diese feierlichen Sätze zum besten: »Immer mit neuem Vergnügen ... – Die polnische Nationalität wird nicht untergehen ... – Unsere großen Werke werden verfolgt ... Gebt mir Geld für meine Kleinen ...« Alle lachten sehr und nannten ihn einen köstlichen Kerl voll Geist; das Vergnügen verdoppelte sich beim Anblick der Punschbowle, die ein Schankwirt brachte.
Die Glut des Alkohols und die der Kerzen machten das Zimmer bald warm; und das Licht der Mansarde, das über den Hof fiel, erhellte gegenüber den Rand eines Daches mit einem Schornstein, der sich schwarz gegen die Nacht abhob. Sie sprachen sehr laut, alle durcheinander; sie hatte ihre Röcke ausgezogen, schlugen auf die Möbel, stießen mit den Gläsern an.
Hussonnet rief:
»Laßt vornehme Damen heraufkommen wie in der › Tour de Nesle‹, Lokalfarbe, rembrandtsch, zum Kuckuck!«
Und der Apotheker, der unaufhörlich den Punsch umrührte, stimmte aus voller Brust an:
»Ich hab' im Stall zwei große Ochsen,
zwei große, weiße Ochsen ...«
Sénécal legte ihm die Hand auf den Mund, er liebte den Lärm nicht; und die Mieter waren, überrascht durch das ungewohnte Gepolter in der Wohnung Dussardiers, schon an ihren Fenstern erschienen.
Der brave Bursche war glücklich und sagte, daß ihn dies an ihre kleinen Abende früher am Quai Napoleon erinnere; mehrere fehlten jedoch, »wie z. B. Pellerin ...«
»Wir können ihn entbehren,« erwiderte Frédéric.
Deslauriers erkundigte sich nach Martinon.
»Was ist aus diesem interessanten Herrn geworden?«
In seinem Groll gegen ihn griff Frédéric alsbald seinen Verstand, seinen Charakter, seine falsche Eleganz, den ganzen Menschen an. Das sei ein echter Typ des emporgekommenen Bauern! Die neue Aristokratie, die Bourgeoisie komme der alten, dem Adel nicht gleich. Die Demokraten stimmten seiner Behauptung bei, – als ob er zu der einen gehörte und sie mit der andern häufig in Berührung kämen. Sie waren entzückt von ihm. Der Apotheker verglich ihn sogar mit Monsieur d'Alton-Shée, der die Sache des Volkes verteidigte, obwohl er Pair von Frankreich war.
Die Stunde des Abschieds war gekommen. Alle trennten sich mit kräftigem Händeschütteln; Dussardier begleitete aus Rührung Frédéric und Deslauriers. Unten auf der Straße schien der Advokat zu überlegen und sagte nach einem Moment des Schweigens:
»Du zürnst Pellerin also sehr?«
Frédéric machte kein Hehl aus seinem Groll.
Allein der Maler hatte das berüchtigte Bild aus dem Schaufenster zurückgezogen. Man müsse sich nicht um solcher Lappalien willen entzweien! Wozu sich einen Feind machen?
»Er hatte einer augenblicklichen Laune nachgegeben, das ist bei einem Menschen, der keinen Sou hat, zu entschuldigen. Du kannst das natürlich nicht begreifen!«
Und da Deslauriers mit heraufgekommen war, ließ der Kommis Frédéric nicht mehr los; er forderte sogar von ihm, daß er das Bild kaufe. Denn Pellerin hatte, als er die Hoffnung aufgeben mußte, ihn einzuschüchtern, die jungen Leute für sich gewonnen, damit Frédéric um ihretwillen das Bild nehme.
Deslauriers fing jetzt wieder davon an. Die Ansprüche des Künstlers seien berechtigt.
»Ich bin sicher, daß mit fünfhundert Francs vielleicht ...«
»Na, meinetwegen! hier, da hast du sie,« sagte Frédéric.
Am selben Abend wurde das Bild gebracht. Es schien ihm noch scheußlicher als das erste Mal. Die Halbtöne und Schatten waren durch zu zahlreiche Retouchen bleiern geworden und schienen im Gegensatz zu den Lichtern, die hier und da hervorleuchteten, zu dunkel.
Frédéric rächte sich durch herben Tadel für den Kauf. Deslauriers stimmte seinen Worten bei, denn er hatte immer noch den Ehrgeiz, eine Vereinigung zu gründen, deren Leiter er sein sollte; gewisse Menschen haben Freude daran, ihre Freunde zu Dingen zu veranlassen, die ihnen unangenehm sind.
Indessen war Frédéric nicht wieder zu den Dambreuses gegangen. Ihm fehlten die Kapitalien. Es wäre zu endlosen Erklärungen gekommen; er schwankte, sich zu entscheiden. Ob er wohl recht tat? Nichts war jetzt sicher, die Sache mit den Kohlengruben ebensowenig wie eine andere; er mußte alles dies aufgeben; schließlich brachte Deslauriers ihn von dem Unternehmen ab. Aus Haß wurde er gerecht, und außerdem liebte er Frédéric mehr in mittelmäßigem Wohlstand. Er wurde so seinesgleichen und im Verkehr viel intimer mit ihm.
Der Austrag für Mademoiselle Roque war sehr schlecht ausgeführt worden. Ihr Vater teilte es ihm mit, fügte die genaueste Beschreibung bei und schloß seinen Brief mit dem Scherz: »Auf die Gefahr hin, Ihnen eine Negerkrankheit zu verschaffen.«
Frédéric blieb nichts anderes übrig, als wieder zu Arnoux zu gehen. Er ging in das Magazin hinauf und fand niemand. Da das Geschäft einging, nahmen die Angestellten sich die Nachlässigkeit ihres Herrn zum Muster.
Er schritt an dem langen, mit Fayencen beladenen Gestell vorbei, das von einem Ende zum andern die Mitte des Raumes einnahm; dann, hinten vor dem Kontor angelangt, trat er fester auf, um gehört zu werden.
Die Portiere wurde zurückgeschoben und Madame Arnoux erschien.
»Wie, Sie sind hier! Sie!«
»Ja,« stammelte sie ein wenig verstört. »Ich suchte ...«
Er bemerkte ihr Taschentuch auf dem Pult und erriet, daß sie zu ihrem Manne heruntergekommen war, um Rechenschaft zu fordern.
