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Zweites Kapitel. Die Schlacht von Nictheroy.

Illustration

Die drei Kriegsschiffe landeten schließlich in Porto Alegre, wo sie von der Bevölkerung freudig willkommen geheißen wurden. Man erfuhr, daß selbst die Einwohner Rio de Janeiros insgeheim furchtbar stolz seien auf den gelungenen Durchbruch ihrer geliebten Flotte, die damit schlagend ihre Kampftüchtigkeit bewiesen habe. Arbeit gab's in dem fieberschwangeren Hafenorte in Hülle und Fülle. Mehrere große Handelsschiffe wurden mit Lebensmitteln und Munition beladen, denn an beiden sollte auf der Schlangeninsel schon empfindlicher Mangel herrschen. Helmut hatte im stillen gehofft, daß er hier vielleicht Urlaub erhalten könne, um die Farm seiner Eltern zu besuchen, aber er war klug genug, selbst einzusehen, daß bei diesem Hasten und Treiben kein Mann entbehrt werden konnte, zumal ja offensichtlich jede Stunde kostbar war. Deshalb wagte er es gar nicht, eine diesbezügliche Bitte an den Admiral zu stellen, obwohl dieser ihm seit der Schreckensnacht von Rio sehr gewogen war und es nicht verschmähte, sich in seinen wenigen Mußestunden leutselig mit dem Kadetten zu unterhalten. Er hatte es sogar gern, wenn Helmut offen seine Gedanken aussprach, und hörte ihm stets wohlwollend zu, auch wenn er als eingefleischter Brasilianer, dem die deutsche Denkungsart vollkommen fremd sein mußte, nicht mit ihm übereinstimmen konnte. Aber als Militär mußte er den gesunden Anschauungen des jungen Deutschen doch öfters beipflichten. So war Helmut, der durch die gemeinsam bestandene Gefahr jetzt inniger mit der Sache der Revolution verknüpft war, kühn genug, eines Tages zu sagen: »Eigentlich begreife ich nicht, warum wir uns nicht gleich zu Anfang des Hafenplatzes Nictheroy mit seinen großen Magazinen und Arsenalen bemächtigt haben. Damals, in den ersten Tagen nach der Schilderhebung der Flotte, wäre das doch leicht gewesen, da Peixoto viel zu wenig zuverlässige Truppen hatte, als daß er uns nachdrücklichen Widerstand hätte leisten können. So aber haben wir ihm Zeit gelassen, große Verstärkungen heranzuziehen und Nictheroy durch Schanzen und Batterien furchtbar zu befestigen. Hätten wir es gleich genommen, so hätten wir nicht so lange in der Mausefalle zu sitzen brauchen, sondern wir hätten uns leicht die Verbindung auf dem Festlande mit den Aufständischen in den Südprovinzen verschaffen und allmählich Rio auch von der Landseite abschließen und so aushungern können. Jetzt müssen wir mühsam auf dem Seewege die nötigen Streitkräfte und Nahrungsmittel heranziehen, müssen jedesmal die Einfahrt in die Bai von Rio neu erkämpfen, und wer weiß, ob es nicht überhaupt schon zu spät ist.«

Der Admiral blickte überrascht auf. »Sie haben recht, tausendmal recht, junger Freund. Wir waren eben damals alle mehr Politiker als Soldaten. Aber das Versäumte muß und wird nachgeholt werden, sobald wir erst wieder in der Bucht von Rio sind. Auf den Heldenmut meiner blauen Jungens darf ich mich ja fest verlassen.«

Auch seinen Kameraden gegenüber war Helmuts Stellung seit der großen Seeschlacht eine andere geworden. Hatten sie sich früher dem Deutschen gegenüber kühl und zurückhaltend gezeigt, so fühlten sie sich jetzt zu ihm hingezogen und suchten sich ihm offensichtlich näher anzuschließen. Der Krieg schweißt eben die Menschen fester zusammen. Helmut seinerseits schloß namentlich mit einem andern Seekadetten, namens Manuel, engere Freundschaft, und bald waren die beiden jungen Leute unzertrennlich. Manuel war der Sprößling einer alten, angesehenen Advokatenfamilie, deren Mitglieder schon oft in der Geschichte des Landes eine wichtige Rolle gespielt hatten und zu den höchsten Ämtern berufen worden waren. Manuels Vater, Doktor Manuel Ferraz de Campos Salles, lebte noch in Rio und mochte wohl bange seines Sohnes gedenken, der irgendwo auf dem Aquidaban schwamm, um den die in Brasilien jederzeit geschäftige Fama schon einen ganzen Kranz von Märchen und Sagen gesponnen hatte.

