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Fünftes Kapitel. Bei den Wilden im Chaco.

Illustration

Einige Wochen später finden wir die beiden Freunde mit ihren Begleitern am Ufer des Rio Pilcomayo, wo der noch wenig erforschte Teil des Chacos anhebt. Es war eine weite und beschwerliche Reise bis dahin gewesen, und doch war sie ohne besondere Abenteuer und Fährlichkeiten verlaufen. Neugierig ließen Helmut und Doktor Mangold ihre Augen über die endlose Fläche streifen, aber sie waren davon eigentlich wenig befriedigt, denn die prachtvollen Urwälder und die romantischen Höhenzüge von Rio Grande do Sul fehlten hier völlig. Das Merkwürdigste an der Landschaft war ihr gänzlicher Mangel an Steinen. Soweit das Auge reichte, sah es nur Sand und Schlamm. Träge wälzte sich der mächtige Fluß durch sein breites Schlammbett, oft sich in verschiedene Arme zerteilend und dann schilf- und rohrbewachsene Inseln einschließend, die unzähligen Wasservögeln zum Aufenthalt dienten. Die weite Ebene zeigte nur spärliches Gestrüpp oder dazwischen kleine Gehölze, nirgends aber große, geschlossene Waldungen. Doch versicherte Tumayaua, daß gerade diese kleinen Gehölze viel reicher an eßbaren Früchten seien als der unermeßliche Urwald, in dem man trotz seiner Pflanzenfülle leicht verhungern könne. Und die Tatsache, daß die Gegend verhältnismäßig dicht bewohnt zu sein schien, daß überall Saumtierpfade kreuz und quer verliefen, schien ihm Recht zu geben. In dem großen Flusse gab es ja sicherlich auch viele Fische, die schon eine ansehnliche Bevölkerung ernähren konnten. Das unangenehmste war entschieden die Beschaffenheit des Bodens. Wo er noch Feuchtigkeit vom Flusse erhielt, war er grundlos und schlammig, so daß die Saumtiere oft bis über die Knie einbrachen und sich nur schwer wieder herausarbeiten konnten. Wo aber die Sonne den Boden ausgedörrt hatte, da hatte sich der Schlamm in feinen Staub verwandelt, der in ganzen Wolken vom Winde hin und her getrieben wurde und das Reiten höchst unangenehm machte, indem er sich in Augen, Nasen und Ohren der Reisenden festsetzte. Dazu hatten überall die Erdratten den Boden unterwühlt, oder der Fluß hatte bei seinen Überschwemmungen unterirdische Höhlen ausgewaschen, so daß man die höchste Vorsicht anwenden mußte, um nicht zu stürzen und Hals und Beine zu brechen. In der Ferne durchkräuselte der Rauch eines indianischen Lagerfeuers die Luft, und erwartungsvoll ritt man darauf zu, ungewiß, welche Aufnahme man bei den verrufenen Wilden des Chaco finden würde. Alles hing davon ab; denn was sollte aus Helmut werden, wenn sich die Indianer widerspenstig verhielten und ihn zwangen, wieder in die verlassene Zivilisation zurückzukehren, deren Schergen nach seinem jungen Leben trachteten? Durch Tumayaua wußte er bereits, daß man hier auf den großen Stamm der Ashluslays stoßen würde, die noch sehr wenig mit der Kultur in Berührung gekommen waren. Das ließ manches erhoffen und vieles befürchten.

Schon war man dem Dorfe der Ashluslays ziemlich nahe gekommen, und noch ließ sich kein Wachtposten blicken. Nur Gegröhle und Gejohle drang durch die schwüle Luft. Ungehindert ritt man in die Ansiedlung ein, und mit leisem Schauder merkte Helmut, daß die ganze rothäutige Gesellschaft stark betrunken war. Aber keiner tat den Reisenden etwas zuleide, keiner belästigte sie im geringsten. Im Gegenteil kam man ihnen fast mit übertriebener Freundlichkeit entgegen, die sich mit plumper Vertraulichkeit paarte. Nachdem Tumayaua einige erklärende Worte gesprochen hatte, nötigte man die Reisenden zum Absteigen und führte sie nach einer besonders großen Hütte, die für auswärtige Besucher bestimmt zu sein schien. Im übrigen war sie ebenso einfach und kunstlos wie die andern Hütten auch, rund von Form, lediglich aus Baumästen erbaut und oben mit frischen Blättern zugedeckt. Wenn es tüchtig regnete, mußte man hübsch naß werden in einer so urwüchsigen Behausung. An Hausgerät war nichts vorhanden, als ein paar geflochtene Matten, die als Lagerstätten dienen konnten, mit runden Baumstämmen als Kopfkissen, dazu ein paar Baumklötze als Sitzgelegenheiten und ein paar schön geflochtene große Körbe zur Aufnahme etwaiger Habseligkeiten, die man aber auch ebensogut zwischen das Flechtwerk der Hütte schieben konnte. Der Häuptling, äußerlich durch nichts von seinen Stammesgenossen verschieden, machte die Ehrenbezeigungen und ließ durch Frauen getrockneten Fisch und flache, nur halb durchgebackene Maiskuchen zum Imbiß herbeischaffen. Er wie seine Leute waren prachtvoll gewachsene, ebenmäßig gebaute Menschen von dunkler Bronzefarbe, die in ihren Gesichtern weder die scharfen Züge Tumayauas, noch die abstoßende Roheit der Bugres zeigten. Sie hatten vielmehr in ihrem ganzen Wesen etwas harmlos Kindliches, bestechend Frohgemutes, waren sehr heiter und hatten immer etwas zu lachen. Der Mahnungen des Herrn Lehmann eingedenk, lud Helmut sofort seinen Tabakesel ab und beschenkte den gutmütigen Häuptling mit einer Rolle des geschätzten Krautes. Ein Freudenschimmer ging dabei über dessen Züge, und der Bund war besiegelt. Sofort teilte der Häuptling aber von seinem Schatze seinen Stammesgenossen freigebig mit; er wollte oder durfte vor diesen offenbar nichts voraus haben. Dann aber nahmen je zwei Ashluslay je einen der Reisenden unter den Arm und schleppten ihn, ob er wollte oder nicht, zu ihrem Kneipplatze inmitten des Dorfes. Dort waren die Frauen gerade beschäftigt eine neue »Bowle« zu brauen, wie der Doktor sich humoristisch ausdrückte. In einem großen, ausgehöhlten Kürbis kochten sie die zuckerreichen Früchte des Algarrobobaumes, kauten andere Früchte im Munde und spuckten dann das Durchgekaute in die Bowle hinein, um die notwendige Gärung anzuregen. Die beiden Weißen sahen mit Entsetzen zu, machten aber auf einen lebhaften Wink Tumayauas hin gute Miene zum bösen Spiel. Die ganze Flüssigkeit wurde dann über durchlöcherten, schmutzigen Fellen durchgeseiht und in einen andern Riesenbottich gegossen. Zur Anfeuerung des Durstes gab es vorher noch frische Fische, die auf einem Kohlenfeuer gebraten und auf großen grünen Blättern überreicht wurden. Sie wären köstlich gewesen, wenn es nur auch Salz dazu gegeben hätte. Aber Salz ist ein rarer Artikel im Chaco. Endlich war das Gebräu fertig, und das Zechgelage konnte beginnen, nachdem die Frauen sich zurückgezogen hatten.

Jeder Teilnehmer erhielt eine mit hübschen Ornamenten verzierte Kürbisschale als Trinkgefäß, mit der er nach Belieben aus der großen Riesenbowle schöpfen konnte. An und für sich mundete das Getränk gar nicht schlecht und erinnerte im Geschmack etwa an unser süßes Weizenbier, war nach der Hitze und dem Staub des Tages auch recht erfrischend. Doch schien es bei dem hohen Zuckergehalt stark berauschend zu sein, denn Helmut und Doktor Mangold bemerkten bald, wie ihnen der Kopf schwer wurde, die Stirn glühte und ihre Gedanken sich zu verwirren begannen, während Tumayaua und Zampa schon eher an derartige Schwelgereien mit diesem Teufelsgebräu gewöhnt zu sein schienen. Das allerschlimmste war aber, daß man nach Landessitte jedesmal sein Gefäß auf einen Zug leeren mußte. Und dabei enthielt eine solche Kürbisschale immerhin etwa eineinhalb Liter! Unser »Prosit« wurde beim Zutrinken dadurch ersetzt, daß die Indianer jedesmal die rechte Hand in die Höhe hoben und in eigentümlicher Weise mit den Fingern schnalzten. Da Helmut auch hier freigebig von seinem Tabak spendete, widerfuhr ihm die Ehre des Zutrinkens öfter, als ihm im Interesse seines körperlichen und geistigen Gleichgewichts lieb war. Er hatte ja auf dem Aquidaban auch schon manches tüchtige Zechgelage mitmachen müssen, aber eine derartige Kneiperei wie hier im Chaco erschien ihm doch unerhört.