»Aber ... Sie brauchen vielleicht etwas,« sagte sie.
»Eine Kleinigkeit nur.«
»Diese Kommis sind unerträglich; sie sind nie zu finden.«
Man sollte sie nicht tadeln. Im Gegenteil, er beglückwünsche sich zu diesem glücklichen Zufall.
Sie betrachtete ihn ironisch.
»Nun, und die Heirat?«
»Welche Heirat?«
»Ihre!«
Sie machte eine ungläubige Miene.
»Und wenn es übrigens so wäre? Man flüchtet zum Mittelmäßigen, weil man hoffnungslos an dem Schönen verzweifelt, von dem man geträumt!«
»Doch nicht alle Ihre Träume waren wohl so rein!«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Wenn Sie mit solchen »Damen« zu den Rennen fahren ...«
Er verwünschte die Marschallin. Eine Erinnerung kam ihm.
»Aber Sie selbst haben mich doch früher gebeten, sie im Interesse Arnoux' zu besuchen!«
Sie erwiderte mit mißbilligendem Kopfschütteln:
»Und Sie benutzten es, sich zu amüsieren.«
»Mein Gott, vergessen wir diese Dummheiten.«
»Das ist richtig, da Sie sich verheiraten wollen!«
Und sie unterdrückte einen Seufzer, indem sie sich in die Lippen biß.
Da rief er aus:
»Aber ich wiederhole Ihnen, daß ich es nicht tue! Können Sie glauben, daß ich mit meinen geistigen Bedürfnissen, mit meinen Gewohnheiten mich in der Provinz begraben würde, um Karten zu spielen, Maurer zu beaufsichtigen und in Holzschuhen zu gehen! Zu welchem Zweck denn? Man hat Ihnen erzählt, daß sie reich ist, nicht wahr? O! ich mache mir aus dem Gelde nichts! Sollte ich, nachdem ich das Schönste, Zarteste, Bezauberndste, ein Paradies auf Erden ersehnt und da ich es endlich fand, dieses Ideal, da diese Vision alles andere in Schatten stellt ...«
Und er nahm ihren Kopf in seine beiden Hände, küßte ihre Lider und wiederholte:
»Nein! nein! nein! niemals werde ich mich verheiraten! nie! nie!«
Da nahm sie überrascht und vor Entzücken erstarrt seine Zärtlichkeit hin.
Die Tür des Magazins an der Treppe fiel zu. Sie fuhr zusammen und blieb mit ausgestreckter Hand stehen, wie um ihm Schweigen zu gebieten. Schritte näherten sich. Dann sagte draußen jemand:
»Ist Madame Arnoux da?«
»Herein!«
Sie stützte den Ellbogen auf den Schreibtisch und rollte gelassen eine Feder zwischen den Fingern, als der Buchhalter die Portiere öffnete.
Frédéric erhob sich:
»Madame, ich habe die Ehre. Das Service wird fertig sein, nicht wahr? ich kann darauf rechnen?«
Sie erwiderte nichts. Aber bei diesem stillschweigenden Einverständnis erglühte ihr Antlitz, als begehe sie einen Ehebruch.
Am nächsten Tage ging er wieder zu ihr, er wurde empfangen; und um seinen Vorteil wahrzunehmen, begann Frédéric sogleich, ohne Umschweife sich wegen der Begegnung auf dem Champ de Mars zu rechtfertigen. Der Zufall allein habe ihn mit dieser Frau zusammengeführt. Er gebe zu, daß sie hübsch sei (was sie eigentlich nicht war), wie könnte sie aber auch nur einen Augenblick seine Gedanken fesseln, da er eine andere liebte!
»Sie wissen es wohl, ich habe es Ihnen gesagt.«
Madame Arnoux senkte den Kopf.
»Ich bin böse, baß Sie es mir gesagt haben.«
»Warum?«
»Der einfachste Anstand erfordert jetzt, daß ich Sie nicht mehr wiedersehe!«
Er beteuerte die Reinheit seiner Liebe. Die Vergangenheit müsse ihr für die Zukunft bürgen; er habe sich selbst gelobt, ihre Existenz nicht zu zerstören, sie nicht mit Klagen zu bestürmen.
»Doch gestern, da floß mein Herz über.«
»Wir dürfen an diesen Augenblick nicht mehr denken, mein Freund!«
Aber was ist denn Schlimmes daran, wenn zwei arme Wesen ihren Kummer vereinen?
»Denn Sie sind auch nicht glücklich! O, ich kenne Sie, Sie haben niemand, der Ihrem Verlangen nach Zärtlichkeit, nach Hingebung entspricht; ich werde alles tun, was Sie wollen! Ich werde Sie nicht verletzen! ... ich schwöre es Ihnen!«
Und er sank auf die Knie, wider seinen Willen von einer inneren, zu schweren Last niedergedrückt.
»Stehen Sie auf!« sagte sie, »ich will es!«
Und sie erklärte ihm gebieterisch, daß, wenn er nicht gehorche, er sie niemals wiedersehen würde.
»Das werden Sie mir nicht antun!« erwiderte Frédéric. »Was bleibt mir dann auf dieser Welt? Andere streben nach Reichtum und Ruhm und Macht! Ich, ich habe keinen Beruf, Sie allein füllen mein ganzes Wesen aus. Sie sind mein ganzes Glück, das Ziel, der Mittelpunkt meines Daseins, meiner Gedanken. Ich kann ohne Sie nicht leben, ebensowenig wie ohne Himmelslust! Fühlen Sie denn nicht das Sehnen meiner Seele nach der Ihren, nicht, daß sie sich vereinen müssen, daß ich daran sterbe?«
Madame Arnoux begann an allen Gliedern zu zittern.
»O, gehen Sie, ich bitte Sie darum!«
Der verstörte Ausdruck ihres Gesichts hielt ihn zurück. Dann machte er einen Schritt auf sie zu. Aber sie wich ihm aus, indem sie die Hände faltete.
»Lassen Sie mich! Um Gottes willen! Barmherzigkeit!«
Und Frédéric liebte sie so sehr, daß er ging. Bald zürnte er sich selber, nannte sich einen Dummkopf, und vierundzwanzig Stunden später kam er wieder.