Endlich war die Flotte wieder zur Abfahrt bereit und nahm ihren Kurs nordwärts zur Bai von Rio. Wieder mußte hier in finsterer Nacht die Einfahrt erzwungen werden, aber es ging diesmal ohne schweren Kampf ab; so überraschend und plötzlich war der Aquidaban mit seinen Begleitschiffen erschienen, und die durch die fortwährenden Kanonaden mit Gama ermüdeten Regierungstruppen hatten auch wohl nicht genügend scharfe Wacht gehalten. Gleich am nächsten Morgen mußte Helmut seinen Admiral wieder mit der Barkasse nach der Schlangeninsel fahren, wo eine erneute Besprechung zwischen den beiden Führern stattfand. Währenddem erfuhr Helmut von den Marinesoldaten auf der Schlangeninsel, daß Peixoto bald nach dem glücklichen Durchbruch Mellos die Schlangeninsel mit stürmender Hand zu nehmen versucht hatte. Die Regierungstruppen waren nachts auf Kähnen übergesetzt, waren aber nach erbittertem Kampfe mit schweren Verlusten zurückgeschlagen worden.

Im übrigen hatte sich der Krieg in der ganzen Zwischenzeit wieder auf die übliche tägliche Kanonade beschränkt und war für beide Teile ziemlich harmlos verlaufen. Und jetzt war, wie sich Helmut mit bangen Zweifeln sagen mußte, eigentlich die alte Sachlage wieder vollkommen hergestellt. Wieder saßen die Schiffe der Insurgenten in der alten Mausefalle, und noch immer befand sich Nictheroy in den Händen der Regierung und sperrte den Admiralen jede Verbindung mit dem Lande. Ihre Hilfsmittel mußten sich in absehbarer Zeit erschöpfen, wenn es nicht gelang, noch nachträglich Nictheroy wegzunehmen. Unser Freund war deshalb freudig überrascht, als ihm Mello auf der Rückfahrt nach dem Panzerschiffe sagte: »Nun, junger Freund, Ihre Vorstellung wegen Nictheroy hat doch gefruchtet, und ich denke, bald haben wir's.«

Einige Nächte später wurde die Besatzung des Aquidaban alarmiert, und jeder merkte sofort, daß wieder etwas Besonderes im Werke sei. Die tüchtigsten Mannschaften und Offiziere wurden zu einem Landungskorps formiert und in Kähne verladen. Das alles geschah so still als möglich, und die Boote fuhren dann mit umwickelten Rudern geräuschlos über die dunkle Flut. Auch Helmut befand sich nebst seinem Freunde Manuel bei dieser waghalsigen Expedition, während der Admiral selbst auf dem Aquidaban zurückblieb, um dessen Feuer gegen die Landbefestigungen zu leiten. Man war erst eine kurze Strecke gefahren, als man auf ein ganzes Geschwader anderer Boote stieß, alle mit kampflustigen Marinesoldaten gefüllt und von Admiral Gama persönlich geführt. Dieser teilte sein Geschwader in drei Teile, und die Dunkelheit ermöglichte es, unbemerkt an der Küste zu landen. Erst als die Boote knirschend auf den Uferrand aufstießen, wurden die feindlichen Wachposten aufmerksam und feuerten ihre Alarmschüsse ab. Signalhörner erschollen, und ein unendlicher Tumult erhob sich. Rasch drangen die Marinetruppen von drei Seiten konzentrisch in die Stadt vor, um sich vor allem des wichtigen Arsenals zu bemächtigen. Die Regierungstruppen waren größtenteils noch im Schlafe überrascht worden und stürzten halb bekleidet aus ihren Quartieren hervor, leisteten aber doch noch hartnäckigen Widerstand. Wildes Kampfgetümmel erfüllte die Straßen, unregelmäßige Schüsse fielen, und an vielen Stellen kam es zu erbittertem Handgemenge. In diesem Augenblicke ging die Sonne blutigrot auf und beleuchtete mit erbarmungsloser Klarheit das schauerliche Schauspiel.