Indessen erwies es sich bald, daß die Indianer zu jener gutmütigen Art von Betrunkenen gehörten, die im Rausche die ganze Welt umarmen möchten. So ausgelassen es auch zuging – Zank und Streit gab es nicht. Vielmehr herrschte eine allgemeine Verbrüderung, die allerdings zuletzt Formen annahm, die für die Weißen keineswegs angenehm waren. Helmuts Tabakpfeife wanderte von einem der schmutzigen Mäuler zum andern, und als Zeichen besonderer Freundlichkeit wischte man ihm ab und zu mit unsauberen Fingern den Mund ab. Geifernde Greise spuckten zur Erhöhung der Feststimmung in die Bowle, die andern prahlten mit nie begangenen Heldentaten und renommierten von ihren Kriegszügen, noch andere belustigten sich durch gröhlenden Gesang, zu dem ausgehöhlte und mit Steinen gefüllte Kürbisse klappernd den Takt angaben. Und doch herrschte bei aller Roheit und Urwüchsigkeit ein gewisses natürliches Taktgefühl, das es ängstlich vermied, Dinge peinlicher oder unangenehmer Art zu berühren.

Auf das Zechgelage folgte eine längere Erholungspause, in der jeder stöhnend und ächzend seinen Rausch ausschlief. Danach war Ball unter freiem Himmel bei Vollmondbeleuchtung. Mit größter Sorgfalt wurde dazu Toilette gemacht, obgleich die Herrschaften eigentlich gar nichts anzuziehen hatten. Aber es mußten doch Gesicht, Brust und Arme bunt bemalt werden, das Haar wurde sorgfältig geordnet, auf den Kopf eine Art Haube aus glänzenden Schneckenschalen gestülpt, in die durchbohrten Ohrlappen große Scheiben aus leichtem, weißem Holze geklemmt, Knöchel und Armgelenke mit Manschetten aus bunten Vogelfedern geschmückt. Dazu kamen Halsketten aus bunten Samenkörnern oder Muscheln. So ausstaffiert zog alles hinaus zum Tanzplatze am sandigen Ufer des Rio Pilcomayo. Das Orchester enthielt außer den Klapperkürbissen auch noch Trommeln, die aus großen, mit dünnem, gegerbtem Fell überzogenen und ganz hübsch bemalten Tongefässen bestanden. Walzer und Polka gab's nicht, sondern nur eine Art Ringelreigen, wie ihn ähnlich manchmal noch die Dorfkinder bei uns abends unter der alten Linde tanzen. Die Männer faßten sich gegenseitig an den Händen und stampften mit den kräftigen Füßen im Takte den Boden, bald nur ganz langsam sich bewegend, bald wieder wie der Wirbelwind über die sandige Fläche sausend. Die Frauen und Mädchen gaben zunächst nur stumme Zuschauerinnen ab. Dann ergriff aber auch sie die allgemeine Begeisterung, und sie bildeten nun einen zweiten Kreis um den der Männer herum, indem sie die Hände auf deren nackte Schultern legten.

»Nur immer rin ins Vergnügen! Mit den Wölfen muß man heulen!« meinte Doktor Mangold, und bald drehten auch er und Helmut sich zum Jubel der Indianer mit in dem allgemeinen Trubel. Und nicht lange dauerte es, dann legten auch auf ihre Schultern sich die schmalen Hände schlanker Indianermädchen. Man umtanzte einen gewissermaßen als Dorflinde dienenden hohen Pfahl, auf dessen Spitze Helmut mit leisem Grauen den Skalp irgend eines im Kriege gefallenen feindlichen Häuptlings im Winde flattern sah. Die ganze Nacht hindurch ging es so mit dazwischen eingeschobenen Eßpausen weiter, und der Morgen dämmerte schon herauf, als endlich alles schlaftrunken in seine Hütten kroch.

Während der nächsten Wochen lebten so Helmut und seine Begleiter mitten unter den Indianern das einfache Leben dieser harmlosen Naturkinder. Und sie fühlten sich wohl und glücklich dabei, nachdem sie erst einmal den Widerwillen gegen den vielfach herrschenden Schmutz etwas überwunden hatten. Nicht immer freilich ging es so lustig zu wie am Tage ihrer Ankunft. Es kam ganz darauf an, ob Fischfang oder Jagd die Bäuche gefüllt hatten oder nicht, ob die Abende schön und lau waren oder kalte Regenschauer die nackten Menschen in ihren dünnwandigen Hütten frösteln ließen. War Nahrung im Überflusse vorhanden, so herrschte auch ausgelassene Fröhlichkeit; dann folgte ein Trinkgelage dem andern, und abends war regelmäßig Ball. War aber Schmalhans Küchenmeister, dann schlich alles gedrückt und traurig umher. Um das Morgen machten sich diese fröhlichen Naturkinder keine Sorgen; wenn nur das Heute gut war. Auch Gesellschaftsspiele wurden oft veranstaltet, und die Indianer kannten sogar eine Art Fußball, wobei sie kugelförmig zusammengekneteten Rohkautschuk als Ball benutzten. Bei schlechtem Wetter wurde viel und lange geschlafen, gewissermaßen auf Vorrat, denn an den Tanz- und Trinkabenden kam man doch die ganze Nacht nicht zur Ruhe. Manchmal wurden auch Märchen und alte Sagen erzählt, die oft recht hübsch und sinnig waren und sich meist mit den Tieren des Waldes beschäftigten.

Mit der Jagd war nicht viel los im Chaco, denn dieses staubige Land erwies sich zur großen Enttäuschung Doktor Mangolds als recht tierarm. Hauptsächlich gab es Gürteltiere und Strauße, aber die letzteren waren so scheu und flüchtig, daß die Indianer selten auf Bogenschußweite herankamen, obwohl sie die Kunst des Anschleichens vorzüglich verstanden und sich dabei nicht selten auch in Straußenfelle hüllten, um die zwar mißtrauischen und schnellfüßigen, dabei aber doch ziemlich dummen Vögel zu täuschen. Unter diesen Umständen kam ihnen Helmuts sichere und weittragende Büchse sehr zustatten, und sie waren ihm herzlich dankbar dafür, daß er sich der Fleischversorgung des Dorfes etwas annahm. So oft er schweißtriefend und beutebeladen von seinen Jagdausflügen zurückkehrte, zogen ihm schon die Frauen und Mädchen singend entgegen und überreichten ihm Kürbisschalen mit erfrischendem Algarrobobier zur Erquickung. Am ergiebigsten war die Jagd auf die Gürteltiere, und diese gepanzerten Geschöpfe lieferten auch ein recht gutes Fleisch. In mondscheinhellen Nächten zogen alle jungen Männer, mit keulenartigen Stöcken bewaffnet und von ihren Hunden begleitet, zur Suche auf Gürteltiere aus. Diese waren zwar massenhaft vorhanden und hatten an manchen Stellen den Boden derart unterminiert, daß man kaum darüber weggehen oder reiten konnte, ohne einzubrechen, aber bei Tage bekam man doch nur höchst selten eines zu Gesicht, da diese absonderlichen Geschöpfe ein ausgesprochenes Nachtleben führen und erst nach völligem Einbruch der Dunkelheit hervorkommen, um ihrer aus Würmern, Insekten und jungen Vögeln bestehenden Nahrung nachzugehen. Wurde nun in solchen hellen Nächten ein Gürteltier von den Hunden aufgestöbert, so suchte es laufend zu entkommen, stellte sich dabei aber so ungeschickt an, daß die Hunde es gewöhnlich bald einholten, worauf sich das Gürteltier zusammenkugelte wie unser Igel. Mit wütendem Gekläff fuhren dann die Hunde darauf los, aber sie konnten den glatten Panzer mit ihren Zähnen nirgends erfassen, bis schließlich die Indianer dazukamen und mit ihren Keulen das Gürteltier totschlugen. Glückte es diesem dagegen, seine Höhle zu erreichen, noch ehe es die Hunde gestellt hatten, dann war schon mühsamere Arbeit nötig, um sich seiner zu bemächtigen. Diese Tiere besitzen nämlich in ihren muskulösen und mit ungemein starken Nägeln bewehrten Vorderfüßen vorzügliche Grabwerkzeuge und vermochten sich so in unglaublich kurzer Zeit tief in die Erde zu verklüften. Die Indianer mußten allen Eifer aufbieten, um es ihnen im Graben gleichzutun. Kam dann endlich der Schwanz des Tieres zum Vorschein, so wurde es daran gepackt und festgehalten, bis die Erde rings herum fortgeschaufelt war. Dagegen war es ganz unmöglich, ein Gürteltier etwa am Schwanze aus der Erde herauszuziehen, so fest hielt es sich mit seinen Klauen.

