Theodor Fontane
Ellernklipp
Theodor Fontane

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13 Im Elsbruch

Er starrte lange hinein, lang und trotzig fast; endlich aber wandt er sich und ging geradenwegs auf seine Wohnung zu. Das Feuer, das ihn verzehrt hatte, brannte nicht mehr, und das Gewissen hatte seine Stimme noch nicht erhoben; er war nur wie von einem unerträglichen Drucke befreit und wurd auch nicht verwirrt, als er Hilden an der Türschwelle stehen sah. Umgekehrt, ein Gefühl der Eifersucht regte sich wieder, und er sah sie scharf an, als er an ihr vorüber in die Tür trat. Ihr Blick indes begegnete ruhig dem seinen und gab ihm eine halbe Gewißheit, daß alles, was geschehen, ohne Not geschehen sei. Aber er empfand eher Trost als Reue darüber. War es doch nichts Vorübergehendes, was ihn gequält hatte, nein, eine Qual durchs Leben hin. Und die war er jetzt los.

Er legte Hut und Hirschfänger ab, wechselte den Rock und machte sich's bequem. Und gleich danach nahm er seinen Meerschaum aus dem Eckspind heraus und trat an den Spiegeltisch, um sich aus einem dort stehenden Kasten die Pfeife zu stopfen. Und alles ohne Hast und Unruh. Er war sich aber des Spieles, das er vor sich selber spielte, voll bewußt und sagte, während er fest in den Spiegel hineinblickte: »Bin ich doch wie der trunkene, der die Diele hält, um sich und anderen weiszumachen, er habe noch das Gleichgewicht... Und hab' ich's nicht?« fuhr er nach einer Weile fort. »Ist dies nicht der Spiegel? Und ist dies nicht mein Spiegel bild? Und seh' ich nicht aus wie sonst?... Oder doch beinahe. Wahrhaftig, ich habe schon schlimmer ausgesehen.«

Und dabei ging er über den Flur in die Küche.

»Gib mir Feuer, Grissel.«

Grissel klopfte mit der Hand in der Asche hin und her und nahm eine Kohle heraus.

»Du wirst dich verbrennen.«

»Nicht doch. Ich hab' ja keine Haut wie die Hilde.«

Der Heidereiter überhörte, was Spott darin war, und sagte: »Wo nur Martin bleibt? Der Junge hat keinen Appell, und mir wär's wirklich recht, er ging' unter die Soldaten. Da lernt sich's. Was meinst du, Grissel?«

»Ich? Ich meine nichts. Unter die Soldaten? Da müßt Ihr die Hilde fragen... Aber sollen wir warten mit dem Abendessen?«

»Oh, nicht doch. Nicht warten. Er muß pünktlich sein. Wenn's fertig ist, so bringst du's. Wir wollen essen.«

Und damit ging er wieder in seine Stube. Die Pfeife brannte nicht mehr, aber er schmauchte weiter und merkte nichts. Und wie konnt' es auch anders sein? In seinen Gedanken stieg er den Weg zurück, den er vor einer Stunde gekommen war, und nun war er oben, und die Mondesscheibe stand wieder über dem schwarzen Waldstreifen und sah ihn an und fragte wieder. Und ein Frösteln überlief ihn.

»Ihr schuddert ja so, Heidereiter«, sagte Grissel, als sie den Tisch deckte.

»Ja... das Fenster ist offen und die Tür. Mach zu. Warum klinkst du nicht ein? Ich will den ewigen Zug nicht; die Fliegen sind längst weg; aber du ruhst nicht eher, als bis ich die Gicht in Händ' und Füßen hab'.« Und als Grissel das Fenster geschlossen hatte, setzte er hinzu: »Was essen wir zu Nacht? Eine Suppe?«

»Ja, Heidereiter, eine Zwetschensupp'. Und ich werd' einen Nordhäuser eintun und ein paar Gewürznägelchen. Oder eine Zimmetstang'...«

»Ah, das ist gut, das tu!« sagte Bocholt. »Aber mache flink! Ich will allein sein und früh zu Bett. Und lege mir einen heißen Stein an das Fußende.«

Grissel murmelte was vor sich hin, weil sie bestimmt gegebene Befehle nicht gern hörte, widersprach aber nicht und brachte die Suppe. Zugleich kam Hilde. Alle drei setzten sich an den Tisch, und Bocholt sagte: »Wir wollen beten.«

Und Grissel und Hilde falteten sofort die Hände und warteten; denn gemeinhin sprach er das Gebet. Aber heute sah er vor sich hin, und als alles schwieg, rief er barsch: »Wird es? Bete, Hilde!«