Besonders wild tobte der Kampf am Eingange des Arsenals, wo auch Helmut und Manuel mit ihrer Schar zum Dreinhauen kamen. Ersterer hatte gerade seinen Revolver abgeschossen, als er sich plötzlich einem riesenhaften Neger gegenüber sah, der mit wütendem Schrei ein scharf geschliffenes Beil schwang, das im nächsten Augenblick auf den Kopf des jungen Deutschen niedersausen mußte. Aber im gleichen Augenblicke ertönte ein Schuß, der Neger warf die Hände hoch und stürzte mit einem gurgelnden Laut hintenüber, während ein dunkelroter Blutstrom zwischen seinen wulstigen Lippen hervordrang. Mit freudiger Dankbarkeit sah Helmut sich um, und da erblickte er hinter sich seinen Freund Manuel, den schmächtigen, zierlichen, fast schüchternen Manuel, der, wie er einmal gestanden hatte, kein Blut sehen konnte, und den jetzt doch die Angst um das bedrohte Leben des Freundes zur Vernichtung eines Menschen fortgerissen hatte. Stumm drückte ihm Helmut die Hand. Aber zu langen Auseinandersetzungen war keine Zeit, denn unaufhaltsam raste der Kampf weiter, wirbelte Freund und Feind durcheinander und forderte immer neue Opfer, denen sofort blutdürstige Rächer entstanden. Nach kurzer Zeit war jedoch das Arsenal erobert, die Besatzung niedergehauen oder gefangen genommen und bald darauf die ganze Stadt in den Händen der Aufständischen.

Der Jubel darüber war groß, und mit echt südländischer Lebhaftigkeit gab man ihm Ausdruck. Man umarmte und küßte sich, jubelte und sang, sprang und tanzte und gab sich der wildesten Ausgelassenheit hin, während die Straßen noch von dem vergossenen Menschenblut dampften. Die Szene wurde immer wilder und wüster, und besorgt sahen die Offiziere dem tollen Treiben zu. Vergeblich bemühten sie sich, ihre Mannschaften wieder zu sammeln und zu ordnen. Es schien, als seien die Leute rein vom Teufel besessen und alle bösen Instinkte der Menschenbrust entfesselt. Ein paar verwegene Kerle in zerrissener, blutbespritzter Uniform und mit verwüsteten, pulvergeschwärzten Gesichtern, deren natürliche Wildheit durch den bestandenen Nahkampf bis zur Siedehitze gesteigert war, machten den Anfang mit dem Plündern. Dröhnend schlugen sie mit den Gewehrkolben die verschlossenen Haustüren ein, mißhandelten die Bewohner und stürzten sich mit tierischer Gier auf die Schätze der Kaufläden, wahllos sich alles aneignend. Nur zu schnell fand das böse Beispiel Nachahmung. Diese Seeleute, die seit Monaten die schwersten Entbehrungen erlitten hatten und ausschließlich auf die einförmige Schiffskost angewiesen gewesen waren, konnten der Versuchung nicht widerstehen, als sie jetzt die nach ihren Begriffen köstlichsten Leckerbissen massenhaft vor sich ausgebreitet sahen. Man stopfte sich in den Mund, was nur immer hineingehen wollte, man schlug die Weinfässer auf und trank gierig das in die Gossen strömende Naß. Alle Bande der Zucht und Ordnung waren gelöst, die lästigen Gewehre stellte man irgendwo in einen Winkel, und zwischen den noch auf den Straßen liegenden und schmerzlich stöhnenden Verwundeten wälzten sich in den Gossen sinnlos Betrunkene. Admiral Gama eilte zwar fluchend und schreiend von Trupp zu Trupp und suchte der Plünderung Einhalt zu tun, aber die betrunkenen Mannschaften hörten nicht mehr auf den sonst so verehrten Führer. Vergeblich mühten sich auch alle andern Offiziere ab, ja manche beteiligten sich sogar selbst nach Kräften an der Plünderung, und bald gaben auch aufsteigende Flammenzeichen zu erkennen, wie barbarisch in dem unglücklichen Nictheroy gehaust wurde.