Doktor Mangold kam als Naturforscher hauptsächlich dadurch auf seine Rechnung, daß er sich an den Fischzügen der Ashluslays beteiligte, denn der Rio Pilcomayo wimmelte nur so von den interessantesten Geschöpfen der verschiedensten Art. Es war eine wahre Lust, den Indianern beim Fischfange zuzusehen, weil ihre körperliche Schönheit und Gewandtheit dabei voll zur Geltung kamen. Boote besaßen sie zwar nicht, schwammen und tauchten dafür aber so gut, als seien sie Amphibien. Kleinere Fische erbeuteten sie mit Handnetzen, indem sie einfach ins Wasser sprangen und fischten, schwammen und tauchten, genau wie Fischottern. Wo die Gelegenheit günstig erschien, wurde mit größeren Netzen auch bisweilen ein ganzer Flußarm abgesperrt und die Fische dann unter großem Geschrei in die Netze getrieben. Es ging überhaupt immer sehr lustig zu bei diesen Fischzügen, und des Gelächters und Scherzens war dabei kein Ende. Große Fische schossen die Ashluslays am liebsten mit Pfeilen und entwickelten dabei eine erstaunliche Treffsicherheit, indem es bekanntlich gar nicht so einfach ist, einen im Wasser stehenden Fisch zu treffen, da ja dabei die Gesetze der Lichtbrechung auf der Wasseroberfläche berücksichtigt werden müssen. Das Spannen der großen Bogen erforderte auch eine erhebliche Kraftanstrengung, und beim Schusse selbst schwirrte die Sehne mit solcher Gewalt los, daß sich ein unvorsichtiger Schütze dabei leicht empfindliche Verletzungen am Unterarm zuziehen konnte. Die meisten Ashluslays hatten deshalb, wenn sie zum Jagen oder Fischen auszogen, den Unterarm zum Schutze mit einem Geflecht aus starken Grasfasern umwickelt. Besonders hatten es die Indianer auf die großen Palometafische abgesehen, die nach Form und Größe etwa unsern Steinbutten glichen. Gewöhnlich lagen diese Fische träge im Schlamm auf dem Boden des Stromes, sobald sie aber etwas Genießbares vermuteten, erhoben sie sich mit ungeahnter Leichtigkeit und schossen raubgierig darauf zu. Selbst vor Angriffen auf den Menschen scheuten sie dann nicht zurück, verteidigten sich auch wütend, wenn sie gefangen wurden. Mit ihren scharfen Zähnen rissen sie ganze Fleischbrocken aus dem menschlichen Körper, und nicht wenige der Ashluslays hatten große Narben, die von den Bissen der Palometafische herrührten. Es war dieser Fische wegen daher auch nicht sehr ratsam, im Flusse zu baden, wenigstens nicht an den Stellen, wo sie sich zahlreich vorfanden. Fast noch unangenehmer als sie waren winzig kleine Fischchen, die massenhaft über den Menschen herfielen und mit ihren scharfen, lanzettförmigen Flossen ihm zahlreiche, tiefe Wunden beibrachten. Doktor Mangold kam einmal ganz blutüberströmt aus dem Flusse heraus, als er beim Baden zwischen eine Schar dieser kleinen Unholde geraten war. Die gefangenen Palometafische wurden, soweit man sie nicht sofort verzehrte, von den Frauen der Ashluslays mit Nadeln an Schnüren aufgereiht und über dem Feuer geräuchert. Sie schmeckten dann köstlich, etwa wie unsere Flundern. Unsere beiden Freunde hielten sich hauptsächlich an diese Kost, da sie den andern Indianergerichten, zu denen auch die mitsamt den Eingeweiden gerösteten Eidechsen und Frösche gehörten, recht wenig Geschmack abgewinnen konnten.

Eine erwünschte Abwechslung in das Einerlei des täglichen Speisezettels brachte auch der häufig als Nachtisch erscheinende wilde Honig, den die Indianer mit großem Scharfsinn ausfindig zu machen verstanden. Aufgetragen wurde er in einer großen Kürbisschale und verzehrt mit Hilfe eines ganz eigenartigen Instrumentes, eines Eßpinsels, der verzweifelte Ähnlichkeit mit dem Rasierpinsel unserer Friseure hatte und aus einem auseinandergefaserten Stück Holz oder Wurzel bestand. Diesen Eßpinsel tauchte einer der Schmausenden in die süße und zähe Flüssigkeit, leckte ihn sorgfältig ab und reichte ihn dann zu gleicher Verwendung seinem Nachbar. Das war zwar nicht gerade appetitlich, aber in den Wildnissen des Chaco gewöhnte man sich schließlich an alles, und die beiden Europäer wurden bei diesem Leben mitten zwischen den Indianern schließlich in sehr kurzer Zeit selbst zu halben Wilden. Ein ganz gutes Essen waren auch die Klöße aus Algarrobomehl, die die Ashluslayfrauen zu bereiten verstanden. Diese erwiesen sich überhaupt im Gegensätze zu ihren lustig und unbekümmert in den Tag hinein lebenden Eheherren als ganz sorgsame Hausmütterchen und sorgten nach ihrer Art auch ein wenig für die Zukunft. Und das war auch unbedingt nötig, denn wenn Regengüsse das Wasser des Rio Pilcomayo trübten und dadurch den Fischfang unmöglich machten, gleichzeitig auch den schlammigen Boden derart aufweichten, daß man nicht zur Jagd hinausziehen konnte, dann war nur zu rasch Schmalhans Küchenmeister im Indianerdorfe. Aber die Frauen zogen bei gutem Wetter täglich truppweise hinaus in den Wald und brachten in ihren aus zähen Grasfasern geflochtenen Tragtaschen Unmengen der verschiedensten eßbaren Früchte mit heim. Den Überfluß trockneten sie dann am Feuer mit derselben Sorgfalt wie unsere Hausfrauen ihre Backpflaumen. Sogar unterirdische Öfen und Vorratskammern hatte man zu diesem Zweck angelegt, und an manchen Tagen hätte man sich in der verschrieenen Wildnis des Chaco förmlich in eine europäische Konservenfabrik versetzt glauben können.

Was unsere Freunde mit vielen Entbehrungen und Unannehmlichkeiten und zuletzt sogar mit den widerwärtigen Unreinlichkeiten im Indianerdorfe immer wieder aussöhnte, das war die außerordentliche Gutherzigkeit dieser Wilden. Was einer von ihnen bekam, das gehörte sozusagen allen, und jeder teilte von seinem augenblicklichen Überfluß den andern ohne Zaudern so reichlich mit, daß oft für ihn selbst nichts mehr übrig blieb. Keinem fiel es ein, eine etwaige besonders leckere Jagdbeute für sich allein zu verzehren oder den von Helmut ihm geschenkten Tabak allein zu verrauchen. Selbst erhaltene Schmuckstücke oder Kleidungsstücke machten nach und nach im ganzen Dorf die Runde, so daß jeder sie abwechselnd für einen oder einige Tage trug, und auch dem Häuptling fiel es niemals ein, etwas für sich allein zu beanspruchen. Freilich hatte dieser weitgehende Kommunismus für unsere Freunde auch seine Schattenseiten, denn die Indianer betrachteten auch deren Eigentum als Gemeinbesitz. Diebstahle kamen zwar nicht vor, wohl aber erlebte es Helmut, daß irgend einer der jungen Dorfstutzer zum Tanze in seiner Jacke erschien, die er aber nach seiner Auffassung nicht gestohlen, sondern nur entliehen hatte und nach ein paar Tagen willig wieder zurückbrachte. Ebenso ging es mit Messern, Werkzeugen, Schlafdecken u. dergl. Mit wahren Argusaugen mußte Helmut namentlich seinen ohnehin nicht übermäßig reichlich bemessenen Vorrat an Streichhölzern bewachen, denn so selbstverständlich und wertlos uns diese kleinen Dinger in unsern kultivierten Verhältnissen erscheinen, ein so kostbares und unersetzliches Gut stellen sie doch in der Wildnis vor. Die Indianer hatten sehr bald heraus, wie leicht man mit diesen kleinen Hölzchen Feuer entfachen kann, und waren deshalb hinter ihnen her wie die Raben. Sonst mußten sie sorgsam darauf achten, daß ihnen das Feuer nicht ausging, denn das Neuentfachen bedeutete eine äußerst mühselige und anstrengende Arbeit. Sie hatten dazu eine Art Zylinder aus weichem Holze, in dem ein Stab harten Holzes so lange quirlartig herumgedreht wurde, bis das Holz sich erhitzte und die abfallenden Spänchen zu glimmen anfingen, worauf man dann durch vorsichtiges Anblasen eine Flamme entfachen konnte. Das kostete aber manchen Schweißtropfen, und Helmut und Doktor Mangold bekamen es trotz aller Anstrengungen überhaupt nie fertig, so oft sie es auch versuchten. Sie merkten da so recht, von welch ungeheurer Bedeutung doch die Erfindung des Feuers für die Menschheit gewesen sein müsse, und sagten sich, daß erst diese Erfindung, von der kein Geschichtsbuch berichtet, den Menschen über das Tier hinausgehoben habe, indem der Mensch auch heute noch immer das einzige Lebewesen ist, das die Flamme zu meistern und in seinen Dienst zu stellen versteht. Über die merkwürdigen Anschauungen der Indianer bezüglich des Begriffs des Eigentums konnte der gelehrte Doktor seinem jungen Freunde Auskunft geben.