Madame Arnoux war nicht da. Er blieb auf dem Treppenabsatz stehen, außer sich vor Wut und Entrüstung. Arnoux erschien und teilte ihm mit, daß seine Frau an diesem Morgen abgereist sei, um sich in einem kleinen Landhaus einzurichten, das sie in Auteuil gemietet hatten, da sie das in Saint-Cloud nicht mehr besaßen.
»Das ist wieder eine ihrer Launen! Schließlich, wenn es ihr paßt, und mir übrigens auch; umso besser! Essen wir heute abend zusammen?«
Frédéric schützte ein dringendes Geschäft vor, dann eilte er nach Auteuil.
Madame Arnoux entschlüpfte ein Freudenschrei. All sein Groll schwand hin.
Er sprach gar nicht von seiner Liebe. Um ihr mehr Vertrauen einzuflößen, übertrieb er sogar seine Zurückhaltung; und als er fragte, ob er wiederkommen dürfe, antwortete sie: »Aber selbstverständlich!« indem sie ihm die Hand reichte, die sie aber gleich wieder zurückzog.
Von nun an wurden Frédérics Besuche immer häufiger. Er versprach dem Kutscher reiche Trinkgelder. Doch oft machte die Langsamkeit des Pferdes ihn ungeduldig und er stieg aus; dann kletterte er außer Atem in einen Omnibus; und wie musterte er verächtlich die Leute darin, die nicht zu ihr fuhren!
Schon von fern erkannte er ihr Haus an einem mächtigen Caprifolium, das an einer Seite die Dachbalken völlig verdeckte; es war eine Art Schweizerhaus, rot gestrichen, mit einem Balkon ringsum. Im Garten standen drei alte Kastanienbäume, und in der Mitte, auf einer Anhöhe, ein schirmförmiges Strohdach, von einem Baumstamm gehalten. An der Mauer hingen schlecht befestigte Weinranken wie zerfaserte Stricke. Die Glocke am Gitter, ein wenig schwer zu ziehen, läutete lange, und es währte immer eine Weile, ehe geöffnet wurde. Jedesmal empfand er eine Angst, eine unbestimmte Furcht.
Endlich hörte er auf dem Sande die Pantoffeln des Mädchens; oder auch Madame Arnoux selbst zeigte sich. Eines Tages trat er hinter sie, als sie, auf den Rasenplatz gebückt, Veilchen suchte.
Die launische Gemütsart ihrer Tochter hatte sie genötigt, sie ins Kloster zu geben. Ihr Junge verbrachte den Nachmittag in einer Schule, Arnoux frühstückte häufig lange mit Regimbart und dessen Freund Compaing im Palais-Royal. Kein Lästiger konnte sie überraschen.
Es war selbstverständlich, daß sie sich nicht angehören dürften. Diese Übereinkunft, die sie vor Gefahr bewahrte, erleichterte ihren Verkehr.
Sie sprach von ihrem früheren Leben in Chartres, bei ihrer Mutter, von ihrer Frömmigkeit bis zu ihrem zwölften Jahre dann von ihrer Musikleidenschaft, wie sie bis in die Nacht hinein in ihrem kleinen Zimmer, von wo aus man die Wälle übersah, gesungen hatte. Er erzählte ihr von seiner Melancholie auf der Schule, und wie an seinem poetischen Himmel ein Frauenantlitz geleuchtet, so deutlich, daß er es, als er sie das erste Mal erblickte, in ihr wiedererkannte.
Diese Gespräche umfaßten gewöhnlich nur die Jahre ihrer Bekanntschaft. Er erinnerte sie an unbedeutende Kleinigkeiten, an die Farbe eines Kleides zu einer bestimmten Zeit, an Personen, die eines Tages gekommen waren, an Worte, die sie zu anderen Malen gesagt hatte; und sie erwiderte, aufs höchste verwundert:
»Ja, ich erinnere mich!«
Ihr Geschmack, ihre Urteile waren die gleichen. Oft rief der, der dem andern zuhörte, aus:
»Ich auch!«
Und der andere wiederholte:
»Ich auch!«
Dann kamen endlose Klagen über die Vorsehung:
»Warum hatte der Himmel es nicht gewollt! Wären wir uns begegnet! ...«
»Ach! wenn ich jünger wäre!« seufzte sie.
»Nein, ich ein wenig älter!«
Und sie stellten sich ein Leben vor, das ausschließlich der Liebe geweiht war, reich genug, um die tiefste Einsamkeit auszufüllen, alle Freuden zu überwiegen, allem Kummer zu trotzen, darin die Stunden in ununterbrochener gegenseitiger Hingabe schwanden, und das strahlend und erhaben war wie das Flimmern der Sterne.
Fast immer hielten sie sich im Freien oben auf dem Altan auf; die herbstlich gilbenden Baumwipfel wölbten sich ungleichmäßig vor ihnen bis zum Rande des blassen Himmels: oder sie gingen auch bis zum Ende der Allee in einen Pavillon, in dem als einziges Möbel ein graues Leinensofa stand. Schwarze Punkte befleckten die Scheiben; die Wände strömten einen Geruch von Schimmel aus! – und sie saßen dort, plauderten mit Entzücken von sich, von anbeten, von irgend etwas. Zuweilen fielen die Sonnenstrahlen durch die Jalousien wie Saiten einer Lyra von der Decke bis zum Fußboden, Staubkörnchen wirbelten in den leuchtenden Streifen. Es machte ihr Spaß, sie mit der Hand zu durchschneiden; – Frédéric ergriff sie sanft und betrachtete die verschlungenen Adern, die Poren ihrer Haut, die Form ihrer Finger. Jeder ihrer Finger war für ihn mehr als ein Gegenstand», fast ein Wesen für sich.
Sie schenkte ihm ihre Handschuhe, eine Woche darauf ihr Taschentuch. Sie nannte ihn »Frédéric«, er sie »Marie«, er vergötterte diesen Namen, der, wie er meinte, eigens dazu geschaffen war, in Verzückung hingehaucht zu werden, der, wie mit Rosen bestreut, Wolken von Weihrauch auszuströmen schien.
Sie kamen überein, den Tag seiner Besuche vorher festzusetzen, und indem sie wie zufällig ausging, kam sie ihm auf dem Wege entgegen.