Und Hilde betete: »Segn' uns, Vater, Speis und Trank, du gibst den Segen und wir den Dank.«

»Du sprichst es immer so leise, Hilde. Glaubst du nicht dran?«

»Ich glaube dran.«

»An was?«

»An Gottes Segen. Und an seine Gnade.«

Der Heidereiter lächelte vor sich hin: »Ist das von Sörgel oder von dem Alten oben?... Aber die Supp' ist so heiß...«

»Ihr hattet einen Frost vorhin.«

»Ja, vorhin. Aber jetzt ist es vorbei. Geh, Hilde, mach das Fenster auf, alle beid'. Es ist eine wahre Höllenhitze hier... Und wo nur der Martin bleibt? Ich möcht' etwas Kühles, 'ne Satte Milch...«

Und Hilde wollte gehen, um die Milch zu holen. Aber er hatte sich inzwischen eines anderen besonnen und sagte: »Nein, laß nur. Es geht vorüber. Ich ärgere mich über den Jungen, das ist alles. Immer unpünktlich, und weiß doch, daß ich's nicht leiden kann.«

»Es ist heute Lohntag«, antwortete Hilde. »Vielleicht, daß er sich bei den Holzknechten verspätet hat. Ich denk'... er kann jeden Augenblick kommen.«

»Meinst du?« sagte der Heidereiter, und der Löffel flog ihm in der Hand, während er an Hilde vorbei nach der Tür sah.

Aber es blieb alles still, und der Alte fand sich wieder zurecht und erzählte von den Franzosen und aus seiner Soldatenzeit. Und dann erzählte Grissel eine Gespenstergeschichte, »aber eine wahre«.

»Dummheit«, sagte Baltzer und erhob sich.

Und auch Grissel und Hilde standen auf und waren froh, als sie das Zimmer verlassen konnten. Sie setzten sich draußen an den Herd, um sich in Möglichkeiten zu erschöpfen, wo der Martin geblieben sein könne.

»Der Alte läßt ihm zu wenig freie Hand«, sagte die Grissel, »und das ärgert ihn, und er will's ihm zeigen. Und hat auch recht. Ich wett', er hat Gesellschaft gefunden und ist unten im Dorf. Es wird noch manchen scharfen Tanz geben. Aber er setzt es durch, und muß auch so sein.«

Und damit trennten sie sich, und Hilde ging hinauf und hielt oben an der Treppe.

Die Tür zu Martins Kammer stand weit offen, und sie sah, wie der Vollmond ins Fenster schien, ernster und größer als sonst, als such' er wen. Oder als woll' er etwas sagen.

Und von einer unendlichen Angst ergriffen, wandte sie sich ab und lief in ihre Stube hinüber.

Baltzer Bocholt atmete tief auf, als er allein war. Er hatte sich bezwungen, ein paarmal unter Daransetzung seiner ganzen Kraft; nun endlich war er's los und konnte sich gehen lassen, ohne Furcht, durch eine Miene das Geschehene zu verraten. Er schritt auf und ab und fühlte von Minute zu Minute, wie's ihm freier und wohler um die Brust wurde. Doch mit eins überfiel's ihn wieder, und die Möglichkeit sah ihm starr ins Gesicht: er sei nicht tot und könne wiederkommen. Und könne die Hand gegen ihn erheben zur Anklage vor Gott und Menschen... Und dann wieder sah er ihn in seinem Elend daliegen, nicht lebend und nicht tot, und ein Schauder natürlichen Mitgefühls ergriff ihn, nicht mit dem Sohn, aber mit der leidenden Kreatur. Und weil er des Bildes los sein wollte, wandt er sich ab und zuletzt trat er ans Fenster und sah in die Nacht hinaus und horchte, ob wer käme oder ob sie wen brächten. Aber es kam keiner, und sie brachten keinen, und er hörte nur jedes Blatt, das vom Baume fiel, und weit aus der Ferne her das Stampfen und Klappern von Diegels Mühle. Dort lag er, aber noch diesseits, in dem vorderen Elsbruch, und indem er so hinstarrte, ward ihm zu Sinn, als sähe er jeden Stamm und dazwischen die Wasserlachen. Und in jeder einzelnen spiegelte sich der Mond. Und weil er des Bildes los sein wollte, wandte er sich ab und lenkte den Blick der anderen Seite zu. Da lag das Dorf und der Sternenhimmel darüber. Und als er hinaufsah in den ewigen Frieden, siehe, da war es ihm, als stiege der Engel des Friedens hernieder und segne jedes Haus. Und nun kam er das Tal herauf, in Mittelhöhe schwebend; aber als er sich seinem Hause näherte, wich er aus und stieg höher und höher, bis er hoch über dem Elsbruche stand. Bis in die Sterne hinein. Und nun erst senkte sich der Engel wieder, immer tiefer, bis er zuletzt in den Wipfeln der Bäume schwand. Was wollt' er da? Zu wem kam er?... Er wußt' es wohl... Jetzt losch das Leben aus.