»Diese Wilden,« sagte er, »haben sich noch nicht zu den uns Europäern geläufigen Begriffen von Staat und Familie entwickelt, sondern stecken noch vollständig in demjenigen gesellschaftlichen Entwicklungszustand, den man als Sippe zu bezeichnen pflegt. Eine solche Sippe ist sozusagen ein größerer Verwandtschaftsbezirk, und in diesem sind alle Dinge den einzelnen Sippenmitgliedern ebenso gemeinsam wie bei uns in der Familie. Einer tritt für den andern in jeder Beziehung ein, und keiner hat vor dem andern etwas voraus. Eigentlich ist das ja ein ganz idealer Zustand, den übrigens auch wir Europäer durchgemacht haben. Unsere altgermanischen Vorfahren z. B., wie sie uns Julius Cäsar schildert, müssen auch noch in Sippen gelebt haben. Jedenfalls war die Sippe und ist es hier bei den Indianern noch eine milde und gütige Erzieherin auf den ersten Kulturstufen der Menschheit, ehe der sogenannte Staat sie mit harter Hand auf steilen Pfaden weiter aufwärts führte und sie mit eisernen Klammern zusammenschweißte.«

Eine besondere Freude war es für den Doktor, als er gelegentlich beim Fischfang die Anwesenheit von Lurchfischen feststellen konnte. Es waren dies aalartige Fische mit ganz kleinen Schuppen, die in ihrer ganzen Gestalt lebhaft an Molchlarven erinnerten, dabei aber über einen Meter lang und entsprechend schwer waren. Sie lagen tief im Schlamme eingegraben und bissen tüchtig um sich, wenn man sie herausholte.

»Was diese Fische, die nur noch in vier Arten auf dem Erdball existieren, so interessant macht,« erklärte Doktor Mangold, »ist die Art und Weise ihrer Atmung, weshalb man sie auch wissenschaftlich als Doppelatmer bezeichnet. Sie besitzen nämlich nicht nur Kiemen wie andere Fische, sondern außerdem auch noch gut ausgebildete Lungen, die mit den Nasenlöchern in unmittelbarer Verbindung stehen. Wenn die Trockenzeit kommt und das Wasser in vielen Flußarmen verschwindet, machen sie sich aus Schlamm und abgesondertem Schleim eine Art Kapsel zurecht, in der sie zusammengekrümmt monatelang liegen, bis frische Regengüsse sie zu neuem Leben erwecken.«

So verbrachten unsere Freunde ruhige und glückliche Tage bei den Ashluslays im Chaco und gewöhnten sich mehr und mehr an deren primitive Lebensweise. Keine Nachricht aus der großen Welt drang in ihre Einsamkeit, und fast hätten sie vergessen, daß es außer diesen glücklichen Wilden auch noch andere Menschen auf Erden gab, die in Eisenbahnen und auf Dampfschiffen fuhren, ihre Gedanken auf dem Telegraphendraht mit Blitzesschnelle durch die Welt jagten und sich gegenseitig mit Pulver und Blei bekriegten und mordeten wegen Besitztümern, die den einfachen Naturkindern des Chaco als selbstverständliches Gemeingut aller erschienen. Aber sie sollten zu ihrem Schrecken plötzlich in sehr unliebsamer Weise daran erinnert werden, daß die sogenannte Kultur heutzutage auch bis in die entlegensten Teile der Erde dringt.

Helmut und Doktor Mangold hatten in Begleitung einiger Ashluslays einen größeren mehrtägigen Ausflug zu einer benachbarten Horde weiter stromaufwärts unternommen. Sie hatten dabei die merkwürdige Entdeckung gemacht, daß diese Indianer nicht in Reisighütten hausten, sondern eine Art Schilderhäuser bewohnten, die aus den riesigen Panzern vorsintflutlicher ausgestorbener Gürteltiere bestanden, und unterhielten sich noch über diese interessante Erscheinung, als sie ihr Dorf schon beinahe wieder erreicht hatten. Das Erscheinen Tumayauas, der ihnen entgegengelaufen kam, brachte sie aber doch bald auf andere Gedanken. Der Indianer legte schon von weitem die Hand auf den Mund und machte unsere Freunde, die mit ihren Pferden ihren zu Fuß gehenden Begleitern um eine gute Stunde voraus waren, darauf aufmerksam, daß etwas im Dorfe vorgehe und die Ashluslays nicht mehr so wohlgesinnt seien wie bisher. Helmut wollte das gar nicht glauben, denn er hatte bisher mit allen Angehörigen des Stammes im besten Einvernehmen gelebt. Nur einer war dabei, der ihm von jeher unsympathisch erschienen war, und der das schlechte Element im Dorfe vorstellte. Es war dies der sogenannte Medizinmann, der die Funktionen eines Priesters und Arztes in einer Person vereinigte und fast mehr Ansehen genoß als der Häuptling selbst. Während alle andern Indianer den beiden Europäern mit gutmütigem Vertrauen entgegenkamen, hatte dieser Medizinmann von Anfang an ein mißtrauisches und zurückhaltendes Wesen an den Tag gelegt. Offenbar befürchtete er, daß der Hokuspokus, den er den unwissenden Indianern vormachte, durch die Europäer lächerlich gemacht und überhaupt seine Kunst durch deren Wissen und rätselhafte Instrumente in Schatten gestellt werden könne. Helmut hatte sich aber nie viel um den brummigen alten Patron gekümmert und nur öfter im stillen über sein Geflunker und seine angeblichen Zauberkünste gelacht. Wider Willen hatte er die Feindschaft des einflußreichen Medizinmannes noch dadurch gesteigert, daß er einige fieberkranke Ashluslays durch Verabfolgung von Chinin geheilt hatte, während die vorher von dem Wundermanne versuchte Kur erfolglos gewesen war. Diese Kur hatte darin bestanden, daß der große Arzt stundenlang mit den Lippen am Körper des Kranken herumsog und ihn dann anspuckte, wobei er allerlei geheimnisvolle Zauberformeln vor sich hin murmelte. Jetzt schrak unser Freund aber doch zusammen und erinnerte sich der finsteren Mienen des Medizinmannes, als Tumayaua ihm zuflüsterte, vor diesem auf der Hut zu sein, da er Schlimmes plane und seit gestern noch ein paar Europäer angekommen seien, mit denen er den ganzen Tag zusammensitze, und die ihm reiche Geschenke überbracht hätten. Inzwischen war auch Zampa herbeigekommen und hielt auf einen Wink Tumayauas die Pferde, während die Reiter abstiegen und sich unter Führung Tumayauas in der rasch hereinbrechenden Dunkelheit geduckt und geräuschlos dem Dorfe zuschlichen, um sich über den Charakter der gemeldeten Vorgänge zu vergewissern.

Im Dorfe schien es wieder einmal hoch herzugehen. Die Musikinstrumente ertönten, und schon von weitem erscholl gröhlender Gesang über die stille Ebene. Gewiß war wieder ein großes Algarrobogelage im Gange, jedenfalls den neuen Ankömmlingen zu Ehren. Unter diesen Umständen war es den dreien nicht schwer, unbemerkt bis auf Hörweite heranzuschleichen und sich hinter einer der Hütten ungesehen niederzukauern. Offenbar hatte man ihre Rückkehr so frühzeitig noch nicht erwartet. Helmut durchzuckte ein tödlicher Schrecken, als er jetzt einen Blick auf die um das Lagerfeuer sitzenden und eifrig trinkenden Männer werfen konnte, denn zwischen den bronzefarbenen Gestalten der Indianer entdeckte er ein Dutzend brasilianischer Soldaten in abgerissenen und zerlumpten Uniformen und auf dem Ehrenplatze neben dem Häuptling seinen Feind Alvarez, der also doch richtig den Weg hierher gefunden hatte. Lautlos verhielt er sich und lauschte ängstlich aus die von Alvarez durch Vermittlung eines Dolmetschers mit dem Häuptling gepflogene Unterhaltung.