Nur wenigen Offizieren gelang es, wenigstens einen Teil ihrer Leute noch leidlich zusammen und unter Waffen zu halten. Unter ihnen waren auch Helmut und Manuel, und beide schäumten vor Wut und bitterer Verzweiflung. Der Brasilianer beklagte laut jammernd sein unglückliches Vaterland, dessen Kinder sich gegenseitig zerfleischten, und der Deutsche suchte seinen ganzen Vorrat an brasilianischen Schimpfwörtern hervor – und die portugiesische Sprache ist an solchen, wie alle romanischen Sprachen, überaus reich, – um seiner flammenden Entrüstung über diese wüsten Szenen Ausdruck zu geben, die nach seiner Auffassung mit dem Begriffe soldatischer Ehre völlig unvereinbar waren. Wo sie es konnten, beschützten sie wenigstens die arme, der Vernichtung ihres Eigentums jammernd zusehende Bevölkerung vor den ärgsten Ausschreitungen. Einmal kam Helmut dazu, wie ein paar betrunkene Marinesoldaten in einem vornehmen Hause den Hausherrn mit dem Kolben niedergeschlagen hatten und nun mit drohend vorgehaltenen Bajonetten von seiner halb ohnmächtigen Gattin die Auslieferung des vorhandenen Bargeldes verlangten. Wütend schlug er den unflätigen Kerlen seinen Säbel über den Schädel, ließ dann das ganze Haus mit Hilfe Manuels von dem plündernden Gesindel säubern und stellte schließlich einen nüchtern gebliebenen Wachtposten mit geladenem Gewehr zum Schutz davor. Wie in allen Hafenstädten, war auch in Nictheroy viel zweifelhaftes Gesindel vorhanden, das jetzt aus seinen schmutzigen Schlupfwinkeln hervorkroch und sich mit wilder Lust an der Plünderung beteiligte.

Mitten in diesen grauenhaften Wirrwarr hinein erschollen plötzlich die schmetternden Töne von Signalhörnern. Helmut kannte die Signale der brasilianischen Armee gut genug, um zu wissen, daß das das Angriffszeichen der Infanterie sei. Das von allen einsichtigen Offizieren heimlich Befürchtete war also zur Tatsache geworden: Peixoto selbst rückte mit seinen Kerntruppen heran, um das wichtige Nictheroy zurückzuerobern, koste es, was es wolle. Er fand leichte Arbeit. Die meisten der Plünderer waren nur noch mit ihren Enterbeilen bewaffnet und wurden, ehe sie von diesen Gebrauch machen konnten, niedergeschossen. Die zahlreichen Betrunkenen aber durchbohrte das Bajonett, bevor sie noch Zeit fanden, aus ihrem Rausche zu erwachen und sich zu vergegenwärtigen, was eigentlich um sie herum geschehe.

In wilder Verzweiflung hatte Admiral Gama zusammengerafft, was von seinen Truppen noch kampffähig war, und leistete an ihrer Spitze heldenmütigen Widerstand. Rings umtobte ihn von allen Seiten die Woge der übermächtigen Feinde, aber immer wieder mußte sie zurückfluten, als sei sie gegen granitenen Fels angebrandet. Hoffnungslos war der wilde Kampf geworden, aber man wollte sich wenigstens noch bis zu den Booten durchschlagen oder mit Ehren untergehen. Ein Schuß traf den Admiral in die Hüfte, und ächzend sank er zu Boden. Seine Getreuen ergriffen ihn, trugen ihn aus dem Getümmel in die Mitte der Heldenschar, und diese brach sich nun unter Führung eines eisgrauen alten Kapitäns Bahn durch die sie umringenden, mit Siegesjauchzen andrängenden Feinde. So heftig war der unerwartete Stoß, daß bald eine freie Gasse zum Strande geöffnet wurde. Die noch am wenigsten erschütterte Besatzung des Aquidaban bildete die Nachhut und hatte deshalb den schwersten Stand. Immer wieder mußte sie Kehrt machen, um durch Salven oder mit dem blanken Bajonett die verfolgenden Regierungstruppen zurückzuhalten, und immer mehr lichteten sich dabei ihre ohnedies schon so dünnen Reihen. Helmut hatte schon mehrere Schrammen erhalten, auf die er in der Hitze des Gefechtes kaum achtete, aber tiefer Schmerz erfüllte ihn, als er jetzt auch seinen Freund Manuel an seiner Seite zusammenbrechen sah. Die Gefahr nicht achtend, beugte er sich auf den Verwundeten nieder und sah zu seinem Entsetzen, daß er mitten durch die Brust geschossen war und sich rasch entfärbte. Was tun? Ihn liegen lassen und der Gnade der wütenden, alle Verwundeten niederstechenden Regierungstruppen preisgeben, bedeutete den sicheren Tod. Ihn durch das Kampfgetümmel fortschleppen und bis zum Strand bringen, erschien fast unmöglich, und der schwer Verletzte würde einen solchen Transport vielleicht auch gar nicht mehr aushalten.