Und danach trat der Alte vom Fenster zurück und warf sich halb ausgekleidet aufs Bett, und war beruhigt und gequält zugleich, und seufzte und stöhnte, bis gegen Morgen der Schlaf kam.

Er schlief noch, als Joost an die halb offene Tür des Alkovens trat und hineinsah. »Wi em siene Bost geiht; ümmer upp un dahl...« Und er stahl sich wieder fort, um ihn noch weiter schlafen zu lassen.

Eine Stunde später aber trafen sich alle bei der Morgensuppe. Der Heidereiter hatte seine Ruhe wieder und aß und trank, und da weder Grissel noch Hilde das Wort nahmen, begann er nach einer Weile: »Länger geht's nicht; wir müssen ihn suchen gehen. Aber wo?«

Da warf sich Hilde vor ihm nieder und bekannte, zitternd vor Schuld und Reue, sie hätten sich oben auf Kunerts-Kamp gesehen, keine hundert Schritte von ihrer Mutter Haus, und die Sonne sei gerad untergegangen. Und da hätten sie gesessen und gesprochen und immer das Läuten von des alten Melchers Herde gehört. Und als es gedunkelt, hätten sie sich getrennt. Und sie habe sich nicht geängstigt, weil sie von den Sieben-Morgen her immer noch die Herde gehört habe. Martin aber sei durch den Wald gegangen und auf Diegels Mühle zu.

»Wohl, wohl«, sagte der Alte, der ruhiger blieb, als Hilde gefürchtet. »Also durch den Wald und auf Diegels Mühle zu. Das ist recht. Da geht er immer und da müssen wir ihn suchen.«

Und er wandte sich ins Dorf, um erst mit dem Schulzen und gleich danach auch mit dem Gerichtsboten zu sprechen, und keine halbe Stunde, so waren alt und jung auf den Beinen, um nach des Heidereiters Martin zu suchen. Denn alle hatten ihn gern und tadelten den Alten, daß er ihn zu streng in der Zucht habe. Das wußt' auch der Heidereiter. Und als sie nun die Berglehne hinauf und bis oben an die Sieben-Morgen waren, trat einer von den Büdnern an den wie gewöhnlich auf seiner Graswalze sitzenden Melcher Harms heran und sagte: »Du seihst joa allens, Kamm-Melcher... Hest em denn nich siehn?« Und der Angeredete strickte weiter und antwortete, während er mit halbem Blicke den Heidereiter streifte:

»Woll. Ick hebb em siehn. Gistern, as de Sünn eb'n unner wihr. Ihrst up Kunerts-Kamp un denn upp Ellernklipp to.«

»Kommt, kommt!« unterbrach Baltzer, dem das Wort Ellernklipp unheimlich zu hören war. Und er führte den Trupp über die Stelle weg, wo der Muthe Rochussen ihr Haus gestanden, und ging erst bis in die Tiefe des Waldes und zuletzt auf einem weiten Umweg um Diegels Mühle und das Elsbruch herum. Und war keiner, der sich gemeldet oder aus freiem Antriebe da hinein gewollt hätte, denn es war eine verrufene Stelle. Gegen Mittag aber waren alle wieder zu Haus, und im Dorfe hieß es: er sei weg und zu den Preußen gegangen. Und sei nicht zu verwundern. Der Baltzer sei zu streng gewesen und wiss' es auch. Aber er wolle es nicht zeigen und zwinge sich.

Und so verging der Tag, und auch in des Heidereiters Hause hieß es: er ist weg und zu den Preußen gegangen.

Und der Alte widersprach nicht.

Als aber der Abend nahte, kam es ihm doch in die Seele, daß er hin und ihn einscharren müsse. Sonst habe der Tote keine Ruhe. Da, wo die Binsen um den kleinen Teich stehen, da mußt' er liegen oder doch nicht weit davon. Der Boden war da freilich moorig, aber mitten im Moor waren kleine Sandhügel, und auf einem dieser Sandhügel wollt' er ihn begraben. Und heute noch. Gleich.

