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VII.
Die Nonne

Als ich zum ersten Male in ihre Zelle trat, glaubte ich mich in ein Nonnenkloster versetzt. Wie war in diesem Zimmerchen alles so sauber und nett! Kein Spinnengewebe an den Wänden, kein Stäubchen auf dem Boden; der kleine Klapptisch glänzte spiegelhell, der Becher und die Eßschüssel blinkten wie Silber. Der Bettteppich war so glatt gestrichen, daß auch das schärfste Auge kein Fältchen hätte bemerken können, alles lag und hing und stand dort, wo es nach der Hausordnung sich befinden mußte. Ebenso sauber sah auch die Bewohnerin der Zelle aus. Der dunkelgraue Rock hing nicht faltig und schlampig an ihrem Körper, wie man das so oft in Weibergefängnissen sieht, sondern war augenscheinlich der Gestalt nachträglich angepaßt; von demselben stach freundlich das sorglich gefaltete Halstuch und der blütenweiße Schurz ab. Mit ihrem glatt gescheitelten schwarzen Haar, ihren dunkeln Augen, die meistens bescheiden niedergeschlagen waren, und ihrem zufriedenen, gesunden Gesichte sah sie nicht wie eine Verbrecherin, sondern eher wie eine Nonne aus.

Und doch hatte Eva Christelberger (so wollen wir sie nennen) eine recht bewegte Vergangenheit. Ich brauchte deshalb die Akten gar nicht nachzuschlagen, sondern sie erzählte mir ohne Umschweif und mit dem Ausdruck tiefster Reue alles, weit mehr, als man in den Akten lesen konnte. Als junges Mädchen hat sie in einem protestantischen Pfarrhause gedient und war dort von einem jungen Forstmann, der zur Kirchweihe als Besuch eintraf, verführt worden. Damit kam sie auf den schlechten Weg, auf welchem so viele junge Mädchen in ihr Unglück rennen. Sie stieg mehr wie einmal heimlich Nachts aus, um zur Tanzmusik zu laufen, und kam erst mit anbrechendem Morgen wieder zurück. Sinnlichkeit und Eitelkeit ließen sie Scham und Ehrlichkeit vergessen. Nach einiger Zeit überbrachte sie ihrer Heimatsgemeinde ein Kind und wieder nach einiger Zeit wurde sie wegen verschiedener Diebstähle zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt. Hier benahm sie sich anfangs, wie eine wilde Katze, die man in einen Käfig gesperrt hat. Zu öfteren Malen traf sie die Aufseherin, wie sie oben an den Gittern des zehn Schuh vom Boden entfernten Fenster hing und gierig in die Freiheit hinausblickte. Eines schönen Mittags aber kletterte sie beim Spaziergang vor den Augen der Aufseherin mit affenartiger Geschwindigkeit über die Zuchthausmauer und konnte trotz augenblicklicher Verfolgung nicht mehr eingeholt werden. Sie gelangte ins »Preußische«, verdingte sich dort, ging aber bald wieder den alten schlechten Weg und eines Tages brachte sie der Gendarm wieder mit sechs weiteren Jahren Zuchthaus und der Bemerkung, man möge diese äußerst gefährliche Person etwas besser behüten und den Vogel nicht wieder am hellen Tage ausfliegen lassen.

Damit war ein Wendepunkt in ihrem Leben eingetreten. Mit der ihr eigentümlichen Willenskraft beschloß sie, ihre ganze Strafzeit – sechsundeinhalb Jahre – in der Zelle zu verbringen, nur sich selbst zu beobachten und nicht den geringsten Verkehr mehr mit den übrigen Gefangenen zu pflegen. Mehr als zwei Jahre hatte sie schon in ihrem engen Stübchen zugebracht, als ich sie zum ersten Male besuchte und wie ich offen gestehe, einen sehr günstigen Eindruck von ihrer Persönlichkeit mit hinweg nahm. Doch war auch hier nicht alles Gold, was glänzte, obschon der Ernst ihrer Reue und ihrer Pläne nicht zu bezweifeln war, wie sie denn auch thatsächlich die ganze Strafzeit in ihrer abgeschlossenen Zelle abgebüßt hat. Wenn ein Fehler geht, kommt der andere, und wenn alle Fehler aus der Menschenbrust weggethan sind, dann stellt sich erst der größte, der Hochmut ein, so ungefähr drückte sich ein beobachtender Christ einmal aus, dem ich vollständig beipflichte. Mit dem geistlichen Hochmute haben nach ihrem eignen Eingeständnisse auch die Beichtväter in den Nonnenklöstern am meisten zu schaffen und ich selbst kannte schon manchen wackern, verdienstvollen Christen, den ich wohl hätte leiden mögen, wäre er nicht im Laufe der Jahre ein unausstehlicher Prahlhans geworden.