»Laß mich nicht in die Hände der Feinde fallen,« flüsterte Manuel kaum hörbar, indem er die schwarzen Augen wieder aufschlug. »Gib mir mit deinem Revolver den Rest, ich verlange es als letzten Freundschaftsdienst.«

Verzweifelt blickte Helmut um sich. Da sah er dicht hinter sich das stattliche Haus, das er vorhin vor der Plünderung bewahrt hatte, und sofort durchblitzte ihn ein rettender Gedanke. Rasch winkte er zwei seiner zuverlässigsten Leute herbei, und gemeinsam schleppten sie den Verwundeten in das Gebäude. Hier stieß Helmut auf die vorhin von ihm vor den Plünderern gerettete Frau, die sich um ihren Gemahl bemühte und voller Todesangst auf das wilde Kampfgetümmel draußen lauschte. Mit einem strahlenden Blick der nachtdunklen Augen empfing sie ihren Retter, aber der ließ ihr keine Zeit, sich in Dankesbezeigungen zu erschöpfen.

»Wollt Ihr Euren Dank beweisen, so tut es durch die Tat und rettet hier meinen Freund! Pflegt ihn und verbergt ihn und benachrichtigt seine Eltern; er ist der einzige Sohn des Senators Manuel Ferraz, der es Euch gewiß vergelten wird.«

Die Frau konnte ihm nur noch mit stummer Gewährung die Hand drücken, und dann stürzte der Deutsche mit seinen Gefährten auch schon wieder aus dem Hause hinaus, gerade noch rechtzeitig, um sich den letzten Nachzüglern der Seinigen wieder anschließen zu können. Der hartnäckige Widerstand der Marinetruppen schien die Wucht der feindlichen Verfolgung nun doch gebrochen zu haben; die Angriffe ermatteten und ließen nach, und so erreichte man endlich glücklich den rettungverheißenden Strand, wo die dort zur Bewachung der Boote aufgestellten Mannschaften einen weiteren und noch unerschütterten Rückhalt boten. Eiligst bestieg man die Boote, schaffte die Verwundeten hinein und stieß dann wieder von dem verhängnisvollen Strande ab, während die schweren Geschütze der Schlangeninsel und des Aquidaban mit ihrem wohlgezielten Feuer den traurigen Rückzug deckten.

Mit düsteren Blicken empfing Admiral Mello die heimkehrenden Boote, die kaum noch die Hälfte ihrer ursprünglichen Insassen trugen; und auch von den noch vorhandenen waren nur die wenigsten ohne Verwundungen davongekommen. Doch kam kein Wort des Vorwurfs über die fest zusammengepreßten Lippen des Admirals, und sein bleiches Antlitz verriet zwar tiefe Trauer, aber keine Niedergeschlagenheit. Nachdem er für die Unterbringung der Verwundeten Sorge getragen hatte, fuhr er sofort wieder nach der Schlangeninsel hinüber, um seinen verwundeten Kollegen zu besuchen und sich mit ihm auszusprechen. Dort mochte er wohl erst die ganze Schwere der erlittenen Niederlage erfahren haben, denn als er an Bord zurückkehrte, verrieten seine Züge doch den Ausdruck tiefer Besorgnis. Sicher hatte er hier aber auch gehört, wie wacker sich Helmut wieder an diesem verhängnisvollen Tage benommen hatte, denn mit stummem Danke drückte er ihm kräftig die Hand. Eines Wortes war er nicht fähig. Unter den Leuten an Bord herrschte tiefste Niedergeschlagenheit, denn keinem blieb es zweifelhaft, daß die Sache der Revolution einen schweren Schlag erlitten hatte und so geschwächt war, daß sie sich vorläufig wohl ganz auf die Verteidigung beschränken mußte, noch dazu mit herzlich wenig Aussicht aus durchschlagenden Erfolg. Hieß es doch, daß die Regierung in Nordamerika einige große Panzer neuesten Systems angekauft habe, die bald eintreffen und den Aufständischen den letzten vernichtenden Schlag auf ihrem eigenen Elemente versetzen würden.