Verloren in der Sorglosigkeit, die ein großes Glück kennzeichnet, tat sie nichts, seine Liebe anzufeuern. Während des ganzen Sommers trug sie ein Hauskleid von brauner Seide, mit Samt von gleicher Farbe besetzt, ein weites Gewand, das gut zu der Weichheit ihrer Bewegungen und dem Ernst ihres Gesichtes paßte, überdies näherte sie sich dem Spätsommer der Frauen, jener Zeit der Überlegung und Innigkeit zugleich, wo mit Beginn der Reise der Blick ein tieferes Feuer ausstrahlt, die Glut des Herzens sich mit der Lebenserfahrung eint, und wo am Ende seiner Entfaltung das vollkommene Wesen in der Harmonie seiner Schönheit von Reichtum überfließt. Nie war sie anmutiger und milder. In der Sicherheit, sich nicht zu vergessen, überließ sie sich einem Gefühl, auf das sie durch ihren Kummer ein Recht erworben zu haben meinte. Es war überdies so schön, so neu! Welch ein Abgrund zwischen der Derbheit Arnoux' und Frédérics Verehrung!
Er bangte, durch ein Wort alles zu verlieren, was er gewonnen zu haben glaubte, und sagte sich, daß man eine Gelegenheit immer ergreifen, aber eine Dummheit niemals wieder Gut machen könne. Er wünschte, daß sie sich gebe, aber nicht, sie zu nehmen. Die Beteuerung ihrer Liebe entzückte ihn wie ein Vorgeschmack des Besitzes, und dann berührte der Reiz ihrer Persönlichkeit mehr sein Herz als die Sinne. Es war eine unendliche Glückseligkeit, ein solcher Rausch, daß er darüber die Möglichkeit eines absoluten Glückes fast vergaß. Fern von ihr jedoch verzehrte ihn rasende Begierde.
Bald gab es bei ihren Gesprächen lange Pausen des Schweigens. Zuweilen ließ eine sexuelle Scham einen vor dem andern erröten. Alle Vorsicht, ihre Liebe zu verbergen, enthüllte sie immer mehr; je stärker sie wurde, desto zurückhaltender wurde ihr Benehmen. Unter dem Zwang einer solchen Lüge steigerte sich ihr Empfinden. Sie genossen den köstlichen Duft des feuchten Laubes, sie litten unter dem Ostwind, sie kamen ohne Ursache in gereizte Stimmung, hatten düstere Vorahnungen; das Geräusch von Schritten, ein Knacken im Getäfel verursachte ihnen Schrecken, als wären sie Schuldige; sie glaubten sich an einen Abgrund gedrängt; Gewitteratmosphäre umhüllte sie; und wenn Frédéric Klagen entschlüpften, gab sie sich selbst die Schuld.
»Ja, ich tue unrecht! ich bin wie eine Kokette! Kommen Sie nicht mehr!«
Dann wiederholte er dieselben Beteuerungen, die sie jedesmal mit Freuden anhörte.
Ihre Rückkehr nach Paris und die Unruhe des Neujahrsfestes unterbrachen ihre Zusammenkünfte ein wenig; Als er wiederkam, hatte er in seinem Auftreten etwas Kühneres. Sie ging jeden Augenblick hinaus, um Befehle zu erteilen, und empfing trotz seiner Bitten alle Leute, die sie besuchten. Man unterhielt sich dann über Léotade, Monsieur Guizot, den Papst, den Aufstand von Palermo und das Bankett des XII. Arrondissements, das Beunruhigung einflößte. Frédéric entschädigte sich damit, daß er auf die Regierung schimpfte; denn er wünschte, wie Deslauriers einen allgemeinen Umsturz, so verbittert war er jetzt. Madame Arnoux ihrerseits war verstimmt.
Ihr Mann, der zu Extravaganzen neigte, unterhielt eine Fabrikarbeiterin, dieselbe, die man die Bordelaisin nannte. Madame Arnoux selbst teilte es Frédéric mit. Er wollte ihr hierdurch beweisen, daß sie betrogen wurde.
»O, ich kümmere mich nicht darum,« sagte sie.
Diese Erklärung schien ihm ihre Intimität vollkommen zu bestätigen. Argwöhnte Arnoux etwas?
»Nein, jetzt nicht!«
Sie erzählte ihm, daß er sie eines Abends allein gelassen hatte, dann wiedergekommen sei und hinter der Tür gehorcht hatte, wie sie beide über ganz gleichgültige Dinge sprachen; seit dieser Zeit lebte er in voller Sicherheit.
»Mit Recht, nicht wahr?« sagte Frédéric bitter.
»Ja, freilich!«
Sie hätte besser getan, nicht ein solches Wort zu riskieren.
Eines Tages war sie zu der Stunde, da er gewöhnlich kam, nicht zu Haus. Das war für ihn wie ein Verrat.
Er ärgerte sich, daß die Blumen, die er brachte, in ein Glas Wasser gestellt wurden.
»Wo wollen Sie sie denn haben?«
»Ach, nicht dort! Übrigens haben sie es da aber weniger kalt als an Ihrem Herzen.«
Einige Zeit darauf machte er ihr Vorwürfe, daß sie am vorigen Tage in der Italienischen Oper gewesen sei, ohne ihn davon zu benachrichtigen, andere hatten sie gesehen, bewundert, vielleicht geliebt; Frédéric klammerte sich nur an seine Zweifel, um mit ihr zu zanken, sie zu quälen; denn er begann sie zu hassen, und es war wohl nicht zu viel, wenn sie einen Teil seiner Leiden trug!
Eines Nachmittags (gegen Mitte Februar), traf er sie sehr erregt an. Eugene klagte über Halsweh. Zwar hatte der Arzt gesagt, es sei nichts als ein starker Katarrh, eine Grippe. Frédéric war erstaunt über das fieberische Aussehen des Kindes. Nichtsdestoweniger beruhigte er die Mutter, zählte als Beispiel verschiedene kleine Kinder auf, die an ähnlichen Anfällen gelitten und schnell gesund geworden waren.
»Wirklich?«
»Freilich, ganz gewiß!«
»Ach, wie gut Sie sind!«
Und sie reichte ihm die Hand. Er preßte sie in der seinen.