Soviel er verstehen konnte, handelte es sich darum, daß die Ashluslays ihn dem Dom Alvarez ausliefern und dafür reiche Geschenke erhalten sollten. Zu seiner freudigen Überraschung lehnte aber der Häuptling dieses verräterische Ansinnen mit großer Würde rundweg ab. Er berief sich auf die heiligen Rechte der Gastfreundschaft und darauf, daß er mit den Weißen gejagt und gefischt, getrunken und getanzt habe und sie deshalb nicht ihren Feinden übergeben dürfe, sonst würden die Götter seinen Stamm für eine solche Freveltat schwer bestrafen. Die meisten Indianer pflichteten ihrem Führer offenbar bei, aber auf einige schienen doch die großen Geschenke, die ihnen Dom Alvarez in Aussicht stellte, Eindruck zu machen, und der Medizinmann schlich arglistig von einem zum andern, um für das Verlangen des brasilianischen Offiziers Stimmung zu machen. Mit Entsetzen hörte Helmut, wie er den Schwankenden zuflüsterte, man solle sich nicht an den Häuptling kehren, sondern lieber gleich die Weißen nach ihrer Rückkehr im Schlafe überfallen und samt ihren beiden Begleitern töten. Dann bekäme man nicht nur die Geschenke des Dom Alvarez, sondern auch alles Eigentum der Weißen; auch die Zelte und Pferde, die Flinten und Patronen, die Schmucksachen und Werkzeuge würden dem Stamme gehören. Erregt stritten beide Parteien zusammen, und es erschien ungewiß, welche schließlich die Oberhand behalten werde. Helmut hatte aber genug gehört und schlich sich mit den beiden andern auf demselben Wege wieder zu den Pferden zurück.

Eine hastige Aussprache fand statt. So viel schien sicher, daß ein weiteres Verbleiben bei den Ashluslays sehr gefährlich war und auf die eine oder andere Weise zu Blutvergießen führen mußte. An einen Kampf gegen die wohlbewaffneten Soldaten war ohnedies kaum zu denken, wenn nicht die Ashluslays geschlossen auf Helmuts Seite traten. Der Zufall fügte es ja günstig, daß man die Pferde und auf ihnen einen Teil des Gepäcks zur Hand hatte. Wenn die Ashluslays vollends betrunken waren, mußte es Tumayaua und Zampa ohne sonderliche Schwierigkeiten gelingen, den Rest des Gepäcks in der Nacht herbeizuholen, und dann stand einer schleunigen Flucht nichts im Wege, zumal sich die Soldaten gewiß ebenso gründlich betrinken würden wie die Wilden selbst. Doktor Mangold wollte sein Schicksal natürlich nicht von dem seines Freundes trennen, und unter diesen Umständen erschien der Vorschlag Tumayauas, stromaufwärts zu seinen Stammesverwandten, den Chiriguanos, zu gehen, und bei diesen Zuflucht zu suchen, noch immer als der annehmbarste und am leichtesten auszuführende. Wo hätte insbesondere auch Helmut sich sonst hinwenden sollen? Die Rückkehr in die Zivilisation war ihm ja vorläufig noch versperrt.

So wurde denn die unverzügliche Abreise beschlossen und sofort ins Werk gesetzt. Alles gelang planmäßig, und als bei Sonnenaufgang die Dorfbewohner noch ihren Rausch ausschliefen, waren unsere Freunde schon einige Stunden stromaufwärts gezogen, immer dem Flusse folgend und sich der argentinisch-bolivianischen Grenze nähernd. Tumayaua bemühte sich dabei mit echter Indianerlist, die Spuren, die man hinterließ, zu verwischen, um etwaige Verfolger irrezuleiten. Übrigens war kaum zu befürchten, daß man eingeholt weiden würde, da die Ashluslays nur wenige und schlechte Pferde besaßen und sich auch schwerlich über die Grenzen ihres Gebietes in das fremder Stämme hinauswagen würden.

Es folgte nun wieder ein vieltägiger und anstrengender Marsch, bald über weite, trostlose Ebenen, bald über bewaldete Höhenzüge, durch Moräste und Sandwüsten hindurch, bis endlich die gewaltige Bergkette der Anden in Sicht kam und man am Fuße derselben das Gebiet der Chiriguanos erreichte. Auch diese Indianer bereiteten den ermatteten Reisenden eine überaus freundliche und gastfreie Aufnahme, und Helmut atmete auf, da er sich hier auf bolivianischem Gebiet völlig geborgen wähnte. Rückhaltlos gab er sich deshalb den von allen Seiten auf ihn einstürmenden neuen Eindrücken hin, lebte mit den Chiriguanos wie vorher mit den Ashluslays und beschäftigte sich mit dem Eifer des Forschers mit dem Studium ihrer Sitten und Lebensgewohnheiten.

Es waren ganz andere Verhältnisse, die man hier antraf, und auf den ersten Blick war zu erkennen, daß die Chiriguanos auf einer weit höheren Kulturstufe standen als die Ashluslays. Das gab sich schon in der Kleidung zu erkennen. Hier ging niemand nackt, sondern auch der ärmste Indianer besaß zum mindesten seinen Poncho, die meisten dazu noch das eine oder andere europäische Kleidungsstück oder gar ganze billige Anzüge, wie sie von Handelsleuten über die Andenpässe aus den jenseitigen Hafenstädten herübergebracht werden. Der Hauptunterschied war aber der, daß die Chiriguanos kein jagendes und fischendes Nomadenvolk mehr waren, wie die Ashluslays, sondern bereits Ackerbauer. Deshalb hatten sie auch feste Wohnsitze, und das Sippenwesen war bei ihnen nicht mehr so deutlich ausgeprägt, der Unterschied zwischen Reich und Arm bereits vorhanden und die Stellung der Häuptlinge eine bedeutend einflußreichere. Es gab sogar viele Christen unter ihnen, die von den Missionaren wenigstens äußerlich zu diesem Glauben bekehrt worden waren; aber gerade diese erwiesen sich als zudringlich und frech, während die von der Kultur noch weniger berührten Chiriguanos stolze und freie Menschen waren, die sich die ganze Gutmütigkeit und Heiterkeit urwüchsiger Naturkinder bewahrt hatten. Wie sich bei den Ashluslays alles Denken und Sinnen um den Fischfang im Rio Pilcomayo drehte, so hier um das Gedeihen der Maisfelder. Der Mais war das Ein und Alles dieser Indianer, deren Wohl und Wehe gänzlich vom Ausfall der Maisernte abhing. Sie hatten auch förmliche Scheunen zur Aufbewahrung der Maiskörner, und ebenso waren ihre Hütten bedeutend besser und solider gebaut als die luftigen Behausungen der Ashluslays, auch innen mit Haken, Sitzgelegenheiten u. dgl. erheblich reicher ausgestattet.

Tagsüber waren Männer und Frauen meist zur Arbeit auf den oft ziemlich weit vom Ort entfernten und gut instand gehaltenen Feldern. Nur wenige gingen auf die Jagd oder auf den Fischfang, die beide hier auch viel weniger ergiebig waren, da die Gegend noch viel tierärmer war als im Gebiete der Ashluslays. Fische gab es zwar genug, aber nur kleine, unansehnliche Arten. Doch lernten unsere Freunde bei solchen Gelegenheiten wenigstens eine neue, ebenso urwüchsige wie zweckmäßige Art des Fischfanges kennen. Die Indianerfrauen stellten nämlich einfach große, bauchige Kalebassen mit enger Öffnung oben unters Wasser in den Fluß und füllten sie mit Abfällen aus ihren Maisbierbrauereien. Die Fischchen sammelten sich massenhaft in solchen Kalebassen an, und wenn dann die Frauen am andern Tage nachsahen, brauchten sie bloß rasch ihre Hand über die enge Öffnung zu decken, das Gefäß herauszuheben und an Land zu bringen, und konnten dann eine ganze Menge Fische ausschütten.