In dieser verzweifelten Lage faßte Admiral Mello einen Entschluß, der dieses kühnen Seemanns durchaus würdig war. Von der Aussichtslosigkeit weiterer Kämpfe in der Bucht von Rio überzeugt, entschloß er sich, abermals die Hafensperre zu durchbrechen, nach den aufständischen Südprovinzen zurückzukehren, wo die Insurgenten schon siegreich bis zum Staate Parana vorgedrungen waren, sich hier mit seinen Marinemannschaften an ihre Spitze zu stellen, den Krieg zu Lande fortzusetzen und durch Bedrohung Rios von der Binnenseite her den auf der Schlangeninsel eingeschlossenen Admiral Gama herauszuhauen. Als der Aquidaban vor der Bucht von Paranagua angelangt war, teilte Mello in einer zu Herzen gehenden Ansprache diesen Entschluß den versammelten Offizieren und Mannschaften mit und stellte es ihnen zugleich frei, ob sie ihre Zukunft weiter mit dem Ungewissen Schicksal der Revolution verbinden und bei ihm ausharren oder ihre Entlassung nehmen und einstweilen ins Privatleben zurückkehren wollten. Nur wenige traten vor und entschieden sich für letzteres. Helmut hatte es gern getan, denn sein Herz zog ihn aus diesen politischen Wirren nach der Ruhe des friedlichen Vaterhauses, und er mußte sich gestehen, daß ihm die brasilianischen Parteikampfe doch ziemlich gleichgültig seien und sein inneres Wesen nicht berührten. Aber das soldatische Pflichtgefühl war größer; so blieb er in den Reihen derer, die den Admiral auch zu Lande weiter begleiten wollten. Aber nach dem Abendessen nahm Mello selbst ihn zur Seite.

»Kadett Förster,« sprach er mit wohlwollendem, fast väterlichem Tone, »eine Herzensfreude war es mir, heute zu sehen, daß Sie Ihrem unglücklichen Admiral in seiner Not treu bleiben wollen, aber ich kann dieses Opfer nicht annehmen. Harte Lebensschicksale haben mich zum Menschenkenner gemacht, und als solcher sehe ich tiefer in Ihr Inneres, als Sie es vielleicht ahnen. Ich kann mich gut in Ihre Lage versetzen, und ich weiß sehr wohl, was vorhin Ihr Herz bewegte. Dieses ist deutsch geblieben und hat für unsere Parteikämpfe kein Verständnis. Sie gehören zu Ihren braven Landsleuten und können unter diesen dem brasilianischen Staate dereinst gewiß größere Dienste leisten, als wenn Sie hier vereinsamt in unserer Marine dienen, auf der Sie doch immer ein Fremder bleiben werden. Ich bin Ihnen viel Dank schuldig und kann diesem keinen besseren Ausdruck verleihen, als wenn ich Sie bitte, jetzt Ihr Schicksal von dem unsrigen zu trennen. Ich glaube nicht mehr recht an unsern Erfolg, und ich kenne die Rachsucht Peixotos. Er wird, wenn er Sieger bleibt, ein furchtbares Blutgericht halten, und da man weiß, daß Sie den Schuß abgefeuert haben, der das Pulvermagazin des Forts Santa Cruz in die Luft sprengte, da man außerdem durch Ihre Bestrafung seinen Haß gegen das Deutschtum etwas kühlen könnte, so ist es sicher, daß Ihnen im Fall der Gefangennahme ein schmählicher Tod bevorsteht. Das dürfen Sie Ihren alten Eltern nicht antun. Einen ehrlichen Tod ihres Sohnes auf dem Schlachtfelde würden diese gewiß verschmerzen, aber sie würden es ihr Leben lang nicht verwinden, wenn ihr hoffnungsvoller Sohn als Insurgent ins Gefängnis geworfen würde, um durch Henkershand zu sterben. Es schmerzt mich aufrichtig, daß Sie ohne Ihren Willen und ohne Ihr Zutun in diesen unheilvollen politischen Strudel hineingerissen wurden, und es gereicht Ihnen zur Ehre, daß Sie trotzdem getreulich Ihren Vorgesetzten folgten, aber nun müssen Sie Schluß machen. Also gehen Sie mit Gott, und grüßen Sie Ihre alten Eltern vom Admiral Mello! In diesem Leben werden wir uns wohl nicht mehr wiedersehen.«