»Ach! Lassen Sie das!«
»Was tut es, es ist doch der Tröster, dem Sie sie reichen! ... Sie glauben mir in diesen Dingen, und Sie zweifeln an mir ... wenn ich Ihnen von meiner Liebe spreche!«
»Ich zweifle nicht daran, mein armer Freund!«
»Warum dieses Mißtrauen, als ob ich ein Elender wäre, fähig, Mißbrauch zu treiben! ...«
»O nein!«
»Wenn ich nur einen Beweis hätte! ...«
»Welchen Beweis?«
»Den man dem ersten besten geben würde, den Sie mir selbst einmal gegeben haben.«
Und er erinnerte sie daran, wie sie einmal an einem Winterabend bei Nebelwetter zusammen ausgegangen waren. Das alles lag jetzt so fern! Wer hinderte sie denn, sich an seinem Arm zu zeigen, vor aller Welt, ohne Furcht von ihrer Seite, ohne Hintergedanken von der seinen, da niemand sie belästigen konnte.
»Es sei!« sagte sie mit einer tapferen Entschiedenheit, die Frédéric zuerst verblüffte. Aber er erwiderte lebhaft: »Wollen Sie, daß ich Sie an der Ecke der Rue Tronchet und bei Rue de la Ferme erwarte?«
»Mein Gott, mein Freund ... stammelte Madame Arnoux.
Ohne ihr Zeit zur Überlegung zu geben, fügte er hinzu:
»Am nächsten Dienstag, schlage ich vor?«
»Dienstag?«
»Ja, zwischen zwei und drei Uhr!«
»Ich werde dort sein!«
Und beschämt wandte sie ihr Gesicht ab.
Frédéric drückte seine Lippen auf ihren Nacken.
»O! das ist nicht schön,« sagte sie. »Sie zwingen mich, es zu bereuen.«
Er ging aus Furcht vor der bekannten Veränderlichkeit der Frauen. Dann auf der Schwelle murmelte er leise, als spreche er von einer verabredeten Sache:
»Auf Dienstag!«
Sie senkte die Augen, zurückhaltend und resigniert.
Frédéric hatte einen Plan.
Er hoffte, sie in Regen oder Sonnenschein unter einer Tür aufhalten zu können, und einmal in der Tür, würde sie auch ins Haus eintreten. Die Schwierigkeit bestand darin, ein passendes zu finden.
Er machte sich also ans Suchen, und etwa mitten in der Rue Tronchet las er von weitem auf einem Schild: »Möblierte Zimmer.«
Der Diener, der seine Absicht verstand, zeigte ihm im Zwischenstock ein Zimmer und ein Kabinett mit zwei Ausgängen. Frédéric nahm sie für einen Monat und bezahlte im voraus.
Dann ging er in drei Geschäfte, um die seltensten Parfümerien zu kaufen; er verschaffte sich ein Stück unechter Guipure anstatt der furchtbaren rotbaumwollenen Bettdecken und wählte ein Paar blauer Atlas-Pantöffelchen; allein in der Furcht, plump zu erscheinen, beschränkte er seine Einkäufe; er kam dann damit an, – und andächtiger als man einen Altar schmückt, stellte er die Möbel um, drapierte er selbst die Vorhänge, stellte Ginster auf den Kamin und Veilchen auf die Kommode; er hätte das Zimmer ganz mit Gold pflastern mögen. »Morgen,« sagte er sich, »ja, morgen! ich träume nicht.« Und er fühlte sein Herz unter dem Rausch seiner Hoffnung in harten Schlägen hämmern; dann, als alles bereit war, nahm er den Schlüssel an sich, als könne das Glück, das dort schlief, sonst entfliehen.
Ein Brief seiner Mutter erwartete ihn zu Haus:
»Warum eine so lange Abwesenheit? Dein Betragen beginnt lächerlich zu erscheinen. Ich begreife, daß du anfangs gewissermaßen vor dieser Verbindung gezögert hast; doch überlege dir's!«
Und sie schilderte die Sachlage genau: Fünfundvierzigtausend Francs Rente. Überdies »man sprach davon«, und Monsieur Roque erwartete eine definitive Antwort. »Was die junge Person anbetrifft, so ist ihre Lage wahrhast mißlich. Sie liebt dich sehr!«
Frédéric warf den Brief hin, ohne ihn zu Ende zu lesen, und öffnete einen andern, ein Billet von Deslauriers:
»Mein lieber Alter.
»Die Sache ist reif. Deinem Versprechen gemäß rechnen wir auf dich. Zusammenkunft morgen bei Tagesgrauen. Place du Pantheon. Komme ins Café Soufflot. Ich muß dich vor der Manifestation sprechen.«
»O, ich kenne sie, ihre Manifestationen. Danke schön! ich habe ein angenehmeres Stelldichein.«
Und am folgenden Tage um elf Uhr machte Frédéric sich auf den Weg. Er wollte noch einen letzten Blick auf die Vorbereitungen werfen; denn, wer weiß, sie konnte durch irgendeinen Zufall früher da sein? Als er aus der Rue Tronchet trat, hörte er hinter der Madeleine einen großen Lärm; er ging weiter und bemerkte hinten auf dem Platz zur Linken Arbeiter und Bürger.
In der Tat hatte ein in den Zeitungen veröffentlichtes Manifest alle Teilnehmer der Reformisten an dieser Stelle zusammenberufen. Das Ministerium hatte es unmittelbar darauf durch einen Erlaß verboten. Am gestrigen Abend hatte daher die parlamentarische Gegenpartei daraus verzichtet; aber die Patrioten, die von diesem Beschluß der Führer nichts wußten, waren, von einer großen Menge Neugieriger gefolgt, zu der Zusammenkunst gekommen. Eine Deputation der Hochschulen hatte sich sogleich zu Odillon Barrot begeben. Sie war jetzt im Ministerium des Äußern; und man wußte nicht, ob das Bankett stattfinden würde, ob die Regierung ihre Drohung verwirklichen, die Nationalgarden sich einstellen würden. Man ärgerte sich über die Deputation wie über die Regierung. Die Menge wuchs mehr und mehr an, als plötzlich der Refrain der Marseillaise in der Lust zitterte.
Es war die Kolonne der Studenten, die anlangte. Sie marschierten im Schritt, in zwei Reihen, in bester Ordnung, erregt, mit bloßen Händen, und alle riefen von Zeit zu Zeit:
»Es lebe die Reform! nieder mit Guizot!«
Die Freunde Frédérics waren sicher dabei. Sie würden ihn bemerken und veranlassen, mitzugehen; und er flüchtete sich schnell in die Rue de l'Arcade.