Nachdem ich näher mit ihrem Geistesleben bekannt geworden war, bemerkte ich, daß ihr ernstes Streben nach sittlicher Vollkommenheit in der Zelle und durch die Zelle eine falsche Richtung erhalten hatte. Wurde die Selbsterkenntnis durch die Einsamkeit im Anfange wesentlich gefördert, so erlitt sie gerade dadurch später einen um so größern Schaden. Durch ihre vier Wände war sie nun vor mancherlei Versuchungen geschützt, die dem Frauenherzen gemeiniglich die gefährlichsten sind. Die meisten Strafen in den Weibergefängnissen rühren von dem Mißbrauche der Zunge und dem Mangel an Selbstbeherrschung her, und in dieser Hinsicht haben die in der Zelle leicht brav sein, da sie mit den Gefangenen in gemeinsamer Haft gar nicht verkehren können. Das Verdienst nun, das doch allein den vier Wänden gebührte, schrieb unsre Eva Christelberger irrtümlicher Weise auf ihr eignes Konto und so glaubte sie sicher, von manchen Gebrechen ganz frei geworden zu sein, welche nur in der Zelle keine Gelegenheit hatten, hervorzutreten. In sofern also war sie in Gefahr, sich über die Zunahme ihrer sittlichen Kraft gegenüber der Versuchung zu täuschen. Und auch in einer andern Beziehung geriet sie in eine falsche Bahn. Sie war thatsächlich besser, als die übrigen Sträflinge, allein bis zur Vollkommenheit fehlte noch viel, sehr viel, was sie sofort bemerken mußte, wenn sie sich immer an dem höchsten Ideal sittlicher Vollendung gemessen hätte. Sie that aber das Gegenteil, sie maß sich nicht an denen, die über ihr, sondern an denen, die unter ihr standen, sie verglich ihre Beschaffenheit mit derjenigen ihrer Mitgefangenen. Der Hochmut ist immer ein Schwindel, und deshalb geht er unmittelbar dem Falle voraus; wer beständig in die Höhe blickt, dem wird es nicht schwindlich; das begegnet nur solchen, die in die Tiefe schauen. Bald bemerkte die Christelberger wohlgefällig den Abstand zwischen sich und den Übrigen, von denen sich allerdings manche von dem Tier nur wenig unterschieden.

Nicht wenig trug zur Steigerung ihres Selbstgefühls auch der Umstand bei, daß sie eben verhätschelt wurde, daß man ihr wegen ihres Fleißes und Wohlverhaltens allzu große Lobsprüche ertheilte. Bald sah ich ein, daß es so nicht fortgehen könne, und daß der Patientin in ihrem eignen Interesse der Staar gestochen werden müsse. Daß die Operation schmerzhaft sein werde, vermutete ich im voraus, allein so schwierig hatte ich sie mir nicht vorgestellt, wie sie in der Folge wurde.

Zuerst suchte sie mich über die Persönlichkeiten der übrigen Sträflinge aufzuklären. Augenscheinlich sollten jene den dunkeln Hintergrund für ihre lichte Gestalt abgeben. Schon bei dieser Gelegenheit konnte ich nicht umhin, ihr über ihre wegwerfenden Urteile ernsten Vorhalt zu machen, was sie stark verdroß. Namentlich kränkte sie es tief, wie mir die Aufseherin wieder sagte, daß ich ihr bemerkte, sie habe am allerwenigsten Ursache, auf einen andern einen Stein zu werfen.

Bald kam die Sache noch besser. Sie ließ sich beigehen, mir mitzuteilen, wie es mein Vorgänger im Amte in dieser und jener Beziehung gehalten habe, wobei sie nicht undeutlich durchblicken ließ, daß meine vorgenommenen Änderungen ihre Billigung nicht fänden. Ich bedeutete ihr kurz, daß ich mir über meine Amtsführung von ihr keine Vorschriften machen lasse, forschte aber doch nach, welches der letzte Beweggrund ihres Tadels sein möge. Bald hatte ich den wahren Grund gefunden; mein Vorgänger gab den Züchtlingen nämlich Sprüche und Lieder auf, die sie in der Christenlehre hersagten. Sie wußte nun ihrer sehr viele und ließ bei dieser Gelegenheit ihr Licht nicht wenig leuchten vor den Leuten, leider zu deren großem Ärger. Daß eine solche Schaustellung ihrer Kenntnisse jetzt wegfiel, konnte sie nicht verwinden, und zog mir ihre Ungnade zu.

Die Katastrophe rückte sichtlich herbei. Sie kam auch, als sie mir bei einem Zellenbesuche in unverschämter Weise den Vorwurf machte, in der Predigt am letzten Sonntag könne ich niemand anders, als sie im Auge gehabt haben. Da brach das verhaltene Unwetter los und ergoß sich in voller Heftigkeit über ihr Haupt. Ich machte ihr den Standpunkt ganz vollständig klar, sie mußte die bittere, harte, vollständige Wahrheit hören über ihr Christentum und darauf kündigte ich ihr an, ich werde ihr nun Zeit lassen, sich über ihr Verhalten zu besinnen und erst dann wieder in ihrer Zelle erscheinen, wenn sie ihr Unrecht eingesehen und um Verzeihung gebeten habe.

Der innere Kampf dauerte lange, die Schadenfreude der anderen Sträflinge war groß, allein endlich demütigte sie sich und ich habe nie mehr über sie zu klagen gehabt.

Damals schon wurde ich zweifelhaft, ob das ausschließliche Isoliersystem für die Frauennatur geeignet sei. Später lernte ich immer mehr die Gefängnisse mit gemischter Haft schätzen oder besser gesagt, jenes System, welches den Gefangenen längere Zeit isoliert, allein ihn nicht direkt von der Zelle in die Freiheit versetzt, sondern ihn zum Übergang noch eine Zeitlang in gemeinsame Haft mit besseren Sträflingen verbringt. Einsamkeit und Gesellschaft haben ihre Vor- und Nachteile, ihre Gefahren und Segnungen. In der Einsamkeit werden die Vorsätze gefaßt, die innern Umänderungen angenommen, in dem Kampfe des Lebens müssen sie sich festigen und bewähren.


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