Helmut war so überrascht durch diese Worte, daß er kaum einige verworrene Sätze des Dankes stammeln konnte und sich nicht schämte, ganz vorschriftswidrig einen Kuß auf die Hand des edlen Mannes zu drücken, aber ehe er noch zu einem eigentlichen Entschlüsse gekommen war, hatte sich Mello schon entfernt und winkte ihm nur noch einmal wehmütig lächelnd einen Gruß mit der Hand zu. Gleich darauf meldete sich ein Bootsmann bei Helmut und teilte ihm mit, daß er Befehl habe, den Kadetten nach dem Handelshafen von Paranagua zu fahren und dort an Bord eines deutschen Dampfers abzusetzen, der am nächsten Morgen nach Rio Grande do Sul weiterfahren würde. Vorher solle der Kadett die Uniform ablegen und Zivilkleider anziehen. Helmut tat das wie im Traume, und wie im Traume nahm er mit tränenden Augen Abschied von den wackeren Gefährten so vieler banger Stunden. Das also war das Ende der heiß ersehnten und so viel versprechend begonnenen Seemannslaufbahn! Was sollte nun aus ihm werden? Der Kopf schmerzte ihn, und schließlich hatte er nur noch den einen Gedanken, so rasch als möglich nach Haufe zu gelangen, Eltern und Geschwister zu umarmen und in der Ruhe der stillen Farm den inneren Frieden und das eigene Gleichgewicht wiederzufinden. Dann würde die Zukunft sich schon wieder aufklären und sich nach der einen oder andern Seite hin befriedigend gestalten lassen.

Der übernächste Tag sah unsern jungen Freund schon vor der Hafenstadt Rio Grande in dem wegen seiner vielen Sandbänke für die Schiffahrt so gefährlichen Kanal, der den Ausfluß des großen Entensees nach dem Ozean bildet. Mit reiferen Augen betrachtete der Jüngling jetzt das bunte Hafengetriebe, das sich hier entfaltet, weil Rio Grande der Hauptausfuhrplatz für die Hunderttausende von Ochsenfellen und für die zahllosen Wagenladungen von Dörrfleisch ist, die aus den großen Schlächtereien von Pelotas herangeführt werden, da im Innern der Provinz Rio Grande do Sul von den Farmern Rindviehzucht im großartigsten Maße betrieben wird. Und mit gewissem Stolze sagte sich Helmut, daß dieser ganze blühende Handelszweig, der für Brasilien eine Lebensfrage ist, fast ausschließlich in deutschen Händen sich befinde, daß auch die viehzüchtenden Farmer im Innern größtenteils Deutsche seien. Nun ging es über den an Schlammbänken reichen Entensee bis Porto Alegre und dem benachbarten San Leopoldo, und auch hier stand überall wieder das deutsche Element im Vordergrunde. Wie mundete da nach den entbehrungsreichen Monaten der jüngsten Vergangenheit ein Glas frisches Bier in einer der deutschen Brauereien, und wie wohl tat es, hier einmal nicht das portugiesische Geschnatter, sondern die kräftigen Laute der Muttersprache zu hören; wie angenehm berührte es, daß hier nicht fortwährend von Revolution und Parteigezänk, sondern von großen, weltbewegenden Fragen die Rede war, von den Aussichten der deutschen Einwanderer und des deutschen Handels, von dessen vielfachen Verzweigungen, die sich unter dem tatkräftigen Schutze des gewaltig erstarkten deutschen Reiches über die fernsten Gegenden der Erde spannen. Von San Leopoldo führte dann die Bahn durch freundliches, meist gut angebautes Gelände und malerisches Waldgebirge, mitten zwischen deutschen und italienischen Ansiedlungen hindurch, in mäßig schneller Fahrt an dem fast rein deutschen Santa Cruz vorbei bis zur Station Santa Maria, wo sich Helmut dem Rücken eines Mietspferdes anvertrauen mußte, um nach zweitägigem Ritt das ersehnte Elternhaus zu erreichen.