Als die Studenten zweimal um die Madeleine gegangen waren, schritten sie zur Place de la Concorde. Sie war voller Menschen, und die gedrängte Menge glich von fern einem schwarzen, wogenden Ährenfeld.
Im selben Augenblick ordneten sich links von der Kirche Linien-Soldaten zum Angriff.
Die Gruppen blieben indessen aus ihrem Platz. Um ein Ende zu machen, ergriffen Polizeibeamte in Zivil die Widerspenstigen und führten sie gewaltsam auf die Wache. Frédéric blieb trotz seiner Entrüstung stumm; man hätte ihn mit den anderen fortführen können, und er hätte dann Madame Arnoux verfehlt.
Kurz darauf erschienen die Helme der Munizipalgardisten. Sie schlugen mit flachem Säbel um sich. Ein Pferd stürzte; man lief herbei, um ihm Hilfe zu bringen; und als der Reiter wieder im Sattel saß, flohen alle.
Nun trat eine tiefe Stille ein. Der seine Regen, der den Asphalt angefeuchtet hatte, fiel nicht mehr. Die Wolken schwanden, von dem Ostwind weggefegt.
Frédéric durcheilte die Rue Tronchet, indem er vor und hinter sich blickte.
Endlich schlug es zwei Uhr.
»Ah! jetzt!« sagte er sich, »jetzt geht sie von Hause fort, sie kommt,« und eine Minute später: »Sie könnte schon hier sein.« Bis drei Uhr versuchte er ruhig zu sein. »Nein, sie verspätet sich nicht, ein wenig Geduld!«
Und zum Zeitvertreib musterte er die wenigen Läden: eine Buchhandlung, eine Sattlerei, ein Trauer-Magazin. Bald wußte er die Namen aller Werke, aller Ledergeräte, aller Stoffe. Die Kaufleute, die ihn fortwährend hin und her gehen sahen, waren anfangs erstaunt, dann erschrocken und schlossen ihre Schaufenster.
Ohne Zweifel war sie verhindert worden und litt auch darunter. Aber welche Wonne hernach! – Denn sie würde kommen, das war gewiß! »Sie hat es mir doch versprochen!« Allein eine unerträgliche Angst überkam ihn.
In einer unsinnigen Anwandlung ging er wieder ins Hotel zurück, als ob sie dort sein könnte. In demselben Augenblick trat sie vielleicht in die Straße. Er stürzte hin. Niemand! Und wieder begann er auf und ab zu gehen.
Er betrachtete die Spalten im Pflaster, den Ausfluß der Dachrinnen, die Laternen, die Hausnummern über den Türen. Die winzigsten Gegenstände wurden zu Gefährten für ihn oder eher zu spöttischen Zuschauern; und die regelmäßigen Fassaden der Häuser schienen ihm unbarmherzig. Er litt unter der Kälte an den Füßen, fühlte sich erschöpft vor Ermattung, und die rückwirkende Erschütterung seiner Schritte spürte er im Gehirn.
Als er auf seiner Uhr sah, daß es vier war, überkam ihn ein Schwindel, ein Schrecken. Er versuchte, sich Verse zu wiederholen, irgend etwas zu berechnen, eine Geschichte zu ersinnen. Unmöglich! er war besessen von dem Bilde Madame Arnoux'. Am liebsten wäre er ihr entgegengelaufen. Aber welchen Weg wählen, um sich nicht zu verfehlen?
Er hielt einen Dienstmann an, drückte ihm fünf Francs in die Hand und beauftragte ihn, nach der Rue de Paradis zu gehen, zu Jacques Arnoux, um beim Portier zu fragen, ob Madame zu Haus sei. Dann stellte er sich an der Ecke der Rue de la Ferme und der Rue Tronchet auf, so daß er gleichzeitig alle beide übersehen konnte. In der Ferne auf dem Boulevard glitten unruhige Mengen vorüber. Er unterschied zuweilen den Federbusch eines Dragoners oder einen Frauenhut; und er strengte seine Augen an, um sie zu erkennen. Ein zerlumptes Kind, das ein Murmeltier in einem Käfig zeigte, bat ihn lächelnd um ein Almosen.
Der Mann mit der Samtweste erschien wieder. Der Portier hatte sie nicht ausgehen sehen. Was hielt sie zurück? Wenn sie krank wäre, hätte man es gesagt! War es ein Besuch? Nichts leichter, als ihn nicht zu empfangen. Er schlug sich an die Stirn.
»Ach, ich bin dumm! Es war der Aufruhr!« Diese natürliche Erklärung erleichterte ihn. Dann plötzlich sagte er sich: »Aber ihr Viertel ist ruhig.« Und ein abscheulicher Verdacht ergriff ihn. »Wenn sie nicht käme? wenn sie ihr Versprechen nur gab, um mich los zu werden? Nein! nein!« Sicherlich hinderte sie ein außerordentlicher Zufall, eines jener Ereignisse, die jede Voraussicht zunichte machen. In diesem Fall aber hätte sie geschrieben. Und er schickte den Diener aus dem Hotel in seine Wohnung, Rue Rumfort, um zu hören, ob dort kein Brief sei?
Es war kein Brief gebracht worden. Dieses Ausbleiben einer Nachricht beruhigte ihn wieder.
Aus der Zahl der Geldstücke, die er zufällig in die Hand bekam, aus der Physiognomie der Vorübergehenden, der Farbe der Pferde las er Vorbedeutungen; und wenn das Zeichen das Gegenteil verkündete, zwang er sich, nicht daran zu glauben. In seinen Wutanwandlungen gegen Madame Arnoux schalt er sich mit halblauter Stimme. Dann kamen Schwächeanfälle zum Umsinken, und plötzlich wieder erneutes Hoffen. Sie wird kommen. Sie war da, hinter ihm. Er drehte sich um: Nichts! Einmal bemerkte er etwa dreißig Schritt entfernt eine Frau von gleicher Gestalt, in gleichem Kleide. Er holte sie ein; sie war es nicht! Es war fünf Uhr! fünfeinhalb! sechs Uhr! Das Gas wurde angezündet. Madame Arnoux war nicht gekommen.