Er nahm eine Jagdtasche vom Rechen und ging, als er sich vergewissert hatte, daß Joost ins Dorf gegangen war, über den Hof in die Geschirr- und Häckselkammer, in deren einer Ecke allerlei Feld- und Gartengeräte: Sensen und Harken und Spaten, bunt durcheinander standen. Er suchte darin umher, und als er endlich einen ihm passenden Spaten gefunden hatte, stieß er mit einem kräftigen Stoße das Eisen unten ab und verbarg es in seiner Jagdtasche. Gleich danach aber ging er in seine Stube zurück und wählte sich unter seinen Stöcken einen aus, dem er's ansah, daß er als Stiel in das Spatenöhr passen würde. Und nun hing er sein Gewehr über die Schulter, von dem er nicht gern ließ, und machte sich auf den Weg.

Immer am Bach hin. Aber der Mond oben ließ nicht ab von ihm, und auch wo das Buschwerk am dichtesten war, fielen Lichter und Schatten ein, über die sein eigener sich fortbewegte. Mitunter sprang ein Eichkätzchen von einem Baum auf den anderen, und er fuhr zusammen, wenn er das Knicken der Zweige hörte. Jetzt aber zogen dünne Nebel zwischen den Bäumen hin, und er wußte nun, daß er das Bruch unmittelbar vor sich habe. Und wirklich, nur ein paar Schritte noch, so blinkte von rechts her die weiße Wand von Ellernklipp herüber. Die weiße Wand und ihr zu Häupten die dunkle Tanne. Da drunter war es. Und er nahm nun das Spateneisen aus seiner Tasche heraus und steckte den Stock ins Öhr. Aber das Öhr war zu weit, und er wußte nicht, was tun. In seiner Hast und Verwirrung riß er endlich ein Stück aus seinem Sacktuch heraus und wickelte den Fetzen um den Stock herum, bis dieser festsaß. Und nun wollt' er weiter. Aber er stand wie angewurzelt. »Ich kann's nicht... Und wozu auch? 's ist Moorgrund, und der gibt nach, und eines Tages hat er sich selber begraben. Sie werden ihn nicht finden... Und wenn doch, so heißt es, er ist verunglückt, ausgeglitten. Und war es nicht so? Oder wer hat es anders gesehen? Einer!« Und er sah in den Mond hinauf. »Aber der plaudert nicht.«

Und er zog das Spateneisen wieder ab, tat's in die Jagdtasche und ging heim.

Als er über den Hof kam, sah er, daß die Geschirrkammer offen stand und Joost ärgerlich und brummend in ihr umhersuchte: »Wihr man nu wedder hier mang west is! Diß oll Diebstüg. Un man blot dar Isen. Dat hebbens mitnoahmen, un de oll höltern Krück hebbens mi stoahn loaten.«

Baltzer tat, als höre er nicht, und ging in seine Stube. Hier hing er die Tasche, statt an den Rechen draußen, in seinen Schrank und schloß zu. Den anderen Tag aber wollt' er das Spateneisen wieder an seinen Platz bringen.

Und nun ging er auf und ab und malte sich Bilder über Bilder in die Zukunft hinein. Aber er dachte auch jetzt noch ein gut Teil weniger an seine Tat als an sein eigen Elend. Es war ihm unerträglich, daß er nicht mehr geradeaus sehen und immer nur schweigen und horchen und auf der Lauer liegen sollte. »Ei, Heidereiter, das ist dein Leben nun! Immer in Bangen und immer in Lüge; rastlos und ruhelos, und so bis zuletzt.«

Und er schlug sich mit der Faust vor die Stirn und sah nach dem Gewehr hin und wollte darauf zuschreiten. Aber die Kraft seiner Natur war erschöpft, und er brach zusammen. Und als Grissel und Hilde gleich danach in die Stube traten, lag er ohnmächtig am Boden. Hilde glaubte nicht anders, als daß er tot sei; Grissel aber sah, daß er noch Leben habe, und schickte zum alten »Kamm-Melcher«.

»Es ist vom Blut, Vater Melcher. Ihr müßt ihm die Ader schlagen.«

Der aber schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, 's ist ein Fieber. Und wir dürfen's nicht stören. Er muß Ruhe haben und Luft und Schlaf, oder er stirbt.«

Und sie brachten ihn ins Bett, und Melcher wachte die Nacht und hörte die Phantasien des Kranken.

Am anderen Tag aber kam der Ilseburger Doktor, und Grissel versagte sich's nicht, auf Melcher und seinen Eigensinn zu schelten. »Und wenn er stirbt, so hat er ihn auf dem Gewissen.«

»Er hat ihn gerettet«, sagte der alte Doktor. »Ein Tropfen Blut, und es war vorbei.«


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