Sehr geschickt waren diese Weiber auch im Weben großer, bunter Decken sowie in der Herstellung kunstvoller Tongefäße, die sie aufs geschmackvollste mit allerlei Malereien, wundervoll verschlungenen Arabesken oder sinnvollen und nicht selten auch humoristischen Darstellungen aus dem Tierleben zu verzieren verstanden. Dabei arbeiteten sie durchaus nicht nach einer gemeinsamen Schablone, sondern jede einzelne nach ihrem besonderen Geschmack. Jede einzelne dieser rothäutigen Hausfrauen setzte ihren ganz besonderen Ehrgeiz darein, recht schön verzierte Kalebassen und Tongefäße zu haben, und mit nicht geringem Stolze kredenzten sie aus diesen den fremden Gästen das erquickende Maisbier. Dieses spielte nämlich bei den Chiriguanos dieselbe Rolle wie das Algarrobobier bei den Ashluslays. Mit großer Umständlichkeit und Feierlichkeit ging man bei seiner Zubereitung zu Werke. Mit unermüdlichem Eifer zerstoßen die Frauen die harten Maiskörner in großen Mörsern, und wenn ein großes Trinkgelage bevorsteht, wird diese Arbeit Tag und Nacht kaum unterbrochen. Der gestoßene Mais wandert, gehörig durchgesiebt, in gewaltige, bauchige Tongefäße und wird hier mit Wasser gekocht, dazwischen öfters herausgenommen, tüchtig durchgekaut und wieder ausgespuckt, auch fleißig mit großen Holzspaten umgerührt. Der menschliche Speichel bewirkt eine Gärung, die noch dadurch unterstützt wird, daß man unter dem Gefäß ein schwaches Feuer unterhält. Helmut und sein Freund waren von ihrem Aufenthalte bei den Ashluslays her an ganz andere Dinge gewöhnt und nahmen an dem nach europäischen Begriffen schauderhaften Zusatz menschlichen Speichels zu einem Getränk kaum noch sonderlichen Anstoß, ja sie vermochten einem durchreisenden bolivianischen Händler nicht unrecht zu geben, der mit einem großen Aufwand von Beredsamkeit behauptete, daß die Speichelhefe dem Getränk einen größeren Wohlgeschmack gebe als unsere Bäcker- und Bierhefe. Jedenfalls ließen sich die guten Chiriguanos selbst ihr Getränk trefflich munden und konnten nicht leicht genug davon bekommen. War es nur genügend abgekühlt, so schmeckte es auch wirklich gar nicht übel. Es ging bei diesen Trinkgelagen, die in guten Jahren so oft als möglich veranstaltet wurden, ebenso ausgelassen her wie bei den Algarrobofesten der Ashluslays, aber die Chiriguanos erwiesen sich auch als ebenso gutmütige Zecher wie diese. Mochte es noch so lustig werden, Zank und Streit kamen doch niemals vor, ja selbst nur ein böses Wort wurde kaum jemals gehört.

In einer andern Beziehung aber unterschieden sich die Chiriguanos sehr vorteilhaft von den Ashluslays, indem sie nämlich ungemein reinlich waren. Ihre schlichten Hütten strahlten zwar nicht von Reichtum, aber von Sauberkeit und beherbergten niemals Ungeziefer, während es bei den Ashluslays nur so davon gewimmelt hatte. Täglich nahmen Männer wie Frauen ihr Bad, wuschen sich außerdem öfters die Hände, bürsteten sich regelmäßig die Zähne und hielten ihr straffes, schwarzes Haar mit Hilfe von selbst angefertigten Holzkämmen in bester Ordnung. Auch ihr natürliches Taktgefühl war stark ausgeprägt; sorgsam vermied es jeder, ein Wort zu sagen, das den andern hätte verletzen können.

Einmal wurde eine Art Fastnacht gefeiert, wozu schon eine Woche lang vorher durch fleißiges Maisbierbrauen, Tätowieren und frisches Bemalen der Gesichter umfassende Vorbereitungen getroffen worden waren; die besten Kleidungsstücke und die ältesten und originellsten Schmucksachen wurden dazu hervorgesucht. Helmut mußte staunen darüber, wie sorgsam die Indianer solche Schätze in Köchern aus Baumrinde aufbewahrten, und wie schonend sie damit umgingen. Auch richtige Masken kamen bei dieser Gelegenheit zum Vorschein, die sich die Indianer aus leichtem Holz selbst geschnitzt und in der ulkigsten Weise bemalt hatten, so daß sie sich wohl auch bei einem rheinischen Karnevalszuge mit Ehren hätten sehen lassen können. Jede Indianerin bot alles auf, an diesen festlichen Tagen ein recht gutes, selbstgebrautes Bier im Hause zu haben und es den Gästen aus den schön bemalten Kalebassen zu kredenzen. Das Üble dabei war nur, daß man auf diese Weise in jedem Hause zum Trinken genötigt war und das Gefäß immer bis zur Nagelprobe leeren mußte, wenn man nicht im höchsten Grade ungezogen erscheinen wollte. Hätten unsere Freunde in dieser Beziehung nicht schon bei den Ashluslays eine so gründliche Schule durchgemacht, es hätte ihnen die Fastnacht der Chiriguanos übel bekommen können.

Nur eines wollte ihnen bei diesem prächtigen Menschenschlage nicht recht behagen, nämlich der Umstand, daß die Scheinkultur der Bolivianer mit all ihren zweifelhaften Begleiterscheinungen doch schon zu sehr Eingang gefunden hatte bei diesen Indianerstämmen, die dadurch schon einen großen Teil ihrer urwüchsigen Wildheit, aber auch ihrer besten Charaktereigenschaften verloren hatten. Alle Augenblicke erschienen Händler in den friedlich stillen Tälern, brachten schlechte Anzüge und kindische Spielereien, die lange nicht an die schönen Spielgeräte der ungemein kinderlieben Indianer heranreichten, vor allen Dingen und leider aber auch Schnaps. Wo dieser Fusel aber erst einmal Eingang gefunden hatte, da war es mit der natürlichen Sittlichkeit der Indianer rasch vorbei. Der Dämon Alkohol brachte alle ihre guten Eigenschaften mit verblüffender Schnelligkeit zum Schwinden und steigerte dafür die schlechten zur tierischen Roheit. Wo statt des harmlosen Maisbieres in den hübschen Kalebassen die Schnapsflasche die Runde machte, da gab es auch alsbald Haß und Zank, und die Hände griffen nach den scharfen, jederzeit gebrauchsfertig im Gürtel steckenden Messern. Mit tiefstem Bedauern sah Helmut dieses Zugrundegehen eines edlen Naturvolkes und bedauerte nur, da nicht helfend eingreifen zu können. Tiefer und schmerzlicher noch als er schien Tumayaua die seine Landsleute bedrohende Gefahr zu erkennen und zu empfinden.

Der brave Bursche hatte sich so unendlich gefreut, mit seinen Stammesgenossen zusammenzukommen, von deren Vorhandensein er bisher nur aus dunklen Überlieferungen mehr geahnt als gewußt hatte. Seine dunklen Augen leuchteten auf, sein sonst so ruhiges und ehernes Gesicht strahlte förmlich, als man nach der langen Reise endlich in das Gebiet der Chiriguanos einritt, als gleich im ersten ihrer Dörfer die lang entbehrten Laute seiner Muttersprache unverfälscht an sein Ohr drangen. Er wurde auch von den Rothäuten mit besonderer Herzlichkeit aufgenommen, ging in jeder Hütte ein und aus und saß beim Maisbier oft bis tief in die Nacht hinein mit seinen Stammesgenossen zusammen, alte Sagen und Überlieferungen austauschend, wie die von dem Häuptling, der sich mit der Tochter des Donnergottes verheiratete, oder von dem, der den Göttern zum Trotz das Feuer vom Himmel herunterholte, oder wie die Arbeit zur Plage der Menschheit erfunden wurde, oder wie der Kolibri den Indianermädchen auf einer Pfeife vorspielte und dadurch ihre Herzen rührte, oder wie Schildkröte und Fuchs den Jaguar überlisteten, und wie dieser sich dafür rächte. Das waren schöne Unterhaltungen. Aber auch gar vieles, das ihm nicht gefiel, sah Tumayaua, und immer ernster wurde im Laufe der Wochen sein Antlitz. Helmut fragte ihn einmal, wie es ihm denn bei seinen Landsleuten gefalle, und ob alle seine Erwartungen in Erfüllung gegangen seien, und war ernstlich betroffen über den traurigen und wehmütigen Ton in der Antwort des Indianers.