Wie ging ihm da aber unterwegs das Herz auf! Sein Auge weidete sich an dem frischen Grün der üppigen Vegetation, an den grauen Straußen, deren flüchtige Herden sich bisweilen in der Ferne zeigten, an den Tinamus, einer Art Wildhühner, die zutraulich über den Weg liefen, an den vielen sauberen deutschen Bauernhäusern mit ihren Ziegeldächern und ihrem soliden Balkenwerk, die so vorteilhaft von den elenden Lehmhütten der Eingeborenen abstachen. All die stattlichen Pferde- und Rinderherden, die in großen, mit Stacheldraht umsäumten Gehegen weideten, die grunzenden Schweine an den Pfützen, die prangenden Mais-, Tabak-, Bohnen- und Zuckerrohrfelder waren ja deutsches Eigentum, Erzeugnis deutschen Fleißes. Wo noch Urwald stand, waren doch allenthalben mit Feuer und Axt lange Schneisen durch ihn hindurchgebrochen und ermöglichten einen lebhaften und regelmäßigen Verkehr. An manchen Stellen gab es auch ausgedehnte Kaffeepflanzungen, deren Kirschen jetzt in feurigem Rot aufleuchteten, auch schöne Palmenhaine oder ganz deutsch anmutende Kartoffelfelder. Die Straße war belebt genug. Allenthalben begegneten dem ungeduldigen Reiter lange Züge von Frachtkarren, die von einer ganzen Schar Ochsen gezogen wurden und mit Binsenmatten bedeckt waren, und deren schwere Räder aus massiven Holzscheiben einen gleichmäßig knarrenden, melancholischen Ton erzeugten und tief in den schlechten Weg einschnitten. Berittene Führer, die Steigbügel mit der großen Zehe des nackten Fußes haltend, trieben die Zugtiere mit fünf Meter langen Bambuslanzen unablässig an. Nachts rasteten diese Karawanen auf offenem Felde, wo die Tiere frei weiden durften, während die Kutscher und Treiber ihr Mahl in berußten Feldkesseln kochten und dann unter den Wagen schliefen. Die meisten Ansiedlungen lagen zerstreut, aber doch gab es auch einige geschlossenere Ortschaften, und in deren Nähe war die Straße natürlich am belebtesten. Vierspännige Ackerwagen, mit Maissäcken oder Brettern beladen, oder auch einzelne zweispännige Jagdwagen waren hier die häufigsten Erscheinungen, noch mehr aber die unzähligen Reiter, denn in Brasilien reitet alles: Männer, Frauen und Kinder, und das Pferd oder das Maultier spielt dort mindestens dieselbe Rolle wie in den ebenen Gegenden Norddeutschlands das Fahrrad. Man würde es mit der Würde eines angesehenen Mannes oder seiner Angehörigen gar nicht für vereinbar halten, wenn sie auch nur kleinere Strecken ohne zwingenden Grund zu Fuß zurücklegen wollten. Fast vor jedem Haus stehen gesattelte Pferde zur sofortigen Benutzung bereit, und an der Hauswand sind immer eiserne Ringe eingelassen, an denen etwaige Besucher die Zügel ihrer Reittiere festknüpfen können. Viele der reitenden Männer trugen nicht hohe Reitstiefel, sondern buntgestickte Hauspantoffel, und die Frauen, fast ausnahmslos barfuß, hielten sich mit dem rechten Knie auf einer hohen Sattelgabel und mit der Zehe des linken Fußes in einem winzig kleinen Steigbügel. Schön sah das gerade nicht aus, aber die große Gefahr, bei einem Sturze des Pferdes im Steigbügel hängen zu bleiben, wird dadurch vermieden. Die Kinder, Knaben wie Mädchen, saßen rittlings auf ungesattelten Tieren, die oft nicht einmal ein Zaumzeug trugen, sondern denen nur ein Strick wie eine Halfter über die Nase gelegt war; fünf- und sechsjährige Knirpse ritten auf diese Weise stolz zu der stundenweit entfernten Schule. Die Pferde schienen allerdings sehr gutmütig zu sein. Weniger imponierte ihr Äußeres mit dem kleinen Körper, der ausgeprägten Ramsnase und dem stark eingedrückten Rücken. Aber der Brasilianer sowohl wie der praktische deutsche Kolonist legen wenig Wert auf Pferdeschönheit, sondern betrachten diese Tiere lediglich als vierbeinige Fortbewegungsinstrumente.


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