Sie hatte die vorhergehende Nacht geträumt, daß sie lange auf dem Trottoir der Rue Tronchet ging. Sie erwartete dort etwas Unbestimmtes, doch Bedeutungsvolles, und ohne zu wissen, warum, hatte sie Furcht, bemerkt zu werden. Aber ein verwünschter kleiner Hund, den man auf sie gehetzt, biß sich an dem Saum ihres Kleides fest. Er war ganz darauf versessen und bellte immer lauter. Madame Arnoux erwachte. Das Bellen des Hundes hörte nicht auf. Sie lauschte. Es kam aus dem Zimmer ihres Sohnes. Sie stürzte mit nackten Füßen hinein. Es war das Kind, welches hustete. Es hatte glühende Hände, das Gesicht war rot und die Stimme rauh. Die Atembeschwerden verschlimmerten sich von Minute zu Minute. Sie blieb bis zum Morgen über seine Decke gebeugt, um ihn zu beobachten.
Um acht Uhr kam der Tambour, Monsieur Arnoux zu benachrichtigen, daß seine Freunde ihn erwarteten. Er kleidete sich schleunigst an und ging, indem er versprach, sofort bei ihrem Arzt, Monsieur Colot, vorzusprechen. Als er um zehn Uhr noch nicht gekommen war, schickte Madame Arnoux ihr Mädchen. Der Arzt war verreist, auf dem Lande, und der junge Mann, der ihn vertrat, war fortgegangen.
Eugène hielt den Kopf seitwärts auf dem Kopfkissen; er zog die Brauen empor und die Nasenflügel weiteten sich, sein armes kleines Gesichtchen wurde fahl in den Betttüchern; und aus seinem Kehlkopf kam bei jedem Atemzug ein immer kürzeres, trockeneres und metallisches Pfeifen. Sein Husten glich dem Geräusch jenes barbarischen Mechanismus, der künstliche Hunde zum Bellen bringt.
Madame Arnoux erschrak. Sie stürzte zur Klingel und schrie um Hilfe.
»Einen Arzt! einen Arzt!«
Zehn Minuten später erschien ein alter, wohlgestalteter Herr in weißer Krawatte mit grauem Backenbart. Er stellte viele Fragen über die Gewohnheiten, das Alter und die Gemütsart des kleinen Kranken, untersuchte dann seinen Hals, legte den Kopf an seinen Rücken und schrieb eine Verordnung. Die gelassene Miene des Mannes war unerträglich. Sie hätte ihn schlagen mögen. Er sagte, daß er abends wiederkommen würde.
Bald fingen die schrecklichen Hustenanfälle wieder an. Zuweilen richtete das Kind sich plötzlich auf. Konvulsivische Zuckungen erschütterten seinen Brustkorb, und beim Atmen höhlte sein Leib sich nach innen, als ersticke er, wie nach zu starkem Laufen. Dann fiel der Kopf mit weit offenem Munde zurück. Mit unendlicher Vorsicht versuchte Madame Arnoux ihm den Inhalt der Flaschen, Brechwurzelsirup und einen anderen Trank, einzuflößen. Aber mit schwacher Stimme stöhnend, stieß er den Löffel zurück. Man hätte meinen können, er hauche die Worte.
Von Zeit zu Zeit las sie die Verordnung wieder durch. Der Inhalt des Rezepts beunruhigte sie; vielleicht hatte der Apotheker sich geirrt! Ihre Ohnmacht brachte sie zur Verzweiflung. Dann kam der Assistent des Doktors.
Es war ein junger Mann von bescheidenen Manieren, neu in seinem Beruf, der seine Erregung nicht verbarg. Er war anfangs unentschieden, aus Furcht, sich zu kompromittieren, und verordnete schließlich Eisumschläge. Es währte lange, das Eis herbeizuschaffen. Die Blase, die das Eis enthielt, barst. Das Hemd mußte gewechselt werden. Diese Störung verursachte einen noch schrecklicheren Anfall.
Das Kind riß sich das Zeug vom Halse, wie um das Hindernis, das es erstickte, zu entfernen, und es kratzte an den Wänden, griff in die Vorhänge seines Bettes, als wolle es einen Stützpunkt suchen, um atmen zu können. Sein Gesicht war jetzt bläulich, und der ganze Körper, feucht von kaltem Schweiß, schien abgemagert. Seine verstörten Augen hefteten sich angstvoll auf seine Mutter. Es schlang die Arme um ihren Hals, klammerte sich verzweifelt daran fest; und ihr Schluchzen erstickend, stammelte sie zärtliche Worte.
»Ja, mein Liebling, mein Engel, mein Schatz!«
Dann kamen Momente der Ruhe. Sie holte Spielzeug, einen Hanswurst, ein Bilderbuch, und breitete alles auf dem Bette aus, um ihn zu zerstreuen. Sie versuchte sogar zu singen.
Sie begann ein Lied, das sie ihm früher vorgesungen hatte, wenn sie ihn beim Wickeln auf ebendemselben gestickten Stühlchen einwiegte. Aber er zitterte am ganzen Körper wie Wasser unter einem Windstoß; seine Augäpfel quollen hervor; sie glaubte, er liege im Sterben und wandte sich ab, um es nicht zu sehen.
Einen Augenblick später fand sie die Kraft, ihn anzusehen. Er lebte noch. Die Stunden gingen hin, schwer, dumpf, endlos, voll Verzweiflung; und sie zählte nur noch die Minuten des fortschreitenden Todeskampfes. Die Erschütterungen seiner Brust warfen ihn nach vorn, als wollten sie ihn zerbrechen; schließlich brach er etwas Seltsames aus, das einer Pergamentröhre glich. Was war das? Sie glaubte, er hätte ein Stück seiner Eingeweide hergegeben. Aber er atmete tiefer, regelmäßig. Dieses anscheinende Wohlbefinden erschreckte sie mehr als alles übrige; sie stand wie versteinert, mit herabhängenden Armen, starren Augen, als Monsieur Colot eintrat. Das Kind war seiner Meinung nach gerettet.
Sie begriff es anfangs nicht und ließ sich den Satz wiederholen. War es nicht nur ein Trost, wie er bei Ärzten üblich ist? Der Doktor ging mit ruhiger Miene fort. Da war ihr, als würden die Stränge gelöst, die ihr Herz zusammenschnürten.