»Tumayaua hat nie gehofft,« sagte dieser, »seinen Stammesgenossen die Hand drücken zu dürfen, ja er hat nicht einmal genau gewußt, ob es überhaupt noch Chiliguanos gibt auf der Erde. Deshalb hat es ihn sehr gefreut, hierher gekommen zu sein. Und doch wäre es ihm fast lieber, er hätte dieses Land nie gesehen. Diese Indianer hier nennen sich Chiliguanos und sprechen ihre Sprache, aber sie sind es nicht mehr. In Brasilien hat sie der weiße Mann mit seinen Feuerrohren besiegt und ausgerottet, hier aber hat er sie mit Feuerwasser und alten Kleidern überlistet und richtet sie langsam zu Grunde. Dort sind meine Vorfahren mit den Waffen in der Hand den Heldentod gestorben, hier aber werden die Söhne der Indianer die Sklaven der Missionare sein. Statt den Hirsch und den Jaguar zu jagen, bauen sie Mais, und statt ihr Gesicht für den Krieg zu bemalen, trinken sie Schnaps. Das sind keine Chiriguanos mehr. Sie haben eine rote Haut, aber ein weißes Herz. Sie verrichten die Arbeit von Weibern und sind keine Jäger und Krieger. Die alten Chiriguanos sind tot, und vielleicht ist Tumayaua der Letzte von ihnen.«

Unter den Missionaren, die ab und zu zum Besuche der christlichen Chiriguanos in deren Ansiedlungen kamen, waren Leute recht verschiedenen Schlages vertreten. Da gab es lebenslustige junge Männer und solche, die die Verbreitung des Christentums unter den Heiden lediglich als ein gutes Geschäft auffaßten, oder ehrgeizige Streber, die das als eine lästige Pflicht betrachteten und lediglich mit der Zahl ihrer rothäutigen Beichtkinder prunken wollten, weil sie hofften, dadurch in ihrer kirchlichen Laufbahn schneller vorwärts zu kommen. Aber auch wirkliche Priester von echtem Schrot und Korn waren vorhanden, die ihre schöne und verantwortungsvolle Aufgabe sehr ernst nahmen und in jeder Hinsicht mit aufopfernder Nächstenliebe für das Wohl und Wehe ihrer Schutzbefohlenen tätig waren. Unter ihnen ragte namentlich ein schon betagter Franziskanerpater, Dom Pedro, hervor, mit dem Helmut und Doktor Mangold bald näher bekannt wurden und schließlich innige Freundschaft schlossen. Es war eine ehrwürdige, herkulisch gebaute und noch stramm und aufrecht einherschreitende Greisengestalt, einem der alten biblischen Patriarchen vergleichbar, im silbernen Lockenhaar und mit lang herabwallendem, schneeweißem Barte (im Gegensatz zu anderen katholischen Mönchen tragen die Franziskaner Barte). In seinem flatternden braunen Mönchsgewand, Sandalen an den Füßen und einen einfachen Hirtenstock in der Hand, pilgerte er unermüdlich von einem Indianerdorfe zum andern, überall ein hochwillkommener Gast, und auch von den noch heidnischen Wilden hätte ihm keiner ein Haar gekrümmt. Ihm gegenüber unterließ selbst Doktor Mangold seine Spöttereien, so gern und rasch er sonst auch mit solchen zur Hand war. Namentlich imponierte es ihm, daß Pater Pedro sich nicht damit begnügte, den Indianern die für ihre Anschauung so schwer verständliche Lehre von dem Gottessohn zu übermitteln, der die Sünden der Menschen auf sich genommen hatte und zum Danke dafür von ihnen ans Kreuz geschlagen wurde, um nach drei Tagen wieder aufzuerstehen, sondern daß dieser scharfblickende und lebenskundige Mann den Wilden in den kleinen Nöten des täglichen Lebens wacker mit Rat und Tat zur Seite stand, Unfrieden schlichtete und nach Kräften für das materielle Wohlergehen seiner Beichtkinder sorgte. Er drängte ihnen keine europäischen Kleider auf, in denen die Söhne der Wildnis doch nur einen zugleich traurigen und hanswurstartigen Eindruck machten, aber er brachte ihnen immer neue Werkzeuge und Sämereien mit und unterstützte sie bei deren Anbauversuchen.

Wenn Helmut gehofft hatte, in den friedlichen Tälern der Chiriguanos den Rest seiner freiwilligen Verbannungszeit in Ruhe zu verbringen, so sollte er sich bald abermals bitter getäuscht finden. Eines Tages war wieder Dom Pedro auf der Bildfläche erschienen und holte ihn zu einem Spaziergange durch die üppig prangenden Maisfelder ab. Als sie das Dorf ein gutes Stück hinter sich und keine störende Begegnung mehr zu fürchten hatten, begann der menschenfreundliche Priester in dem ihm eigenen gütigen und väterlichen Tone:

»Wir Geistlichen erfahren ja manches früher als andere Menschenkinder, und so ist denn auch, als ich das letztemal in meinem Kloster weilte, eine Nachricht an mein Ohr gedrungen, die Sie recht nahe angeht. Schon seit längerer Zeit weiß ich, daß Sie als Revolutionär von der brasilianischen Regierung verfolgt werden. Diese hat nun in Erfahrung gebracht, daß Sie von den Ashluslays, wo man Sie beinahe erwischt hätte, hierher zu den Chiriguanos geflüchtet und dadurch auf bolivianisches Gebiet übergetreten sind. Vor den brasilianischen Häschern find Sie hier im fremden Lande natürlich so ziemlich sicher, obgleich ich bei unsern unklaren und verworrenen Grenzverhältnissen auch dafür die Hand nicht gerade ins Feuer legen möchte. Nun hat sich aber die brasilianische Regierung durch ihre Gesandtschaft an die unsrige gewandt und den Antrag gestellt, Sie entweder auszuliefern oder Ihnen doch den weiteren Aufenthalt auf bolivianischem Boden zu untersagen. Ich möchte nun mit Ihnen darüber beratschlagen, was Sie am besten zu tun haben, um der drohenden Gefahr rechtzeitig zu begegnen.«

»Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Warnung,« versetzte Helmut niedergedrückt, »die ich um so höher zu schätzen weiß, als sie der katholische Geistliche einem Protestanten erteilt, während sonst unsere beiderseitigen Kirchen ja leider nicht im besten Einvernehmen leben.«

»Wir glauben alle an einen Gott,« erwiderte Pater Pedro ernst. »Wir sind beide Christen, und vor allem sind wir Menschen, die die Pflicht haben, sich gegenseitig beizustehen, weil sie dadurch ihren Schöpfer am besten ehren, mögen sie ihn sonst nennen, wie sie wollen.«

»Übrigens,« fuhr Helmut auf, »kann ich mir doch nicht gut denken, daß die bolivianische Regierung dem ungewöhnlichen Ansuchen der brasilianischen so ohne weiteres Folge leisten wird. Bolivia ist doch ein freies und unabhängiges Land, kann tun und lassen, was es will, und wird die Rechte der Gastfreundschaft zu wahren wissen. Ich sehe also vorläufig eigentlich keine dringende Gefahr.«

»Darauf würde ich doch nicht so sicher bauen,« lautete die bedächtige Antwort. »Bolivia muß sich auf den Standpunkt stellen, daß mit einem großen und übermächtigen Nachbar nicht gut Kirschen essen ist. In dieser Beziehung dient uns ja Paraguay als warnendes Beispiel. Wie ich die Stimmung unserer Behörden kenne, wird sie vielmehr jede Gelegenheit mit Freuden ergreifen, sich der jungen brasilianischen Republik gefällig zu erweisen und dadurch ein gutes nachbarliches Verhältnis anzubahnen. Auf ein einzelnes Menschenschicksal kann und wird dabei niemand Rücksicht nehmen, wenn es sich um das Wohl ganzer Staaten handelt, und daß Menschenleben bei uns in Südamerika billig sind wie die Brombeeren, wissen Sie ja wohl auch. Wenn man Sie mit Rücksicht auf die Rechte der Gastfreundschaft auch nicht gerade ausliefern wird, so liegt doch die Gefahr sehr nahe, daß man ein Auge zudrückt, wenn etwa ein gedungener Meuchelmörder sich hier einstellen sollte in der offenen Absicht, Sie bei erster Gelegenheit aus dem Hinterhalte ins Jenseits zu befördern. Und wenn auch das ausgeschlossen wäre, so dürfen Sie doch ziemlich sicher sein, daß man Sie aus dem Lande ausweisen wird. Dann aber müssen Sie auf dem Landwege, den Sie gekommen sind, wieder über die Grenze zurück, und dort werden wohl brasilianische Soldaten zu Ihrem Empfang bereit stehen. Ich würde Ihnen also doch dringend raten, sich lieber beizeiten aus dem Staube zu machen, ehe eine dieser Möglichkeiten eintritt. Brechen Sie schleunigst auf, so haben Sie alle Vorteile für sich. Ehe die diplomatischen Verhandlungen zwischen den beiden Republiken nicht beendigt sind, kann man Ihnen in keiner Weise etwas anhaben, hat auch keine Ahnung, daß Sie etwa gewarnt sein könnten, und wird deshalb Ihre rechtzeitige Flucht weder verhindern noch verfolgen können. Sie haben außerdem jetzt noch die Wahl, an welchem Punkte Sie über die Grenze gehen wollen, und werden natürlich nicht den alten Weg wählen, wo die Feinde Ihrer harren, sondern an irgend einem andern Punkte wieder brasilianischen Boden betreten. Die Grenze verläuft ja viele Hunderte von Kilometern weit durch das unerforschte Gebiet kaum bekannter Indianerstämme und ist da natürlich nirgends bewacht. Von dem Versuch, etwa über die Anden nach irgend einer Hafenstadt zu gelangen und sich dann auf dem Seewege in Sicherheit zu bringen, würde ich Ihnen dagegen entschieden abraten, da Sie in den gut bewachten und genau beaufsichtigten Hafenplätzen sicherlich festgenommen werden würden, zumal auch die Reise bis dahin so viel Zeit kostet, daß inzwischen Ihre Ausweisung oder Auslieferung beschlossene Sache sein wird. Bei den wilden Indianern im Innern Brasiliens dagegen, etwa im Norden der Provinz Matto Grosso, sucht Sie kein Mensch, und Sie können dort in aller Gemächlichkeit abwarten, bis eine Amnestie für die Parteigänger der Revolution erlassen wird, was wohl sicher nach der bevorstehenden Präsidentenwahl von dem Nachfolger Peirotos geschehen wird. Außerdem können Sie und Ihr Freund den Aufenthalt bei diesen wilden und noch gar nicht von der Kultur berührten Indianerstämmen im Interesse Ihrer Forschungen doch sehr nutzbringend anwenden und dadurch der Wissenschaft unter Umständen ganz erhebliche Dienste leisten.«

Nachdenklich hatte Helmut zugehört. Er fühlte recht wohl, daß der gütige Missionar in allen Punkten vollständig recht hatte, und doch sträubte sich sein ganzes Inneres dagegen, schon wieder zum Wanderstabe zu greifen und vor seinen Feinden Reißaus zu nehmen, obgleich er doch gar nichts Übles getan hatte. Er kam sich nachgerade vor wie ein gehetztes Wild und empfand dies im Gefühle seiner Unschuld um so bitterer. Pater Pedro schien ihm die Gedanken von der unmutig gekräuselten Stirn zu lesen.

»Da ist nichts zu machen,« meinte er begütigend, »unsere erst halb zivilisierten Zustände sind nun mal so, daß auch das schuldloseste Gemüt keinen genügenden Schutz gewährt gegen die Härte des Gesetzes, sobald übermächtige Gegner es wollen und das Heft in der Hand haben. Ich weiß sehr wohl, daß Sie kein Verbrecher sind und nichts Ehrenrühriges begangen haben, aber unter gewissen Verhältnissen ist eben hier zu Lande die politische Gesinnung das schlimmste aller Verbrechen. Dabei verschlägt es gar nichts, daß Sie die Revolution halb unfreiwillig mitgemacht und lediglich Ihre Pflicht als Soldat erfüllt haben. Mitgemacht haben Sie nun einmal, und das genügt vollkommen; alles andere ist Nebensache. Ich für meine Person werde Ihre und Ihres Freundes Gesellschaft gewiß nur höchst ungern vermissen. Aber wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist und Sie Ihre alten Eltern nicht bis in den Tod betrüben wollen, so kann ich Ihnen doch nur nochmals dringend raten, so rasch als möglich abzureisen.«

Namentlich der letztgenannte Grund gab bei Helmut schließlich den Ausschlag, und so ging er denn nach der Rückkehr ins Dorf schweren Herzens daran, die so jäh veränderte Sachlage mit Doktor Mangold zu besprechen. Der unverwüstliche Berliner nahm sie leichter auf als Helmut selbst.

»Halloh,« rief er fast erfreut aus, »da gibt's also endlich eine neue Forschungsreise! Ich hab's ohnehin satt, hier in diesen langweiligen Maisfeldern herumzukriechen, wo nichts zu finden ist als unverschämte Ratten. Natürlich gehe ich mit. Und mit Freuden. So erhalten wir doch Gelegenheit, auch die Pampas mit ihrem eigenartigen Tierleben aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Was wird's da nicht alles zu jagen und zu sammeln, zu beobachten und zu lernen geben! Hoffentlich hetzen Ihre Feinde Sie noch durch ganz Südamerika. Mir soll's recht sein. Vielleicht kommen wir auf diese Weise gar noch an den Amazonenstrom oder über die Anden. Je weiter, desto besser! Ein Berliner frißt sich überall durch. Nur nicht den Kopf hängen lassen!«

Trotz seiner schwermütigen Stimmung mußte Helmut doch lächeln über den Eifer des jungen Naturforschers, und erleichtert atmete er auf, als er gewiß war, daß dieser Getreue sich auch diesmal nicht von ihm trennen würde. Dann hatte er doch wenigstens einen gebildeten Europäer zur Gesellschaft und konnte weiter von ihm lernen in dem schönen Berufe, der ihm jetzt schon immer deutlicher auch als der eigene vorschwebte. Das war also in Ordnung. Aber wie sollte er seine Eltern benachrichtigen, die gewiß in banger Sorge um ihn schweben würden? Sie konnten ja noch nicht einmal wissen, daß er von den Ashluslays zu den Chiriguanos gegangen war; wie sollten sie vollends eine Ahnung davon bekommen, daß er sich weiter nach dem wilden Zentralbrasilien begeben hatte? Aber auch hier wußte Pater Pedro Rat. Er übernahm es, durch seine Ordensbrüder Briefe sicher über die Andenpässe nach der Küste befördern zu lassen, von wo sie dann zu Schiff nach Rio Grande do Sul weitergehen konnten. So schien auch diese Frage glücklich erledigt, und es blieb nun eigentlich nur noch diejenige über den weiteren Verbleib Tumayauas zu lösen.

Helmut hatte eigentlich als selbstverständlich angenommen, daß der Häuptling hier bei seinen wieder aufgefundenen Stammesgenossen bleiben und sich vielleicht ganz in dem Dorfe ansiedeln würde. Aber als er der Rothaut gegenüber zögernd mit diesem Vorschlag herausrückte, schüttelte Tumayaua ernst den Kopf.

»Tumayaua kann nicht hinter dem Pfluge auf den Maisfeldern sterben,« sagte er ernst. »Tumayaua will im Walde sterben, wie er gelebt hat, als ein Jäger und Krieger. Sein Herz ist krank vor Sehnsucht nach dem Lagerfeuer und nach dem Rauschen der Urwaldbäume. Und außerdem wird er niemals denjenigen verlassen, der ihm das Leben gerettet hat.«

Alles Zureden blieb vergeblich. Starrsinnig beharrte der Häuptling bei seinem Entschluß. Und insgeheim war man ja froh, daß er die abenteuerliche Reise auch weiter mitmachen wollte, denn seine Kenntnis indianischer Sprachen und seine Vertrautheit mit den Gefahren der Wildnis konnten für alle Teilnehmer des gewagten Zuges ja nur vom größten Nutzen sein.

»Lassen Sie ihn,« entschied auch Dom Pedro, der unermüdlich zu einem beschleunigten Aufbruch drängte. »Er würde sich unter den hiesigen halb zivilisierten und getauften Indianern ja doch nicht glücklich fühlen, denn er ist eben ein freies Kind des Urwaldes, das sich nicht an unsere Kultur gewöhnen kann. Wie gern hätte ich Leute von seinem edlen und unverdorbenen Charakter unter meinen christlichen Indianern, aber ich mag ihn nicht zurückhalten, denn er würde uns doch bald wieder in die Wälder entlaufen. Ein solcher Indianer alten Schlages kann sich nur als freier Mann fern von aller Zivilisation wohl fühlen.«

So blieb denn also die ganze alte Gesellschaft beisammen, und mit aller Hast wurden nun die Vorbereitungen zum Aufbruch betrieben. Mit den gutmütigen Chiriguanos wurde noch ein großes Abschiedsfest gefeiert, wobei es hoch herging und das Maisbier in Strömen floß. Helmut hatte in diesen Tagen wohl schon das unheimliche Gefühl, daß er von Aufpassern umgeben war, aber Hindernisse legte ihm doch niemand in den Weg. Vielleicht waren die bolivianischen Behörden ganz zufrieden damit, den ungebetenen und unbequemen Gast auf gute Manier los zu werden, ehe sie noch in die Zwangslage versetzt wurden, ihm gegenüber das geheiligte Gastrecht zu brechen. Bis zum Ausgange des Tales begleitete noch Dom Pedro zu Fuß die kleine Karawane; dann blieb er abschiedwinkend stehen, und bald darauf war auch seine hohe Gestalt mit dem flatternden Patriarchenbart im aufsteigenden Nebel verschwunden.


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