»Gerettet! Ist es möglich?«
Plötzlich stand ihr Frédéric klar und unerbittlich vor Augen. Das war eine Warnung der Vorsehung. Aber der Herr hatte sie in seiner Gnade nicht zu hart strafen wollen! Welche Buße später, wenn sie in dieser Liebe verharrte! Ohne Zweifel würde man den Sohn ihretwegen beschimpfen; und Madame Arnoux sah ihn als jungen Mann in einem Duell verwundet, sterbend auf einer Bahre hergebracht. Plötzlich stürzte sie auf die Knie; und mit einem Aufwand ihrer innersten Seelenkraft bot sie Gott von ganzem Herzen das Opfer ihrer ersten Leidenschaft, ihrer einzigen Schwäche, als Sühne dar. – –
Frédéric war nach Haus zurückgegangen. Er setzte sich in seinen Sessel, selbst zu kraftlos, sie zu verurteilen. Eine Art Schlaf überkam ihn; und durch seinen quälenden Traum vernahm er das Fallen des Regens, glaubte noch immer dort auf dem Trottoir zu stehen.
Am folgenden Tage sandte er in einem letzten Anfall von Feigheit einen Boten zu Madame Arnoux.
Sei es nun, daß der Savoyarde die Bestellung nicht ausrichtete, oder daß sie zu vielerlei zu sagen hatte, um sich mit einem Wort zu erklären, es kam keine Antwort. Diese Rücksichtslosigkeit ging zu weit! Eine stolze Entrüstung ergriff ihn. Er schwor sich selbst, kein Verlangen mehr zu haben; und wie ein Blatt, vom Sturm davongetragen, schwand seine Liebe. Er empfand zuerst eine Erleichterung, eine stoische Freude, dann das Verlangen nach ungestümer Betätigung; und er ging aufs Geratewohl auf die Straße.
Vorstadtleute, mit Flinten und alten Säbeln bewaffnet, kamen vorüber, einige trugen rote Mützen, und alle sangen die »Marseillaise« oder »les Girondins«. Hier und da eilte ein Nationalgardist vorüber, sein Quartier zu erreichen. Trommeln waren von fern zu hören. Man schlug sich am Tor Saint-Martin. In der Luft lag etwas Mutwilliges, Kriegerisches. Frédéric schritt immer weiter. Die Unruhe der großen Stadt stimmte ihn heiter.
Auf der Höhe von Frascati bemerkte er die Fenster der Marschallin; eine tolle Idee kam ihm, ein jugendlicher Übermut. Er überschritt den Boulevard.
Der Torweg wurde geschlossen; und Delphine, die Kammerfrau, im Begriff, mit Kohle daraufzuschreiben: »Waffen abgegeben!« sagte lebhaft zu ihm:
»Ach! Madame ist in einem schönen Zustand! Sie hat heute morgen ihren Groom fortgeschickt, der sie beschimpfte. Sie glaubt, daß überall geplündert wird! Sie vergeht vor Angst! umsomehr, als der Herr verreist ist!«
»Welcher Herr?«
»Der Fürst!«
Frédéric trat in das Boudoir. Die Marschallin erschien im Unterrock, das Haar aufgelöst im Rücken und ganz fassungslos.
»Ach! Du kommst mich zu retten! das ist das zweite Mal! aber du forderst niemals deinen Lohn!«
»Verzeihung!« sagte Frédéric und umfaßte sie mit beiden Händen.
»Wie? was tust du?« stammelte die Marschallin, über seine Art überrascht und belustigt zugleich.
Er erwiderte:
»Ich mache die Mode mit, ich reformiere mich.«
Sie ließ sich auf den Diwan niederfallen und fuhr fort, unter seinen Küssen zu lachen.
Sie verbrachten den Nachmittag damit, von ihren Fenstern das Volk auf der Straße zu betrachten. Dann führte er sie zum Diner in die Trois-Frères-Provençaux. Das Mahl währte lange. Sie gingen zu Fuß zurück, da kein Wagen zu haben war.
Bei der Nachricht eines Ministerwechsels hatte Paris sich verändert. Alle Welt war voll Freude; Spaziergänger bewegten sich hin und her, und Lampions in jedem Stockwerk verbreiteten eine Helle wie am lichten Tage. Die Soldaten kehrten langsam, erschöpft und mit niedergeschlagener Miene in ihre Kasernen zurück. Man begrüßte sie mit dem Ruf: »Es lebe die Linie!« Aber sie gingen weiter, ohne zu antworten. Die Offiziere der Nationalgarde dagegen schwangen glühend vor Begeisterung ihre Säbel und schrien laut: »Es lebe die Reform!« und dieses Wort brachte die beiden Liebenden jedesmal zum Lachen. Frédéric scherzte übermütig, er war sehr munter.
Durch die Rue Duphot gelangten sie auf die Boulevards. Venetianische Laternen an den Häusern bildeten Feuergirlanden. Ein wirres Gewühl bewegte sich darunter; inmitten dieser Schatten blitzten an manchen Stellen die blanken Bajonette auf. Ein großes Getöse erhob sich. Die Menge war zu dicht, ein Umkehren unmöglich; und sie bogen in die Rue Caumartin ein, als plötzlich hinter ihnen ein Lärm entstand, ähnlich dem kreischenden Ton eines ungeheuren Stückes Seide, das auseinandergerissen wird. Es war das Knattern der Gewehre auf dem Boulevard des Capucines.
»Ach! man erschießt ein paar Bürger,« sagte Frédéric gelassen, denn es gibt Situationen, in denen der gutmütigste Mensch von allem so losgelöst ist, daß er einen Menschen ohne Herzklopfen sterben sehen könnte.
Die Marschallin klammerte sich zähneklappernd an seinen Arm. Sie erklärte sich unfähig, noch zwanzig Schritte weiter zu gehen. Da führte er sie in einem heimtückischen Haß und um Madame Arnoux in seinem Herzen noch mehr zu verletzen, in das Hotel in der Rue Tronchet, in das Zimmer, das für die andere hergerichtet war.
Die Blumen waren noch nicht verblüht. Die Guipure war über das Bett gebreitet. Er nahm die kleinen Pantoffeln aus dem Schrank. Rosanette fand diese Aufmerksamkeit sehr zart.
Gegen ein Uhr erwachte sie durch ein fernes Rollen; und sie sah ihn schluchzen, den Kopf in den Kissen vergraben.
»Was hast du denn, mein Lieber?«
»Es ist das Übermaß des Glücks,« sagte Frédéric. »Ich habe dich zu lange begehrt!«